Anspruch auf Versorgung mit intravenösen Immunglobulinen in der gesetzlichen Krankenversicherung im Wege des Off-Label-Use
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten primär die Erstattung von selbst beschafften Arzneimitteln.
Sie ist 1964 geboren und gelernte Diätassistentin sowie Krankenschwester.
Während eines stationären Aufenthalts im V-Klinikum im Sommer 1995 wurde bei ihr erstmals Encephalomyelitis disseminata, also
Multiple Sklerose (MS), festgestellt.
Seit 20. Oktober 1995 bezieht sie eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Ab Juli 1996 wurde sie ohne Erfolg mit Betaferon behandelt.
Seit 1997 leidet sie an Blasen- und Mastdarmstörungen. Sie ist seit dem Frühjahr dieses Jahres auf den Rollstuhl angewiesen.
Bis 1998 verschlechterte sich ihr Zustand deutlich: Sie war von der Hüfte abwärts gelähmt und spürte weder Stuhl- noch Harnabgang.
Es bestand eine ausgeprägte Globalataxie (Rumpf- und Armbewegungen konnten nicht kontrolliert werden. Sie musste im Rollstuhl
angebunden sein, um sitzen zu können. Arme und Hände mussten fixiert werden. Es bestanden Zungenschlund- und Kieferverkrampfungen.
Die Klägerin konnte nichts mehr kauen und hatte Schluckbeschwerden. Sie hatte die Sprachfähigkeit verloren und konnte sich
aufgrund der Ataxie nicht mitteilen. Sie schüttelte unaufhörlich den Kopf und musste in der Nacht gelagert werden. Sie konnte
nur noch bis auf zirka 50 cm Entfernung Gegenstände erkennen und sah Doppelbilder.
Seit dem 22. Mai 1998 und zunächst bis Oktober 2010 wurde die Klägerin mit dem Arzneimittel Octagam behandelt, seither mit
dem Medikament G-Gamunex X gleichen Wirkstoffes, reines Immunglobulin, das intravenös verabreicht wird (Intravenous immunoglobulin
= "IVIG").
Immunglobuline, körpereigene Antikörper, werden von bestimmten weißen Blutkörperchen hergestellt, den Plasmazellen. Immunglobuline
werden also aus menschlichem Plasma gewonnen.
Sie sind für spezifische Erkrankungen als Arzneimittel zugelassen, nicht hingegen zur Behandlung der MS.
Die Klägerin erhielt erst 17 Monate lang monatlich Infusionen mit 10 g, seither mit zusammen 30 g. Seit Oktober 1999 zahlte
die Klägerin hiervon ein Drittel (10 g) selbst, den Rest leistete die Beklagte als Sachleistung. Gemäß einer zwischen Neurologen
und Vertretern der Berliner Krankenkassen getroffenen Vereinbarung (dem so genannten Eckpunktepapier) wurden IVIG-Behandlungen
bei MS-Patienten akzeptiert, wenn die Einschlusskriterien einer im Jahr 1997 veröffentlichten Studie von Fazekas et. al erfüllt
waren. Diese Vereinbarung wurde von den beteiligten Seiten zwar nicht unterzeichnet, jedoch in der Vergangenheit von den Prüfungsausschüssen
im Sinne des Verzichts auf einen Regress akzeptiert.
In zeitlichem - und nach Auffassung der Klägerin kausalem - Zusammenhang mit der IVIG-Behandlung - kam die Krankheitsprogredienz
aufgrund der Medikamenteneinnahme zum Stillstand. Ihr Zustand verbesserte sich. Sie hat von der Hüfte abwärts wieder Gefühl
(Berührungen, Schmerz, warm und kalt) und kann die Beine bei Missempfindungen wegziehen. Die Globalataxie ist schwächer geworden.
Sie spürt Stuhl- und Harnabgang und kann ohne Hilfsmittel im Rollstuhl sitzen und mühsam durch die Wohnung fahren. Auch die
Arme können eingeschränkt benutzt werden (Kratzen, Hochstützen, Festhalten). Zungenschlund- und Kieferkrampfungen haben aufgehört.
Die Klägerin kann wieder feste Nahrung kauen und sich einigermaßen verständlich machen. Beim Liegen und im Schlafen ist der
Kopf ruhig. Sie leidet nur noch an leichtem Kopfschütteln im Sitzen. Die Klägerin kann sich selbst im Bett drehen. Sie kann
wieder besser sehen, z. B. fernsehen, und sieht keine Doppelbilder mehr.
Mit Schreiben vom 15. März 2006 beantragte die Klägerin bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten, der Barmer Ersatzkasse, die
Fortführung der Therapie mit Immunglobulinen. Beifügt waren u. a. Kopien von zwei (privatärztlichen) Verordnungen durch den
behandelnden Neurologen der Klägerin H. Die Beklagte forderte die Klägerin zunächst auf, von diesem eine Stellungnahme einzureichen.
Dem kam der Behandler mit Schreiben vom 02. Juni 2006 nach. Bei der Klägerin seien sämtliche anderen Behandlungsmethoden gescheitert,
so dass nur die IVIG übrig geblieben sei. Nach einem Aussetzen der IVIG habe sich der Zustand spontan verschlechtert. Nach
Fortsetzung der Behandlung habe sich der Zustand wieder verbessert. Er halte diese Therapieform nach wie vor für sinnhaft
und verordne sie nach wie vor. Ein nicht unwesentlicher Gesichtspunkt seien dabei die Therapiekosten. Bei den von den Krankenkassen
akzeptierten Präparaten läge der Apothekenabgabepreis zwischen 1.100,00 und 1.400,00 €, bei Immunglobulin zwischen 750,00
und 850,00 €.
Die Chefärztin der Neurologischen Abteilung des J Krankenhauses Berlin Prof. Dr. H bestätigte in ihrer Stellungnahme vom 05.
