Auslegung des Klagebegehrens einer Anfechtungsklage im sozialgerichtlichen Verfahren
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Ablehnung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung für die Zeit des Leistungsbezuges
nach dem SGB XII.
Der 1965 geborene Kläger hat die Staatsangehörigkeit von Ghana und lebt seit ca. 13 Jahren in der Bundesrepublik. Er bezieht
Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel SGB XII (Bescheid vom 22.09.2009 für den Zeitraum ab vom 01.11.2009
bis 31.08.2010). Er ist schwerbehindert mit einem GdB von 100. Er beantragte am 13. Mai 2008 Leistungen der Pflegeversicherung.
Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 16. Mai 2008 von der AOK Berlin - die Gesundheitskasse abgelehnt. Den Widerspruch vom
23. Juni 2008 wies die AOK Berlin - die Gesundheitskasse nach Entscheidung des für die Pflegekasse zuständigen Widerspruchsausschusses
mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2008 zurück. Der Kläger sei bei der AOK nachweislich nicht krankenversichert und
deshalb auch nicht pflegeversichert. Er werde von der AOK nach §
264 SGB V betreut und erhalte von ihr die Krankenbehandlung, wobei die entstehenden Aufwendungen vom Träger der Sozialhilfe erstattet
würden. Weil der Kläger bei der AOK nicht versichert sei, habe er keinen Anspruch auf Gewährung von Pflegeversicherungsleistungen.
Mit seiner Klage vom 30. Oktober 2008 verlangt der Kläger gemäß §
33 Abs
2 Nr
5 SGB XI die Aufnahme von Kranken- und Pflegeversicherungsleistungen. Der Kläger sei schwerbehindert und leide unter einem komplexen
Beschwerdebild, weshalb ihm eine Rückkehr in die Heimat nicht zuzumuten sei. Die Entscheidung der Beklagten sei mit wesentlichen
Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar. Der Kläger hat ärztliche Atteste des behandelnden
Internisten Dr. W eingereicht, wonach der Kläger unter einer terminalen Niereninsuffizienz mit Dialyse dreimal wöchentlich,
einer arteriellen Hypertonie, einer chronischen renal-toxischen Anämie, einer dekompensierenden Herzinsuffizienz, einer peripheren
Facialisparese links und einer Hepatitis B leiden würde und eine Selbstversorgung nahezu unmöglich sei. Er sei stark auf fremde
Hilfe angewiesen. In zwei früheren Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht Berlin hatte der Kläger von
der Beklagten zu 1) Leistungen nach Pflegestufe II bzw III begehrt.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 24. Juli 2009 abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Pflegeleistungen,
weil er nicht Versicherter der Beklagten zu 1) sei. Bezieher von Sozialhilfeleistungen seien nicht Versicherte der Pflegekassen,
wenn sie keinen der Tatbestände nach §§
20,
21,
24,
25 SGB XI erfüllen würden. Sie würden auch nicht dadurch versicherungspflichtig, dass eine gesetzliche Krankenkasse für sie Leistungen
gegen Kostenerstattung durch den Sozialhilfeträger nach §
264 Abs
2 Satz 1
SGB V erbringe.
Seine Berufung begründet der Kläger damit, dass die Darlegungen im Gerichtsbescheid auf falschen Tatsachen beruhen würden.
Der vorliegende Fall beziehe sich nicht auf die Anerkennung der Pflegestufe I sondern der Pflichtversicherung nach § 5 Abs
1 Nr 13 Buchst d. Die Pflegestufe I sei bereits anerkannt worden. Der Kläger rügt eine Missachtung des Sozialstaatsprinzips.
Während des Berufungsverfahrens erfolgte beim Kläger Ende November beziehungsweise Anfang Dezember 2009 eine Herzkatheteruntersuchung,
eine Beckenangiographie und eine Bypass-OP. Es wurde anschließend eine kardiopulmonale Rehabilitation eingeleitet. Das ursprünglich
auch verfolgte Feststellungsbegehren, das der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der sozialen
Pflegeversicherung galt, hat der Kläger fallengelassen.
