Versorgung mit einem Retisert-Implantat
Vergleichbarkeit mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung
Nicht verfügbare anerkannte und dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die stationäre (operative) Versorgung mit einem Retisert-Implantat.
Die 1971 geborene Klägerin ist pflichtversichertes Mitglied der Beklagten. Infolge eines toxischen Schocksyndroms im Jahre
2008 entwickelte sich bei ihr im rechten Auge ein entzündlicher Prozess (Uveitis), der zu einer Atrophia bulbi mit Schrumpfung
führte. Diese Krankheit stellt das Endstadium verschiedenster Augenerkrankungen dar. Hierbei handelt es sich um ein gängiges
Krankheitsbild im klinischen Alltag. Bis zu 20 % aller Enukleationen (operative Entfernung eines Auges) im deutschsprachigen
Raum erfolgen aufgrund der Atrophia bulbi bzw. einer Phthisis bulbi. Die Uveitis hat am Auge der Klägerin zu einer Schädigung
des Strahlenkörpers (Zelialkörper) geführt. Dies hat wiederum zu einer verringerten Sekretion von Kammerwasser und einer daraus
resultierenden chronischen Minderung des Augendrucks geführt. Um den Verlust des rechten Auges zu verhindern, ist die Erhöhung
des Augendruckes zwingend erforderlich.
Die Klägerin wird zurzeit ambulant mit Inflanefran forte (Prednisolon, Steroid) Augentopfen 6 x täglich und Artelac (Tränenersatzmittel)
Augentropfen 8 bis 10 x täglich behandelt. Daneben wird sie regelmäßig stationär mit intravitrealen Injektionen von Triamcinolon
(kristallines Steroid) versorgt. Während dieses Behandlungsverlaufs ist es jedoch bereits zu einer Schrumpfung des rechten
Auges gekommen (Verkürzung der Achsenlänge, Verkleinerung des horizontalen Hornhautdurchmessers).
Am 26. Januar 2009 stellte die Klägerin über das Städtische Klinikum D einen Antrag auf Übernahme der Kosten für die stationäre
Versorgung mit einem Retisert-Implantat in Höhe von 14 302,53 Euro. Zur Begründung gab das Klinikum an, dass die Versorgung
der Klägerin mit dem Retisert-Implantat die einzige therapeutische Möglichkeit darstelle, den Erhalt des Auges und des Sehvermögens
zu erreichen. Bisherige therapeutische Maßnahmen, die die hochdosierte Applikation steroidhaltiger Augentropfen beinhaltet
hätten, hätten keine Verbesserung erzielt.
Bei dem Retisert-Implantat handelt es sich um ein Fertigarzneimittel, das bisher weder eine bundesdeutsche noch eine europäische
Zulassung erhalten hat. Retisert enthält als Wirkstoff Fluocinolone Acetonide, ein Cortison, das zur Therapie der posterioren
Uveitis entwickelt wurde und nach einer Phase III-Studie als Hauptnebenwirkung einen langfristigen Augeninnendruckanstieg
bewirkt. Wegen dieser Nebenwirkung, die im Falle der Klägerin gerade genutzt werden soll, hat der Hersteller den Zulassungsantrag
bei der europäischen Zulassungsbehörde im Jahre 2007 zurückgezogen. In den USA ist das Arzneimittel zur Behandlung der Diagnose
"chronische nichtinfektiöse Uveitis" in hinteren Augenabschnitten zugelassen.
Die Beklagte hat den Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme mit Bescheid vom 12. August 2009 nach Einholung eines sozialmedizinischen
Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Sachsen-Anhalt e. V. abgelehnt. In diesem Gutachten hat
der MDK ausgeführt, dass keine ausreichenden Studien zum Wirksamkeitsnachweis der begehrten Versorgung vorlägen. Die Anwendung
sei als Ultima Ratio gedacht bei Gefahr des Verlustes des Auges und stelle einen Therapieversuch dar. Therapiealternativen
zum Aufhalten einer Phthisis bulbi bestünden nicht. Von einer lebensbedrohlichen Erkrankung sei nicht auszugehen. Eine die
Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinflussende Erkrankung sei anzunehmen, aber durch die angestrebte Therapie nicht rückgängig
zu machen. Ob eine notstandsähnliche Situation bestehe, also ob akute Erblindung drohe, könne nicht beurteilt werden, da keinerlei
Angaben zur Funktion der Augen vorlägen. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass Indizien dafür sprächen, dass eine
Aussicht auf Behandlungserfolg bestehe.