April 2006, die Klägerin wegen einer in Schüben progredienten MS zu betreuen. Bereits 1997 habe sich ein schweres funktionelles
Defizit unter Betaferon entwickelt. Eine Therapieeskalation habe die Klägerin abgelehnt im Rahmen einer bekannten schizophrenen
Psychose. Daraufhin sei die Therapie mit Octagam eingeleitet worden. Unter dieser Therapie sei es in den letzten neun Jahren
zu keinem weiteren Krankheitsschub gekommen. Der Zustand habe sich vielmehr seitdem langsam aber stetig verbessert.
Die Beklagte forderte eine ärztliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e.
V. (MDK) an. Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S nahm für den MDK unter dem 10. Juli 2006 Stellung.
Sie gelangte zu dem Ergebnis, dass auch nach dem Eckpunktpapier der Nachweis einer Wirksamkeit für die bei der Klägerin vorliegende
Indikation einer sekundär-chronisch progredienten MS gänzlich fehle. Bei der Langzeitbehandlung mit IV-Immunglobulinen werde
von seltenen, im Einzelfall aber potentiell schwerwiegenden kardiovaskulären und cerebrovaskulären Risiken - insbesondere
Thrombosen - berichtet, so dass die Langzeittherapie mit einem erheblichen neurologischen Defizit für das Auftreten schwerwiegender
Komplikationen besonders risikobehaftet sei. Soweit Prof. Dr. H aufgrund der Krankheitsschwere offenbar die Notwendigkeit
einer immunmodulatorisch/immunsuppressiven MS-Therapie gesehen habe, sei es aus ethischer Sicht unverständlich, dass dabei
nicht hierzu zugelassene und in ihrer Wirksamkeit und Sicherheit geprüfte Arzneimittel zum Einsatz gekommen seien. Es sei
aus fachlicher Sicht wenig plausibel, dass die Klägerin aufgrund einer mitgeteilten schizophrenen Psychose eine gebotene zugelassene
Therapie einerseits abgelehnt und andererseits die Gabe von IV-Immunglobulinen akzeptiert habe.
Die Beklagte teilte daraufhin der Klägerin mit Schreiben vom 31. Juli 2006 mit, die Immunglobulin-Therapie nicht mehr übernehmen
zu können. Die Behandlung der MS entspreche nicht den Zulassungsindikationen von Immunglobulinen. Die Voraussetzungen, die
das Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 19. März 2002 zum so genannten Off-Label-Use aufgestellt habe, seien nicht erfüllt.
Zwar handele es sich um eine lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung.
Der Behandler H habe auch bestätigt, dass in den Jahren zuvor sämtliche Behandlungsmethoden zur Anwendung gekommen und letztlich
gescheitert wären. Es gebe aber - wie es erforderlich wäre - keine aufgrund der Datenlage begründete Aussicht, dass mit dem
betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen sei.
Auf Bitte der Klägerin lehnte sie ferner mit Bescheid vom 04. September 2006 unter Bezugnahme auf das Erläuterungsschreiben
der Sache nach Leistungen ab.
Den Widerspruch hiergegen wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 10. November 2006 zurück unter der ausdrücklichen Feststellung,
dass ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für Immunglobuline nicht bestehe. Zur Begründung hat sie ergänzend ausgeführt,
der Vertragsarzt könne nach §
31 Abs.
1 Satz 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V) Arzneimittel, die aufgrund von Richtlinien nach §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
6 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen seien, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen.
Die Entscheidung treffe also der behandelnde Arzt, nicht die Krankenkasse.
Am 26. November 2006 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Berlin (SG) erhoben.
Die Beklagte hat eine weitere gutachterliche Stellungnahme des MDK veranlasst. Frau Dr. S gelangt in ihrer gutachterlichen
Stellungnahme vom 27. Dezember 2006 zu der Auffassung, dass die Klägerin gesichert an einer MS mit sekundär-chronisch-progredientem
Verlauf leide. Es handele sich nicht um eine seltene Verlaufsform dieser Erkrankung. Die vom Behandler H dokumentierte Stabilisierung
sei nicht nachweislich auf die Gabe von Immunglobulinen zurückzuführen. Ganz allgemein träten im Verlaufe einer MS längere
Phasen der Stabilisierung ein. Insbesondere nehme die Krankheitsaktivität gewöhnlich in späteren Krankheitsphasen ab. Auch
dokumentierten die vorgelegten Unterlagen keinesfalls eine kontinuierliche Verbesserung seit Einleitung der Behandlung mit
IVIG. In dem bereits weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium habe eine symptomatische Behandlung den Vorrang. Die Behandlung
mit Octagam begründe keine mehr als ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung
auf den Krankheitsverlauf. Eine solche Annahme sei spekulativ.
Mit Beschluss vom 28. Oktober 2006 hat das SG die Beklagte im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Klägerin nach ärztlicher Verordnung die ambulante Gabe von
Immunglobulin (Octagam) für den Monat Oktober 2006 zu gewähren (Az.: S 86 KR 2866/06 ER).
Mit Gerichtsbescheid vom 13. Juni 2008 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es u. a. auf das Urteil des BSG vom 28. 02. 2008 (B 1 KR 15/07 R) verwiesen. Das BSG habe bei einer MS in sekundär-progredienter Verlaufsform trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Krankheit
das Erfordernis einer lebensbedrohlichen Krankheit im Sinne des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 06.
Dezember 2005 (1 BvR 347/98) verneint.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin vom 23. Juli 2008.
Der Senat hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Der behandelnde Neurologe hat im Befundbericht vom 27. Januar
2009 ausgeführt, der Verlauf der MS sei eher untypisch. Es sei ein sehr schneller "Einstieg" in die Chronifizierung erfolgt.
Mit Beweisanordnung vom 06. Mai 2009 hat der Senat ferner den Chefarzt der neurologischen Abteilung des Krankenhauses H Dr.
