Ungekürzte Leistungen nach dem AsylbLG
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums
Verletzung von Mitwirkungsobliegenheiten
Nichtmitwirkung bei einer Ausreise
Gründe:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juli 2018, mit dem es das Sozialgericht
abgelehnt hat, den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern ungekürzte
Leistungen nach §
3 Asylbewerberleistungsgesetz (
AsylbLG) zu gewähren, ist zulässig aber unbegründet.
Der Senat weist die Beschwerde gegen die Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung aus den Gründen der angefochtenen
Entscheidung als unbegründet zurück und sieht gemäß §
142 Abs.
2 Satz 3
Sozialgerichtsgesetz -
SGG - von einer weiteren Begründung ab.
Das Sozialgericht hat zutreffend entschieden, dass hinsichtlich der nach erfolglosen Asylanträgen in den Jahren 2000, 2003
und 2005 zuletzt am 9. Juli 2017 erneut eingereisten Antragsteller die Voraussetzungen des §
1a Abs.
1 AsylbLG gegeben sind. Für die chronisch nierenkranke und dauerhaft dialysebedürftige Antragstellerin zu 1) war die - durch Leistungen
des
AsylbLG finanzierte - Fortsetzung ihrer bereits in ihrer Heimat begonnenen Dialysebehandlung letztlich alleiniger Grund der - erneuten
- Einreise.
Das Sozialgericht hat ebenfalls zutreffend entschieden, dass §
14 AsylbLG der Leistungskürzung nicht entgegensteht. Zwar wird vertreten, dass §
14 Abs.
2 AsylbLG keine "befristeten Kettenanspruchseinschränkungen" erlaube (jurisPK-SGB XII/Oppermann Rn. 14), wobei dem Senat nicht recht
klar ist, wann eine solche vorliegt, da Abs. 2 gerade eine Fortsetzung der Anspruchseinschränkung und nicht deren Beschränkung
regelt. Ohne Zweifel muss spätestens nach Ablauf der sechs Monate die Behörde in eine neue Prüfung eintreten, ob die Pflichtverletzung
nach §
1a AsylbLG weiterhin besteht oder nicht. Vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darf ein nicht mehr abänderbares, zurückliegendes
Fehlverhalten oder sogar ein bereits korrigiertes Fehlverhalten nicht unbegrenzt in einer Sanktion fortwirken (BT-Drs. 18/6185,
48). Dies bedeutet, wie Wahrendorf (in Grube/Wahrendorf
AsylbLG §
14 Rn. 8) zutreffend andeutet, jedoch nicht, dass damit etwa im Fall des §
1a Abs.
1 AsylbLG lediglich eine einmalige Leistungseinschränkung von 6 Monaten möglich wäre. Jedenfalls Leistungseinschränkungen, die sich
an der Wartezeit von §
2 Abs.
1 AsylbLG von 15 Monaten orientieren (vgl. Deibel, ZFSH/SGB 2015, 117, 126; Hohm in: Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, 19. Aufl. 2015, §
1a AsylbLG Rn. 48; a.A. jurisPK-SGB XII/Oppermann Rn. 13) erscheinen deshalb zulässig. Vorliegend erhalten die Antragsteller abgesenkte
Leistungen seit dem 25. Juli 2017 weshalb die vorliegend angeordnete - abgesenkte - Bewilligungsentscheidung für die Zeit
vom 19. April 2018 bis 16. Oktober 2018 sich noch in diesem Rahmen hält.
Schließlich hat das Sozialgericht weiterhin zutreffend entschieden, dass die Anwendung des §
1a AsylbLG im vorliegenden Fall nicht im Hinblick auf Art.
1 i.V.m. Art.
20 Grundgesetz (
GG) ausgeschlossen ist.
Der Senat hat bereits zur Vorschrift des §
1a Nr. 2
AsylbLG a.F entschieden (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.07.2013 - L 23 AY 10/13 B ER), dass diese nicht gegen das
Grundgesetz verstößt. Es ist auch keine dahingehende verfassungskonforme Auslegung erforderlich, wonach Leistungsberechtigten selbst
bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Absenkung der Leistungen das verfassungsrechtlich gesicherte Existenzminimum
erhalten bleiben müsse und sich dieses entsprechend den vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 12. Juli 2012
formulierten Übergangsregelungen berechnet (anderer Auffassung: LSG Berlin-Brandenburg, 15. Senat, Beschluss vom 06. Februar
2013, L 15 AY 2/13 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. April 2013 - L 20 AY 153/12 B ER; wie hier: Thüringisches
Landessozialgericht, Beschluss vom 17. Januar 2013, L 8 AY 1801/12 B ER; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss
vom 20. März 2013, L 8 AY 59/12 B ER). Das Bundesverfassungsgericht hat durch sein Urteil vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10 und 2/11, abgedruckt in info also 2012, S. 225 und ZFSH/SGB 2012, S. 450) die Höhe der Geldleistungen bei der Bewilligung von Grundleistungen nach §
3 des
AsylbLG für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber verpflichtet, unverzüglich eine Neuregelung zur Sicherung des menschenwürdigen
Existenzminimums zu treffen. Das Bundesverfassungsgericht hat damit jedoch eine ausdrückliche Entscheidung über §
1a AsylbLG nicht getroffen. Es hat im Rahmen seiner Entscheidung vielmehr die Ausgestaltungsbedürftigkeit des Grundrechts aus Art.