Den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin hat die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. August 2010 als unbegründet
zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 13. September 2010 Klage beim Sozialgericht Berlin erhoben. Sie hat insoweit auf verschiedene
Stellungnahmen des Städtischen Klinikums D (Privat-Dozent Dr. med. K. K) verwiesen. Danach schreitet die Erkrankung der Klägerin
voran. Das rechte Auge sei bereits deutlich kleiner als das linke, und letztendlich sei mit der vollständigen Erblindung des
rechten Auges zu rechnen. Es könne sogar sein, dass, sofern das Auge weiterhin schrumpfe und schmerzhaft sei, eine Entfernung
dieses Auges unumgänglich sei.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht des Augenarztes Dr. K und ein Gutachten der Direktorin der Augenklinik Campus B
in B, Universitätsprofessorin Dr. A. J, vom 5. Februar 2014 sowie eine ergänzende Stellungnahme dieser Ärztin vom 9. Juli
2014 und eine weitere Stellungnahme des Privat-Dozenten Dr. med. K. K vom 26. Juni 2014 eingeholt. Hinsichtlich der Einzelheiten
wird auf diese Gutachten und Stellungnahmen verwiesen.
Das Sozialgericht hat sodann die Klage mit Urteil vom 14. Oktober 2014 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die
Klägerin keinen Anspruch auf die Versorgung mit dem "Fertigarzneimittel Retisert" habe, weil dieses weder in Deutschland noch
in der EU und auch nicht in den USA als Arzneimittel für die bei der Klägerin vorliegenden Indikation habe. Sie könne die
Versorgung auch nicht im Rahmen eines Off-Label-Use beanspruchen, weil es insoweit an einer "aufgrund der Datenlage begründeten
Erfolgsaussicht" fehle. Die Klägerin könne die Versorgung mit Retisert auch nicht nach den Grundsätzen einer grundrechtsorientierten
Leistungsauslegung zu Lasten der Beklagten verlangen. Dies setze voraus, dass sie an einer Krankheit leide, die mit einer
lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sei. Hierzu zähle etwa der Fall
einer drohenden Erblindung, nicht aber eine Krankheit unterhalb dieser Schwelle.
So könne selbst z. B. eine hochgradige Beeinträchtigung der Sehfähigkeit nicht mit einer Erblindung auf eine Stufe gestellt
werden. Die Gefahr einer vollständigen Erblindung bestehe bei der Klägerin nicht, da ihr linkes Auge gesund sei und sie mit
diesem unbeeinträchtigt sehen könne. Der drohende Verlust der Sehkraft des rechten Auges mit dem damit verbundenen drohenden
Verlust des Stereosehens stellte zwar zweifellos eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung
dar, der Verlust entspreche aber wertungsmäßig nicht einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit.
Die Klägerin könne die Versorgung mit Retisert schließlich auch nicht nach den Grundsätzen eines Seltenheitsfalles beanspruchen.
Entscheidend sei, dass die Erkrankung der Klägerin nach den Angaben der Gutachterin des MDK Ausdruck einer generalisierten
Schädigung intraokularen Gewebes infolge eines zu niedrigen Gewebedruckes sei und damit keine so seltene Krankheit darstelle,
weil nahezu alle schweren intraokularen Entzündungen und Traumata zu dieser Erkrankung führen könnten.
Gegen das ihr am 29. Oktober 2014 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin vom 30. November 2014 (Sonntag),
mit der sie im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Oktober 2014 und den Bescheid der Beklagten vom 12. August 2009 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 5. August 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Krankenhausbehandlung zur
Retisert-Implantation zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist zur Begründung im Kern auf die ihres Erachtens zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung.
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin eine Verordnung von Krankenhausbehandlung der Ärztin für Augenheilkunde MB vom 7. September
2015 vorgelegt. Der Senat hat sodann ein Gutachten des Facharztes für Augenheilkunde und Privat-Dozenten Dr. med. habil. C.
M der -Universität M vom 19. Februar 2016 eingeholt. Wegen des Inhalts des Gutachtens wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze,
auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben
und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der
Beklagten vom 12. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. August 2010 ist rechtswidrig und verletzt die
Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die stationäre Versorgung mit dem begehrten Retisert-Implantat.