K B mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieser untersuchte die Klägerin am 05. September 2009
und gelangte in seinem Gutachten vom 26. Januar 2010 zur Diagnose einer schubförmigen MS mit kumulativem Defektsyndrom, einer
schizoiden Persönlichkeitsstörung, einer Kyphoskoliose (Seitverbiegung der Wirbelsäule) und anamnestisch rezidivierende Pyelonephritiden
(Nierenbeckenentzündungen). Es liege diagnostisch eine gesicherte MS vor, die eine lebensbedrohliche Erkrankung sei.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei die Stabilisierung des Krankheitsverlaufes seit mindestens acht Jahren auf die Gabe der Immunglobuline
zurückzuführen. Ein Absetzen des Octagam sei in Kenntnis des Verlaufes und des Letalitätsrisikos ärztlich nicht vertretbar.
Die MS-Therapie-Konsensusgruppe erarbeite regelmäßig die Leitlinien der Diagnostik und Behandlung der MS. In dem Stufenschema
dieser Gruppe seien Immunglobuline Reservepräparate im Sinne von Zweite-Linie-Medikamente. Behandlungsalternativen bestünden
im Falle der Klägerin nicht.
Die Beklagte - nunmehr BARMER GEK - hat das Gutachten dem MDK vorgelegt. Dr. S nahm im Gutachten nach Aktenlage vom 15. März
2010 Stellung. Sie bleibe bei der Einschätzung, dass es sich bei der MS-Erkrankung der Klägerin nicht um eine (akut) lebensbedrohliche
Erkrankung handele. Es drohe auch nicht akut der Verlust einer herausgehobenen Körperfunktion oder eines Sinnesorganes. Die
vergleichbare Situation im Sinne des drohenden Verlustes einer herausgehobenen Körperfunktion oder eines Sinnesorganes sei
angesichts der persistierenden relevanten Einschränkung alltagsrelevanter neurologischer Funktionen als Folge der in der Vergangenheit
erlittenen Phase hoher Krankheitsaktivität nicht nachvollziehbar.
Darüber hinaus müsste es sich bei den Immunglobulinen um Arzneimittel handeln, die nach dem aktuellen Stand der Datenlage
geeignet seien, einen fulminant verlaufenden Krankheitsschub entweder zu unterbrechen bzw. zu mildern oder infolge eines Krankheitsschubes
eintretende Schädigungen zur Rückbildung zu bringen. Solche Wirkungen lägen nach der Datenlage nicht vor. Nach der Dauer der
Erkrankung und dem Grad der Behinderung träten die symptomatische Behandlung zur Linderung krankheitsassoziierter Beeinträchtigungen
und zur Vermeidung und ggf. Behandlung relevanter MS-assoziierter Komplikationen in den Vordergrund. Demgegenüber verliere
die Anwendung der immunmodulatorischen/immunsupressiven Therapien bei Abnahme der Krankheitsaktivität und Stabilisierung auf
einem Niveau bereits ausgeprägter krankheitsbedingter Behinderungen zunehmend an Bedeutung. Alleine aus der Feststellung der
Minderung der Lebenserwartung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung könne die Annahme einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig
tödlich verlaufenden Erkrankung nicht abgeleitet werden. Keinesfalls seien die in der Literatur berichteten Ergebnisse aus
den bisher durchgeführten epidemiologischen Studien zu den natürlichen Verläufen in Bezug auf die Akkumulation von Behinderungen
und die Krankheitsprogression einerseits sowie zu den Einflüssen der Schubfrequenz auf das Langzeit-Outcome andererseits homogen.
Ein Aussetzen der Anwendung mit Immunglobulinen wäre bzw. sei- auch unter der Annahme eines abweichenden MS-Verlaufstypes
- spätestens ab dem Jahr 2006 und aktuell vertretbar bzw. vertretbar gewesen. Für den hypothetischen Fall, dass tatsächlich
erneut Krankheitsschübe auftreten sollten, stünden zur Schubbehandlung Kortison bzw. bei steroidresistenten schweren Schüben
auch eine Plasmaaustausch-Behandlung (Plasmapherese) zur Verfügung.
Als Behandlungsalternative käme Beta-Interferon in Frage. Die Nebenwirkungen (grippeähnliche Reaktionen und das Auftreten
von Depressionen) seien beherrschbar. Ex ante betrachtet sei ferner der Einsatz von Azathioprin möglich gewesen.
Die Klägerin hat ergänzende Stellungnahmen eingereicht. Prof. Dr. H führt in ihrer "Stellungnahme zum Einsatz von Immunglobulinen
7S im stationären Bereich bei schubförmiger Multipler Sklerose" aus, dass Immunglobuline von ihr im Sinne einer Ausnahmeindikation
keineswegs unkritisch eingesetzt würden. Es seien im Jahr 2009 lediglich bei drei von mehr als 1000 stationären Fällen mit
MS die Indikationen für den Beginn einer IVIG-Behandlung gestellt worden.
Die Klägerin erhält seit November 2010 statt Octagam das Immunglobulin Gamunex in gleicher Menge und im gleichen Zeitabstand
verordnet, weil das Paul-Ehrlich-Institut am 15. September 2010 das Ruhen der deutschen Zulassung für Octagam befristet bis
zum 31. März 2011 angeordnet hat.
In seiner ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme vom 3. Dezember 2010 hat der Gutachter Dr. B seine Einschätzung bekräftigt,
dass bei der Klägerin eine schubförmige MS mit ausgeprägtem kumulativem Defektsyndrom ohne Progredienz - und keine sekundär-progrediente
- vorliege. Er bleibe auch dabei, dass die Lebenserwartung von MS-Patienten nach mehreren Publikationen um sieben bis 14 Jahre
im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung reduziert sei. Dass eine Patientin mit einem Behinderungsgrad wie der Klägerin über
einen langen Zeitraum stabil bleibe und dann noch als sekundär-progrediente Verlaufsform eingeschätzt werde, sei ungewöhnlich.