1 Abs.
1 GG i. V. m. Art.
20 Abs.1
GG durch den Gesetzgeber betont, weshalb eine Verfassungswidrigkeit des §
1a Nr. 2
AsylbLG nur dann anzunehmen wäre, wenn der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung dieser Vorschrift das ihm zustehende Ausgestaltungsermessen
überschritten hätte (vgl. Burkiczak, SGb 2012, 324, 325). Der aufgrund des §
1a Nr. 2
AsylbLG reduzierte Leistungsanspruch wäre nur dann verfassungswidrig, wenn er nicht diejenigen Mittel zur Verfügung stellen würde,
die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Das menschenwürdige Dasein setzt sich
nach dem Bundesverfassungsgericht aus der Gewährleistung der physischen Existenz des Menschen und einem Mindestmaß an Teilhabe
am sozio-kulturellen Leben zusammen. Das Bundesverfassungsgericht billigt dem Gesetzgeber hinsichtlich der Ausgestaltung dieser
Gewährleistungen einen Gestaltungsspielraum zu. Dieser Spielraum ist enger, soweit es sich um die physische Existenz bezieht,
weiter soweit er die Teilhabe betrifft (BVerfGE 125, 175, Rdnr. 138). Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers lässt nach Auffassung des Senats Raum für die Gewährung nur reduzierter
Leistungen etwa bei Pflichtverletzungen, wie der Nichtmitwirkung bei der Ausreise. Aus dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges
Existenzminimum ergibt sich kein von Mitwirkungsobliegenheiten und Eigenaktivitäten unabhängiger Anspruch (Berlit/Conradis/Sartorius,
Existenzsicherungsrecht, 2. Auflage, S. 443). Der vorgenannte Gestaltungsspielraum kann sich vordringlich in der eingeschränkten
Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auswirken.
Auch deutsche Sozialhilfeempfänger und legal in Deutschland lebende Ausländer sind entsprechenden Leistungskürzungen im Fürsorgerecht
grundsätzlich ausgesetzt, wie sie zum Beispiel in den § 31 ff. SGB II, § 26, 41 Abs. 4 SGB XII geregelt sind. Schon aus Gründen der Gleichbehandlung müssen auch bei Leistungsbeziehern nach dem
AsylbLG verhaltensbedingte Kürzungen der Leistungen möglich sei.
Nichts anderes gilt hinsichtlich der hier streitgegenständlichen Vorschrift des §
1a Abs.
1 AsylbLG. Wenn das Sozialgericht insoweit darauf hinweist, dass das BVerfG lediglich eine generell niedrigere Leistungshöhe bei existenzsichernden
Leistungen für Asylbewerber zwecks Steuerung von oder Anreizreduzierung für Migration verfassungsrechtlich ausschließt, entspricht
dies der Auffassung des Senats. Auch in Rspr. und Literatur werden demgegenüber verhaltensbedingte Leistungskürzungen als
verfassungskonform angesehen (BSG 12.5.2017 - B 7 AY 1/16 R, Rn. 27 ff.; BayLSG 21.12.2016 - L 8 AY 31/16 B ER; Korff in BeckOK SozR
AsylbLG §
1 a Rn. 1-2; Deibel/Hohm §
1a AsylbLG Rn. 18; Wahrendorf
AsylbLG §
1 a Rn. 71).
Den Antragstellern war für das Beschwerdeverfahren gemäß §
73a Abs.
1 Satz 1
SGG i. V. m. §
114 ZPO Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Die Antragsteller können nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die
Kosten der Prozessführung nicht aufbringen. Die Rechtsverfolgung bot im Hinblick darauf, dass schwierige, höchstrichterlich
nicht geklärte Rechtsfragen nach einer Gesetzesänderung zu beurteilen waren, auch hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. zum
Prüfungsmaßstab bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten BVerfG, Kammerbeschluss vom 14. Februar 2017 - 1 BvR 2507/16 -, juris). Schließlich erschien die Rechtsverfolgung nicht mutwillig.
Die Beteiligten haben einander für die Beschwerdeverfahren entsprechend §
193 SGG keine Kosten zu erstatten.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, §
177 SGG.