Nach §
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) in Verbindung mit §
39 Abs.
1 Satz 2
SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Aufnahme nach Prüfung
durch das Krankenhaus erforderlich ist. Dabei umfasst die Krankenhausbehandlung im Rahmen des Versorgungsauftrages des Krankenhauses
alle Leistungen, die im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinische Versorgung der Versicherten im
Krankenhaus notwendig sind (§
39 Abs.
1 Satz 3 Halbsatz 1
SGB V). Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht dabei aber nicht uneingeschränkt für jede Art von medizinischer
Versorgung; alle Behandlungsformen, auch solche im Krankenhaus, müssen vielmehr den in §§
2 Abs.
1,
12 Abs.
1 und
28 Abs.
1 SGB V für die gesamte gesetzliche Krankenversicherung festgelegten Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskriterien genügen (vgl. Urteil
des Bundessozialgerichts [BSG] vom 21. März 2013 - B 3 KR 2/12 R -, zitiert nach juris).
Nach §
28 Abs.
1 SGB V, auf den §
39 Abs.
1 Satz 3
SGB V ausdrücklich Bezug nimmt, umfasst die ärztliche Behandlung die Tätigkeit des Arztes, die zur Verhütung, Früherkennung Behandlung
von Krankheiten nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichen und zweckmäßig ist. §
2 Abs.
1 Satz 3
SGB V bestimmt allgemein, dass die Leistungen der Krankenversicherung nach Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand
der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Den Qualitätskriterien
des §
2 Abs.
1 Satz 3
SGB V entspricht eine Behandlung, wenn die "große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler)" die Behandlungsmethode
befürwortet und von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenständen abgesehen, über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens
besteht.
Dieses setzt im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare
Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die die
Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung
ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein. Als Basis für die Herausbildung eines Konsens können alle
international zugänglich einschlägigen Studien dienen; in ihrer Gesamtheit kennzeichnen sie den Stand der medizinischen Erkenntnisse
(BSG, a. a. O.).
Diesen Anforderungen wird die streitige Versorgung mit einem Retisert-Implantat nicht gerecht. Der gerichtliche Sachverständige
Privat-Dozent Dr. med. habil. C. M hat in seinem Gutachten vom 19. Februar 2016 hierzu ausgeführt, dass die bisher bei der
Klägerin durchgeführte Behandlung, die Injektion von Steroidlösungen in den Glaskörperraum, zur Stabilisierung eines schrumpfenden
Auges in der Literatur in Fallbeispielen beschrieben wurde, dies aber nicht für die Retisert-Implantation gelte. Aufgrund
der bislang fehlenden Beschreibung in der Literatur werde die Implantation daher unter Ärzten und Wissenschaftlern weder befürwortet
noch abgelehnt. Dementsprechend bestehe auch kein Konsens über die Zweckmäßigkeit der Retisert-Implantation bei einer Atrophia
bulbi. Auch existiere keine Phase III-Studie für die Behandlung einer Atrophia bulbi mit einem Retisert-Implantat.
Zutreffend hat das Sozialgericht einen Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem Retisert-Implantat nach den Grundsätzen
eines Seltenheitsfalles verneint. Danach kann ausnahmsweise ein Anspruch auf Versorgung mit einer nicht den Anforderungen
einer nicht dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechenden Behandlung bestehen, wenn eine sehr seltene
Krankheit vorliegen sollte, die sich wegen ihrer Seltenheit der systematischen wissenschaftlichen Untersuchung entzieht und
für die deshalb keine wissenschaftlich auf ihre Wirkung überprüfbare Behandlungsmethode zur Verfügung stehen kann (BSG, a. a. O., m. w. Nachw.).
Die Voraussetzungen eines derartigen Seltenheitsfalles liegen hier nicht vor. Der gerichtliche Sachverständige hat hierzu
ausgeführt, dass es sich bei der Atrophia bulbi um ein gängiges Krankheitsbild im klinischen Alltag handelt. Die Pathogenese
der Atrophia bulbi ist in der Literatur beschrieben und zumindest auch teilweise erforscht. Dabei haben die entzündlichen
Prozesse (Uveitis) am Auge der Klägerin zu einer Schädigung des Strahlenkörpers (Zelialkörper) geführt. Dies führt wiederum
zu einer verringerten Sekretion von Kammerwasser und einer daraus resultierenden chronischen Minderung des Augendrucks.
Der Anspruch der Klägerin auf die operative Versorgung mit einem Retisert-Implantat ergibt sich aber aus §
2 Abs.
1 a SGB V. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig
vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Stand entsprechende Leistung nicht zur Verfügung
steht, auch eine von Abs. 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernliegende Aussicht auf Heilung
oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Der Gesetzgeber hat mit dieser Norm die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98) aufgegriffen, nach der sich unmittelbar aus den Grundrechten der Versicherten, die typischerweise zwangsweise der gesetzlichen
Krankenversicherung angehören, weitergehende Leistungsansprüche ergeben können. Mit Art.
2 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) in Verbindung mit Art.