Auch die Sachverständige Dr. S bestätige, dass eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende
Erkrankung vorliege. Nach einer so langen stabilen Krankheitsphase unter intravenösen Immunglobulinen könne das Absetzen dieser
Therapie gleichbedeutend mit dem Verlust verbliebener, herausgehobener Körperfunktionen bzw. Sinnesorgane sein bzw. zum Tode
führen. Dass im Falle tatsächlich erneuter Krankheitsschübe nach Absetzen der Immunglobulin-Therapie zur Schubtherapie Kortison
bzw. eine Plasmaaustausch-Behandlung zur Verfügung stünde, sei zwar eine therapeutische Möglichkeit, aber keineswegs die Garantie
einer Besserung. Maßnahmen der qualifizierten Pflege und der Linderung MS-bedingter Symptome (so genannte symptomatische Therapie)
kämen keine vorrangige Bedeutung zu und könnten keineswegs das Bemühen ersetzen, das Fortschreiten der Erkrankung im Sinne
von Entmarkung und Axonenuntergang durch eine kausal orientierte Therapie aufzuhalten. Wie die Behandlungsversuche zwischen
1996 und 1998 gezeigt hätten, sei ein erneuter Versuch mit Beta-Interferonen (Betaferon/Extavia, Rebif 22 bzw. 44, Avonex)
keine Therapiealternative.
Der MDK durch Frau Dr. S hat letztmals im sozialmedizinisches Gutachten vom 02. Februar 2011 Stellung genommen. Intravenöse
Immunglobuline seien nach wie vor nicht für MS zugelassen.
Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 30. März 2011 eine aktuelle Aufstellung der von ihr verauslagten Kosten sowie in der
mündlichen Verhandlung die dazugehörigen Belege (Verordnungen und Quittungen) eingereicht, auf die ergänzend verwiesen wird.
Sie hat den Anspruch in der mündlichen Verhandlung auf Erstattung der Rechnungen ab April 2006 beschränkt und trägt vor, es
gehe ihr um die Anwendung intravenöser Immunglobuline und nicht um ein konkretes Arzneimittel.
Sie beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 13. Juni 2008 und der Bescheid vom 23. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 10. November 2006 aufzuheben.
und die Beklagte zu verurteilen ihr 99.440,02 € zu zahlen sowie die Beklagte ferner zu verpflichten, sie nach jeweiliger ärztlicher
Verordnung mit einer Immunglobulin-Therapie zu versorgen, und ferner festzustellen, dass die Beklagte die bereits vorläufig
erstatteten Kosten endgültig zu tragen hat.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie macht sich die Position des MDK zu Eigen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung hat Erfolg. Der angefochtene Ablehnungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Sie hat Anspruch auf die begehrte Kostenerstattung und künftige Versorgung mit dem begehrten Medikament.
Nach §
13 Abs.
3 Satz 1
SGB V hat die Krankenkasse einem Versicherten für selbst beschaffte Leistungen die entstandenen Kosten zu erstatten, soweit sie
eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, soweit die Leistung
notwendig war.
I. Der Klägerin hatte hier tatsächlich Geldmittel für die Anschaffung des Arzneimittels Octagam aufzuwenden. Sie hat dies
durch Einreichung der entsprechenden Belege nachgewiesen. Auf ihre Aufstellung im Schriftsatz vom 30. März 2011 wird verwiesen.
II. Die Kosten sind auch dadurch entstanden, dass die Beklagte die Leistung zuvor abgelehnt hat (vgl. zu diesem Erfordernis
BSG, U. v. 14.12.2006 - B 1 KR 8/06 R -, Rdnr. 10 ff.).
Hier hat die Klägerin spätestens mit Schreiben vom 13. März 2006 (eingegangen 15. März 2006) die weitere Versorgung mit Octagam
beantragt.
Bereits das Schreiben der Beklagten vom 23. März 2006 ist als Ablehnung zu werten:
Die Aussage, dass die bisherige Aufteilung der Verordnungen in Kassenrezepte und Privatrezepte erstaunlich sei und gar nicht
den rechtlichen Rahmenbedingungen vertragsärztlicher Verordnungen entspräche und die Bitte, das weitere therapeutische Vorgehen
mit dem Behandler H zu beraten ist, ist aus objektivierter Sicht eine Antragsablehnung.
III. Ein Anspruch auf Kostenerstattung für die Vergangenheit als auch einer auf Versorgung oder Kostenfreistellung für die
Zeit nach der mündlichen Verhandlung reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt daher voraus,
dass die selbst beschaffte und zukünftig zu beschaffende Krankenbehandlung - hier in Gestalt der laufenden Versorgung der
Klägerin mit einem Fertigarzneimittel - zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sachleistung
zu erbringen haben.
Grundsätzlich ist dabei ein Fertigarzneimittel, welches keine arzneimittelrechtliche Zulassung für dasjenige Integrationsgebiet
besitzt, in dem es im konkreten Fall eingesetzt werden soll, mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§
2 Abs.
1 Satz 1, §
12 Abs.
1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der GKV nach §
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
1 und
3, §
31 Abs.
1 Satz 1
SGB V umfasst (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Urt. v. 30.06.2009 - B 1 KR 5/09 R -, Rdnr. 19ff m. w. N.).
Ausnahmen vom Grundsatz, dass nur für andere Anwendungsgebiete zugelassene Arzneimittel nicht geleistet werden dürfen, gibt
es nach der Rechtsprechung des BSG für einen sogenannten Off-Label-Use (grundlegend: BSGE, U. v. 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R - BSGE 89, 184) bei einer schwerwiegenden Erkrankung, für die eine andere Therapie nicht verfügbar ist und aufgrund einer spezifischen Datenlage
ein begründetet Behandlungserfolg in der Form besteht, dass mit einer künftigen Zulassung gerechnet werden kann (BSG, U. v.
26.09.2006 - B 1 KR 1/06 -). Ob diese Voraussetzungen im Falle einer MS-Erkrankung erfüllt sind, kann jedoch dahingestellt
bleiben (dagegen aus jüngerer Zeit: BSG, U., 27.03.2007 - B 1 KR 17/06 R -; U. v. 05.05.2010 - B 6 KA 24/09 R -; LSG Berlin-Brandenburg, U. v. 18.02.2010 - L 9 KR 2/08 -; LSG Baden-Württemberg, U. v. 08.02.2008 - L 4 KR 2153/06 -).