20 Abs.
1 GG und dem Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art.
2 Abs.
2 Satz 1
GG) ist es danach unvereinbar, einem Versicherten, der an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung, oder
einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung leidet, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard
entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, eine von ihm gewählte, ärztlich angewandte Behandlung nicht zu gewähren,
wenn sie eine nicht ganz entferntliegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf
bietet.
Voraussetzung für einen aus der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts nach § 2 Abs. 1 a Satz 1 herrührenden
Anspruch der Klägerin auf die operative Versorgung mit dem Retisert-Implantat ist danach:
- das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit oder einer zumindest wertungsmäßig
vergleichbaren Erkrankung,
- das Fehlen einer Methode, die dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht und
- dass eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf
besteht.
Die Klägerin leidet an einer zumindest mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbaren
Erkrankung. Für Letzteres nennt der Gesetzesentwurf zu §
2 Abs.
1 a SGB V etwa den absehbaren nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion
(BT-Drs. 17/6906 S. 13 [S. 52/53]).
Im vorliegenden Fall droht der Klägerin der Verlust ihres rechten Auges. Der gerichtliche Sachverständige Privat-Dozent Dr.
med. habil. C. M hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass die Erkrankung der Klägerin letztendlich zu einem Verlust des rechten
Auges führen kann. Dies ist zwischen den medizinischen Sachverständigen auch unstreitig. Auch die Gutachterin des erstinstanzlichen
Verfahrens hat insoweit ausgeführt, dass bei einem fortschreitenden Verlauf der Krankheit der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit
mit einer Erblindung zu rechnen sei. Auch der MDK hat in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 4. Mai 2011 ausgeführt,
dass wegen den Schmerzen und der Funktionslosigkeit des Auges eine Augapfelentfernung rechts nicht auszuschließen sei. Der
Klägerin droht damit der Verlust des rechten Auges. Dies hätte zur Folge, dass die Klägerin wesentliche Funktionen der Sehfähigkeit
verliert. Neben der Einschränkung des Gesichtsfeldes verlöre sie die Fähigkeit des dreidimensionalen Sehens durch den Verlust
des sogenannten Stereosehens.
Der Senat vermag sich nicht der Beurteilung des Sozialgerichts anzuschließen, dass der drohende Verlust der Sehkraft des rechten
Auges zwar eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung darstelle, dieser Verlust aber wertungsmäßig
nicht einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit entspreche.
Mit dem vorgenannten Anspruch der typischerweise zwangsweise der gesetzlichen Krankenversicherung angehörenden Versicherten
auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art.
2 Abs.
2 GG) ist es unvereinbar, diese auf die verbleibende Sehfähigkeit des verbliebenen Auges zu verweisen, sofern noch eine Aussicht
auf eine Heilung des erkrankten Auges besteht. Der Gutachter hat ausgeführt, dass das Sehvermögen der Klägerin durch die Krankheit
bereits aktuell beeinträchtigt ist. So ist die Wahrnehmung von Handbewegungen bei teils defekter Lichtprojektion nicht mehr
möglich. Bereits diese Einschränkung führt zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität. Bei dem vollständigen
Verlust des erkrankten Auges drohen der Klägerin die beschriebenen weiteren Einschränkungen. Der Sehsinn des Menschen ist
nach Auffassung des Senats aber nicht in dem Sinne relativierbar, dass einzelne Aspekte dieser Fähigkeit des Menschen, seine
Umwelt physiologisch wahrzunehmen, verzichtbar sind. Unberücksichtigt kann zudem auch nicht bleiben, dass die Klägerin bei
einem Verlust des erkrankten Auges mit der abstrakten Angst leben muss, bei einer Erkrankung des gesunden Auges nunmehr die
Sehfähigkeit gänzlich zu verlieren.
Zur Überzeugung des Senates steht auch keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Stand entsprechende Leistung zur Verfügung.
Diese Überzeugung stützt sich ebenfalls auf die vorliegenden Gutachten. Der Gutachter Privat-Dozent Dr. med. habil. C. M hat
in seinem Gutachten die ambulanten und stationären Behandlungsmethoden, die für die Behandlung des bei der Klägerin vorliegenden
Krankheitsbildes bestehen, beschrieben.