Zum anderen kann es einen Anspruch auf zulassungsüberschreitende Anwendung nach den Grundsätzen für notstandsähnliche Situationen
in einer verfassungskonformen Ergänzung des einfachgesetzlich geregelten Systems geben. Ein solcher Anspruch ist hier gegeben:
1. Die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen sind erfüllt. Die Klägerin bezieht die Immunglobuline jeweils aufgrund (privat-)ärztlicher
Verordnung in der Apotheke. Die Behandlung erfolgt (unstreitig) nach den Regeln der ärztlichen Kunst.
2. Octagam bzw. Gamunex sind -abgesehen vom zwischenzeitlichen Ruhen- zugelassene Fertigarzneimittel im Sinne von §§ 2 Abs. 1, 4 Abs. 1 und 3, 21 Arzneimittelgesetz.
Die Behandlung mit Immunglobulinen bei MS ist nicht nach Richtlinien des GBA ausgeschlossen (siehe unten; vgl. zu diesem Ausschlusskriterium
BSG, Urteil vom 07. November 2006 - B 1 KR 24/06 R -, Rdnr. 24).
Der Gemeinsame Bundesausschusses hat mittlerweile im Beschluss vom 20. Januar 2011 (Änderung der Richtlinien Methoden Krankenhausbehandlung
und Methoden vertragsärztliche Versorgung sowie der Verfahrensordnung: Berücksichtigung des BVerfG-Beschlusses vom 6. Dezember
2005 in der Methodenbewertung; BAnz. Nr. 56 S. 1342) ausdrücklich klargestellt, dass der Ausschluss von Methoden nicht für
die genannten Fälle gilt.
3. Das BVerfG hat im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25-51) ausgeführt, dass es mit den Grundrechten aus Art
2 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art.
2 Abs.
2 S. 1
GG nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung
eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, generell von der Gewährung
einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht
auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Eine Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode sei im
Rahmen der GKV ausgeschlossen, weil der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest
in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt hat (zusammenfassend BSGE 94, 221 RdNr 23 = SozR 4-2400 § 89 Nr. 3 Rdnr. 24 m.w.N.), verstößt nach dieser Rechtsprechung des BVerfG gegen das
Grundgesetz, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:
- Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor,
- bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung;
- bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine
"auf Indizien gestützte" nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung
auf den Krankheitsverlauf (so weitgehend wörtlich BSG U. v. 04.04.2006 -B 1 KR 7/05 R. Rdnr. 19ff),
Diese Grundsätze gelten sinngemäß auch im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln (BSG, aaO. Rdnr. 18).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Klägerin hat in Anwendung des §
31 Abs.
1 Satz
SGB V unter der gebotenen Beachtung der Art.
2 I und Art.
2 II 1
GG einen Anspruch auf Versorgung mit Immunglobulinen. Das Urteil des BSG vom 27.03.2007 (B 1 KR 17/06 R), in welchem dies - speziell auch bei begehrter IVIG-Behandlung einer MS-Kranken - verneint wurde, steht diesem Ergebnis
nicht entgegen:
3.1. Die Klägerin leidet an einer lebensbedrohlichen, jedenfalls die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden
Krankheit:
Die Erkrankung ist lebensbedrohlich:
Nach den für den Senat einleuchtenden Aussagen des Sachverständigen Dr. B ist die MS-Erkrankung der Klägerin lebensbedrohlich.
Angesichts der Schwere der Behinderung ist ihre Lebenserwartung deutlich reduziert.
Nach den sachkundigen Äußerungen des Sachverständigen sei nach verschiedenen Untersuchungen bei der MS die Lebenserwartung
um sechs bis 14 Jahre reduziert. Das dänische MS-Register weist laut Dr. B eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung auf.
Direkt oder indirekt stürben nach einer Publikation aus dem Jahr 2004 56 % der MS-Patienten an ihrer Erkrankung. Außerdem
sei mehrfach belegt, dass die Lebenserwartung zusätzlich mit Zunahme der Behinderung abnehme. So steige der Faktor von 1,6
bei einem Behinderungsgrad EDSS von maximal 3,5 bei MS-Patienten mit dem EDSS-Faktor 7,5 um den Faktor 4,4, d. h., das Risiko
ist um mehr als das Vierfache erhöht.
Die Expended Disability Status Scale (EDSS) geht dabei von 0 (normale neurologische Untersuchung) bis 10 (Tod infolge MS).
EDSS 8 ist wie folgt definiert: "Weitgehend an Bett oder Rollstuhl gebunden; pflegt sich weitgehend selbständig". Meist guter
Gebrauch der Arme. EDSS 9 bedeutet: "Hilfloser Patient im Bett. Kann essen und kommunizieren".
Die Klägerin hat bereits viele relevante neurologischer Funktionen verloren (vgl. dazu unten).
Ihr EDSS-Grad beträgt um die 8,5. Sie ist schon in großem Umfang gelähmt, kann sich nicht normal artikulieren und leidet unter
Sehausfällen. Jede Verschlechterung könnte nicht nur die Folge einer vollständigen Lähmung und Kommunikationsunfähigkeit (EDSS
9,5) bedeuten, sondern auch den Tod (EDSS 10).
Speziell zur MS hat zwar das BSG im genannten Urteil für einen Fall sekundär-progredienter Verlaufsform eine Lebensgefahr
und auch nur eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Krankheit verneint, (BSG, U. v. 17. 03.2007 -
B 1 KR 17/96 R -, Rdnr. 15). Die Klägerin leidet jedoch nicht an diesem häufigen Typ der MS, sondern an einem anderen:
Wie der Sachverständige Dr. B aus Sicht des Senats in sich schlüssig und widerspruchsfrei ausgeführt hat, handelt es sich
bei der MS-Erkrankung der Klägerin nicht um den sekundär-progredienten Verlaufstyp, sondern um eine schubförmige MS mit kumulativem
Defektsyndrom. Innerhalb des breiten Krankheitsspektrums der MS seien Krankheitsbilder wie bei der Klägerin zwar selten, aber
durchaus bekannt und in der Literatur beschrieben: Zunächst ein relativ milder schubförmiger Verlauf, dann Entwicklung einer
hochaggressiven Phase von Schüben mit Aufbau eines kumulativen Defektsyndromes und schließlich unter einer immunmodulierenden
Medikamentation ein stabiler Verlauf bei allerdings deutlichem Defektzustand. Es liege insoweit kein eigenes Krankheitsbild
vor. Zwischen 1988 und 1993 liege ein schubförmig remittierender Verlaut mit weitestgehenden Remissionen vor. Zwischen 1995
und Herbst 1999 bestehe kein Anhalt für eine sekundäre Progredienz im Sinne einer neurologischen Behinderungszunahme zwischen
den abgrenzbaren Schüben. Letztere seien in diesen Zeitraum insgesamt zehnmal nachweisbar, davon in der Phase einer hochaggressiv
verlaufenden MS zwischen 1995 und März 1998 insgesamt sieben Schübe in nur 3 ½ Jahren. Diese Schübe fielen in den Zeitraum
vor Aufnahme der Immunmodulation mit Immunglobulinen (Octagam). Unter Octagam sei es zu drei überwiegend leichten Schüben
im Herbst 1998, Anfang 1999 und Herbst 1999 gekommen. Nach Dosiserhöhung seien seit Ende 1999 keine Schübe mehr aufgetreten.
Der EDSS habe 2002 9,0 betragen und bewege sich bis heute im Bereich zwischen 8,0 und 8,5. Damit sei es zu keiner klinisch-neurologischen
Progredienz gekommen.
Bei der schubförmigen MS mit kumulativem Defektsyndrom führen nach der Darlegung des Sachverständigen die Schübe nicht oder
nur teilweise zu einer Remission. Es baue sich treppenförmig eine Zunahme der Behinderung auf. Im Gegensatz zur sekundären
Progredienz fehle eine Behinderungszunahme zwischen den Schüben. Neben der klinisch-neurologischen Verlaufsanalyse sprechen
aus Sicht des Sachverständigen weitere Argumente gegen die Annahme einer sekundären Progredienz: Das relativ gering ausgeprägte
Fatigue-Syndrom und die relativ gering ausgeprägten kognitiven Defizite.
Die verfassungskonforme Auslegung des Leistungsrechts kommt zudem nicht nur bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich
verlaufenden Erkrankungen, sondern auch bei wertungsmäßig damit vergleichbaren Krankheitssituationen in Betracht (vgl. BSG,
Urteil vom 04. April 2006 - B 1 KR 12/04 R -, BSGE 96, 153 Rdnr. 31), beispielsweise bei drohender Erblindung (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 27/92 R -, BSGE 93, 236).
Im bereits erwähnten Urteil des BSG vom 27.03.2007 heißt es hierzu (Rdnr. 22):
"Der institutionelle Schutz, den das für Deutschland erforderliche Arzneimittelzulassungsverfahren bietet, fehlt auch bei
einem systematisch betriebenen Off-Label-Use, weil in derartigen Fällen die gebotene indikationsbezogene Arzneimittelzulassungsprüfung
nicht stattgefunden hat. Damit aber drohen den Versicherten auch hier Gesundheitsgefahren, vor denen sie das Zulassungsverfahren
gerade schützen will. Soll trotzdem - noch hinausgehend über die dargestellten einschränkenden Voraussetzungen der Sandoglobulin-Rechtsprechung
für einen Off-Label-Use - unter Berufung auf den verfassungsrechtlich gebotenen Gesundheitsschutz ein Anspruch auf die zulassungsüberschreitende
Anwendung eines Arzneimittels zu Lasten der GKV begründet werden, ist auch darauf abzustellen, ob sich die Gefahr eines tödlichen
Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu konkretisieren droht. Verbleibt
durch einen langen, verzögerten Krankheitsverlauf jahrzehntelang Zeit zur Therapie, ist in Rechnung zu stellen, dass die im
Zeitablauf typischerweise voranschreitenden medizinischen und pharmakologischen Erkenntnisse in Zukunft Therapiemöglichkeiten
eröffnen und (positive wie negative) Ergebnisse zu Tage fördern können, welche aktuell noch nicht verfügbar sind. Dann aber
ist es auch verfassungsrechtlich hinnehmbar, den von einer schweren Krankheit betroffenen Patienten bei fehlender Akut-Problematik
trotz der damit verbundenen Belastungen und Unzuträglichkeiten in der Regel abzuverlangen, vor der Inanspruchnahme der GKV
für unkonventionelle Pharmakotherapien zunächst das Vorliegen einer auf solchen Forschungsergebnissen gestützten Zulassung
der beanspruchten Fertigarzneimittel abzuwarten. Dementsprechend hat das BSG die qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen
Krankheit iS des Beschlusses des BVerfG vom 6.12.2005 (aaO.) verneint zB bei einem Prostata-Karzinom im Anfangsstadium (Urteil
vom 4.4.2006 - B 1 KR 12/05 R, SozR 4-2500 § 27 Nr 8 RdNr 36 - Interstitielle Brachytherapie mit Permanent-Seeds), bei einer in 20 bis 30 Jahren drohenden
Erblindung (Beschluss vom 26.9.2006 - B 1 KR 16/06 B) sowie bei einer langsam progredient verlaufenden Friedreich'schen Ataxie mit über Jahre hinweg möglichen stabilen Symptomen
(Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - Idebenone)."
Die Klägerin ist bereits jetzt -nach jahrelanger Behandlung mit IVIG, welche nach ihrer Ansicht die Verbesserungen bewirkt
hat- schwerbehindert.
Ihr Zustand vor der IVIG-Therapie war aus Sicht des Senats mit dem einer notstandsähnlichen Situation wie einer Erblindung
gleichsetzbar: Sie war von der Hüfte abwärts gelähmt und gänzlich inkontinent. Es bestand eine ausgeprägte Globalataxie. Sie
musste immer angebunden sein, um sitzen zu können. Arme und Hände mussten fixiert werden. Es bestanden Zungenschlund- und
Kieferverkrampfungen. Sie konnte nichts mehr kauen und hatte Schluckbeschwerden. Die Klägerin hatte die Sprachfähigkeit verloren
und konnte sich aufgrund der Ataxie nicht mitteilen. Sie schüttelte unaufhörlich den Kopf und musste in der Nacht gelagert
werden. Sie konnte nur noch bis auf zirka 50 cm Entfernung Gegenstände erkennen und sah Doppelbilder.