Diese sind:
1. Topische (lokale) Gabe von Zykloplegika (z. B. Atropin) und von Steroiden
2. Intravitreale Applikation von Steroiden
3. Vitrektomie mit Silikonöltamponade mit/ohne Entfernung intraokulärer postentzündlicher Membranen
4. Prothese
5. Enukleation
6. Retobulbere Injektion von Alkohol oder Chlorpromazin.
Von diesen Therapiemöglichkeiten werden die topische (1.) und die Anpassung einer Prothese (4.) ambulant durchgeführt. Die
übrigen Therapiemaßnahmen erfolgen in der Regel stationär. Der Gutachter hat hierzu weiter ausgeführt, dass die aktuelle ambulante
Behandlung der Klägerin aus Inflanetran forte (Prednisolon, Steroid) Augentropfen 6 x täglich und Artelac (Tränenersatzmittel)
Augentropfen 8 bis 10 x täglich besteht. Daneben erfolgen zahlreiche stationäre Behandlungen, u. a. für die intravitreale
Injektion von Triamcinolon (Steroid) (bislang 16 x, zuletzt Februar 2015).
Alle diese Behandlungen hatten zum Ziel, den Schrumpfungsprozess am rechten Auge der Klägerin zu verlangsamen bzw. zu stoppen
und damit die drohende Entfernung des rechten Auges abzuwenden. Gleichwohl ist es jedoch bereits zu einer Schrumpfung des
rechten Auges gekommen (Verkürzung der Achsenlänge, Verkleinerung des horizontalen Hornhautdurchmessers). Der Sachverständige
hat festgestellt, dass die aktuellen ambulanten und stationären Behandlungen nicht ausreichen, um den für eine Atrophia bulbi
üblichen progressiv fortschreitenden Funktionsverlust zu stoppen. Daneben klagt die Klägerin, so der Sachverständige, trotz
Behandlung über ziehende Schmerzen am rechten Auge etwa ein- bis zweimal pro Woche, die für etwa drei Stunden anhalten. Der
Sachverständige stimmt damit auch mit dem Gutachten der erstinstanzlichen Gutachterin Prof. Dr. A. J überein, die ebenfalls
ausgeführt hat, dass es neben dem Therapieversuch mittels Retisert-Implantation nur kurzzeitig wirksame Alternativen wie die
Injektion von Triamcinolon gebe, welche die Klägerin aber bereits mehrmalig erhalten habe und es gleichwohl zu einer Schrumpfung
des Auges geführt habe. Alternative Behandlungsmethoden sehen danach nicht mehr zur Verfügung.
Zur Überzeugung des Senats steht auch fest, dass mit der begehrten Retisert-Implantation eine nicht ganz entfernliegende Aussicht
auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Diese Überzeugung stützt sich ebenfalls
auf das Gutachten des Sachverständigen Privat-Dozent Dr. habil. C. M. Dieser hat in Übereinstimmung auch mit der Sachverständigen,
die das Sozialgericht beauftragt hat, ausgeführt, dass die operative Versorgung mit einem Retisert-Implantat zu den bestehenden
Behandlungsmöglichkeiten der intravitrealen Applikation von Steroiden gehört, also Eingabe von Steroiden in den Glaskörperraum.
Die Behandlung mit Steroiden bei einer Atrophia bulbi entspricht dem medizinischen Standard, und es sei für ihn nachvollziehbar,
dass die behandelnden Augenärzte ihre Hoffnung auf die geplante Behandlung stützen. Das Risiko einer Endophthalmitis (Netzhautablösung)
sei kein Hinderungsgrund für einen Heilversuch. Beim vorliegenden Fall sei für ihn die ärztliche Einschätzung (angesichts
der ansonsten im Sinne eines Erhalts des Auges ausweglosen Situation), dass die Chancen der Risiken überwiegen, nachvollziehbar.
Die weiteren Behandlungsmöglichkeiten bestehen nach Aussage des Sachverständigen lediglich noch in destruktiven oder kosmetischen
Verfahren, wie z. B. die Entfernung des Augapfels. Welches Verfahren als weniger belastend empfunden wird, hängt, so der Sachverständige,
u. a. von den vom schrumpfenden Auge ausgehenden Schmerzen, von der Dauer des Behandlungserfolges und der Belastung während
des Behandlungsverlaufs ab und werde individuell sehr unterschiedlich wahrgenommen. So könne die Entfernung eines dauerhaft
schmerzenden Auges vom Patienten als große Entlastung empfunden werden und somit als "Erfolg" angesehen werden. Damit würde
die Entfernung des rechten Auges natürlich zu einem Verlust des Sehvermögens bei der Klägerin führen.
Auf diese Behandlungsmöglichkeit muss sich die Klägerin unter Beachtung ihres grundgesetzlichen Anspruchs auf körperliche
Unversehrtheit (Art.
2 GG) aber nicht verweisen lassen
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 und Nr.
2 SGG liegen nicht vor.