Eine Progredienz der Erkrankung bedeutete mindestens wieder diesen Zustand, (vgl. auch die Aufzählung von notstandsähnliche
Situationen verneinender Fälle in BSG, U. v. 05.05.2009 - B 1 KR 15/08 R -, Rdnr. 15). Soweit die Sachverständige Dr. S in diesem Zusammenhang bemängelt, dass trotz der Krankheitsschübe eine Visusminderung,
einer Einschränkung der Mobilität und aufgrund des Ausbleibens einer vollständigen Remission und der letztlich eingetretenen
Kumulation von Behinderungen keine zuverlässige Aussage für die Zukunft möglich sei, welche Region des zentralen Nervensystems
voraussichtlich im Rahmen künftiger Krankheitsschübe betroffen sein würden, mag dies abstrakt richtig sein. Die notstandsähnliche
Situation wird aber nicht dadurch aufgehoben, dass im Voraus genau bekannt ist, welche Defizite noch eintreten können.
3.2. Es gibt zur Überzeugung des Senates für die Klägerin zur Behandlung der Grunderkrankung keine Alternative zur Behandlung
mit intravenösen Immunglobulinen:
Der Sachverständige Dr. B hat zunächst nachvollziehbar ausgeführt, dass die Klägerin weiterhin behandlungsbedürftig ist. Die
Klägerin muss sich - entgegen der Auffassung der Sachverständigen des MDK Dr. S - nicht darauf verweisen lassen, dass ihre
Erkrankung selbst überhaupt nicht behandelt werden muss. Auch wenn im Falle von auftretenden neuen Schüben noch keine akute
Lebensgefahr bestünde und diese durch Kortison bzw. Plasmaaustauschstoffe behandelbar wären, bleibt festzuhalten, dass ein
Behandlungserfolg nicht sicher wäre. Nach der Argumentation des MDK bräuchte es nie einer Primärbehandlung einer MS-Erkrankung
im fortgeschrittenen Zustand.
Der Senat folgt weiter dem Sachverständigen, dass diese Behandlung nicht in der Gabe von Interferonen bestehen kann. Dieser
hat nachvollziehbar ausgeführt, dass dies aus der fehlgeschlagenen Behandlung mit Betaferon zu folgern sei.
Dieser Wirkstoff habe sich bei der Klägerin in den Jahren 1996 und 1997 als unwirksam erwiesen. Darüber hinaus sei es zu grippeähnlichen
Nebenwirkungen gekommen. Betaferon/Extavia sowie Rebif 44 seien hoch dosierte und häufig verabreichte Interferone. Dass der
Wechsel auf Rebif 44 als anderem Interferon bei einem Nichtansprechen auf Betaferon keinen Sinn mache, wie der Sachverständige
annimmt, erscheint einleuchtend. Gleiches gilt für einen Wechsel auf Avonex.
Es kann dabei also dahingestellt bleiben, ob der Klägerin eine Behandlung mit Interferonen ungeachtet der grippeähnlichen
Nebenwirkungen und der möglichen psychischen Auswirkungen zumutbar wäre.
Nach übereinstimmender Auffassung von Dr. S und Dr. B kommt weiter eine Verschreibung von Glatirameracetat (Arzneimittel Copaxone)
bei dem Ausmaß des Defektzustandes der Klägerin und dem hochaggressiven, nicht gebremsten Verlauf zwischen 1995 und 1998 nicht
in Frage.
Das Arzneimittel Azathioprin gilt nach Dr. B als Zweite-Linie-Medikament. Bei einem hochaggressiven Verlauf sei die Wirksamkeit
zu gering. Als Nebenwirkungen sei ein erhöhtes Krebsrisiko bzw. ein Infektionsrisiko vorhanden, weshalb die Klägerin Azathioprin
abgelehnt habe. Auch Dr. S beschränkt sich nur auf die Aussage, ex ante hätte 1998 dieser Wirkstoff eingesetzt werden können.
Mitoxantron ist nach dem gerichtsgutachterlichen Vorbringen als Eskalationstherapie -also als Behandlung der "eskalierten
MS", weil die immunmodulartorische Behandlung keinen oder zu wenig Erfolg zeitigte- nur bis zu einem EDSS von 6,0 erlaubt.
Auch Natalizumab komme als Eskalationstherapie für die Klägerin nicht in Frage, da die Voraussetzung der Verschreibungsfähigkeit,
der Nachweis der Progredienz im letzten Jahr gegeben sein müsse.
Auch der MDK geht nicht davon aus, dass diese Wirkstoffe Alternativen gewesen wären oder sind.
Die Therapiehinweise gemäß §
92 Abs.
2 Satz 7
SGB V i. V. m. §
17 AM-Richtlinie zur wirtschaftlichen Verordnungsweise von Arzneimitteln (Anlage IV zum Abschnitt H der Arzneimittel-Richtlinie)
zu Azathioprin und Natalizumab decken diese Bewertungen
3.3 Die Behandlung der Klägerin mit den intravenösen Immunglobulinen hatte bzw. hat schließlich eine nicht ganz entfernt liegende
Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf gehabt.
Positive Auswirkungen liegen vor, wenn z. B. ein Fortschreiten der Krankheiten aufgehalten oder Komplikationen verhindert
werden können. Abzustellen ist auf theoretische Erklärungsmuster. Fehlen solche, können Erfahrungen von Ärzten entscheidend
sein, wenn sich diese Erkenntnisse durch andere Ärzte in ähnlicher Weise wiederholen lassen (BSG, Urteil vom 04. April 2006
- B 1 KR 7/05 R -, Rdnr. 43).
Die Behandlung mit intravenösem Immunglobulin ist keine Außenseitermethode, sondern ist seit längerem (vgl. die ins Verfahren
eingeführte Information des Paul-Ehrlich-Instituts Stand 2005) in den Leitlinien der einschlägigen fachärztlichen Konsensusgruppe
MS-Therapie-Konsensus Gruppe (MSTKG) in deren Stufenschema Reservepräparat im Sinne eines Zweite-Linie-Medikamentes.
Nach der sachverständigen Auffassung des Gerichtsgutachters ist jedenfalls im vorliegenden Einzelfall die Stabilisierung des
Krankheitsverlaufes mit hoher Wahrscheinlichkeit seit mindestens acht Jahren auf die Gabe der Immunglobuline zurückzuführen.
Die Nichtbehandlung bzw. das Aussetzen der Immunglobuline werde - so überzeugend Dr. B - mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem
Wiederaufflammen der Krankheitsaktivität führen. Für den Einsatz von Immunglobulinen sprächen auch Studien (vgl. Gutachten
S. 25). Dem hat die MDK-Gutachterin Dr. S zwar hinsichtlich der Studienlage widersprochen und darauf hingewiesen, dass für
keine Verlaufsform der MS die Wirksamkeit der intravenösen Immunglobuline durch geeignete Studien belegt sei. So seien für
die Anwendung bei primär-progredienten MS keine Studien veröffentlicht, die einen Wirksamkeit nachwiesen. Ergebnisse aus randomisierten,
placebokontrollierten Studien bei einer sekundär-progredienten MS sprächen gegen die Wirksamkeit. Diese Indikation läge hier
vor. Kleinere randomisierte, kontrollierte Studien mit eingeschränkter methodischer Qualität - u. a. die Studie von Fazekas
et. al. - hätten in der Vergangenheit einige Hinweise für eine mögliche Wirksamkeit von intravenösen Immunglobulinen in der
Schubprophylaxe bei Patienten mit schubförmig-remittierender MS erbracht. Die bisher größte Studie mit dem Präparat Gamunex
habe nach Auswertung im Spätsommer 2005 keine Überlegenheit gegenüber Placebo belegt. Bemerkenswert sei innerhalb der Studie
der hohe Placeboeffekt. Deshalb ließen sich zuverlässige wissenschaftlich begründete Aussagen weder zur Wirksamkeit der IV-Immunglobulin-Therapie
treffen noch zum individuell-natürlichen Verlauf.
Maßstab ist hier jedoch nicht derjenige für einen "normalen" Off-Label-Use" nach den oben skizzierten Voraussetzungen. Ausreichend
ist vielmehr, dass es begründete Anzeichen dafür gibt, dass IVIG nicht nur als Placebo wirkt. Davon ist auszugehen:
Mittlerweile - am 7. Dezember 2010 - hat der GBA beschlossen, ein Stellungnahmeverfahren zur Änderung der Arzneimittel-Richtlinie
(AM-RL) in Anlage VI - Off-Label-Use Intravenöses Immunglobulin G (IVIG) im Anwendungsgebiet Multiple Sklerose einzuleiten.
Dies bestätigt aus Sicht des Senates, dass die IVIG-Behandlung begründete Erfolgschancen hat. Das zuständige Gremium des GBA
hat sich - ausweislich der Beschlussbegründung - der Bewertung einer eingesetzten Expertengruppe zu IVIG im Anwendungsbereich
MS angeschlossen. Diese hatte aufgrund der Bewertung der aktuellen Evidenzlage entschieden, weder eine positive noch eine
negative von IVIG zur Off-Label-Behandlung bei MS abzugeben. Die Gründe lägen in den Diskrepanzen der Ergebnisse der unterschiedlichen
Studien, die publiziert würden. Diese Diskrepanzen seien angesichts der variablen Studiendesigns, unterschiedlicher Populationen,
unterschiedlicher Laufzeiten, heterogener Endpunkte und surrogater Parameter, fehlender Patientenstratifizierung etc. nicht
unerwartet. Insbesondere finde sich unter den verfügbaren methodisch guten, kontrollierten und randomisierten Studien zur
Wirksamkeitsbeurteilung sowohl solche mit positivem als auch mit negativem Ergebnis.
Der Senat hält zuletzt die Ausführungen des Sachverständigen für schlüssig, Immunglobuline gälten als gut verträglich. Die
Klägerin weise zudem keine vaskulären (die Blutgefäße betreffend) Risikofaktoren auf. Die IVIG Behandlung bei ihr entspricht
unstreitig der ärztliche Kunst. Dafür, dass sie nicht leichtfertig zum Einsatz kam und kommt, spricht auch die glaubhafte
Aussage der im Krankenhaus behandelnde Ärztin Prof. Dr. H, nur in wenigen Fällen (im Promille-Bereich) die Indikation für
eine solche Behandlung zu stellen.
Der Schluss des Gerichtssachverständigen, ein Absetzen des Octagam sei in Kenntnis des Verlaufes und des Letalitätsrisikos
ärztlich nicht vertretbar, ist nachvollziehbar und überzeugend.
IV. Der Wechsel des für die IVIG verwendeten Arzneimittels ist für den Ausgang des Rechtsstreits ohne Bedeutung. Die Klägerin
hat von Anfang an die Erstattung der Kosten IVIG-Behandlung begehrt. Die Beklagte hat die IVIG-Behandlung als Sachleistung
bzw. Kostenerstattung hierfür generell abgelehnt.
Da die Klägerin - wie ausgeführt - einen Sachleistungsanspruch auf die Behandlung mit IVIG hat, den ihr die Beklagte generell
im angegriffenen Bescheid abstreitet, war die Verpflichtung zur (Sach-)Leistung auch für die Zukunft auszusprechen (ebenso
bereits Urt. d. Senats vom 3,0.04.2010 - L 1 KR 68/08 -).
V. Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache. Die Beschränkung des Klageantrages fällt dabei nicht ins Gewicht.
Die Revision ist nicht zuzulassen. Dem Rechtsstreit kommt insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung zu, §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG. Es handelt sich um einen ausgesprochenen Einzelfall.