In der mündlichen Verhandlung wurde das Rubrum dahingehend korrigiert, dass die AOK Berlin - die Gesundheitskasse als Beklagte
zu 2) aufgenommen wurde.
Der Kläger beantragt
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 24. Juli 2009 sowie den Bescheid der Beklagten zu 2) vom 16. Mai 2008 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2008 aufzuheben und
die Beklagte zu 1) zu verurteilen, dem Kläger ab dem 1. Mai 2008 Pflegegeld bei Pflegestufe III zu gewähren.
Die Beklagten halten den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und beantragen,
die Berufung zurückzuweisen
Die Beklagte zu 1) widerspricht einer Erweiterung der Klage.
Der Senat hat mit Beschluss vom 25. März 2010 das Verfahren hinsichtlich der Gewährung von Pflegeleistungen vom vorliegenden
Rechtstreit abgetrennt.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten zu 1) vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die
Verwaltungsvorgänge der Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg. Das Sozialgericht durfte die Anfechtungsklage gegen die Bescheide der Beklagten
zu 2) nicht abweisen, sondern hatte diese wegen Unzuständigkeit der Beklagten zu 2) aufzuheben. Im Übrigen verfolgt der Kläger
im vorliegenden Rechtsstreit (nach Abtrennung der Leistungsklage) keinen Anspruch weiter.
Der Senat darf über die Anfechtungsklage gegen die Beklagte zu 2) entscheiden, weil sie auch gegen die Entscheidung des für
die Pflegekasse (Beklagte zu 1) zuständigen Widerspruchsausschusses ("Geschäftsstelle des Widerspruchsausschusses") gerichtet
war und der angefochtene Bescheid einen Leistungsanspruch der sozialen Pflegeversicherung betraf. Der für die Pflegekasse
zuständige Widerspruchsausschuss ist im Widerspruchsbescheid ausdrücklich als die entscheidende Stelle genannt. Die Zuständigkeit
des Pflegeversicherungssenats ist deshalb gegeben.
Die Anfechtungsklage gegen die Beklagte zu 2) ist zulässig und statthaft. Sie richtet sich gegen die AOK Berlin - die Gesundheitskasse.
Nicht Beklagte ist insoweit die Pflegekasse bei der AOK Berlin - die Gesundheitskasse, die Beklagte zu 1). Dies ergibt sich
zum einen aus der Klageschrift (dort "Land Berlin, vertreten durch die AOK - die Gesundheitskasse, Geschäftsstelle des Widerspruchsausschusses").
Zum anderen folgt dies daraus, dass der angefochtene Bescheid nicht von der Pflegekasse sondern von der Krankenkasse erlassen
wurde und bei Auslegung des Klagebegehrens einer Anfechtungsklage die erlassende Behörde als vom Kläger gewünschter Prozessgegner
anzunehmen ist. Der Bescheid vom 16. Mai 2008 wurde erlassen von der AOK Berlin - die Gesundheitskasse und weist an keiner
Stelle darauf hin, dass ein anderer Rechtsträger, die Körperschaft der Pflegekasse bei der AOK Berlin, gehandelt haben sollte.
Im Widerspruchsbescheid wird zwar darauf hingewiesen, dass der Widerspruchsausschuss der Krankenkasse auch für die Pflegekasse
die Entscheidungen treffe und dass der für die Pflegekasse zuständige Widerspruchsausschuss der AOK sich in seiner Sitzung
am 27. Oktober 2008 mit dem Widerspruch des Klägers befasst und entsprechend beschlossen habe. Der Widerspruchsbescheid wurde
jedoch unter dem Namen der AOK Berlin - die Gesundheitskasse erlassen. Eine Korrektur des angefochtenen Bescheides hinsichtlich
der erlassenden Behörde wurde durch den Widerspruchsbescheid nicht vorgenommen; eine solche Korrektur erscheint auch unzulässig.
Bei Auslegung des Anfechtungsbegehrens ist mit der Klageschrift der daher davon auszugehen, dass sich die Klage gegen den
Rechtsträger, der den angefochtenen Bescheid erlassen hat, richtet. Dabei handelt es sich nicht um eine Klageänderung, weil
die Beklagte zu 2) bei richtiger Auslegung von Beginn an beklagt war, Unerheblich ist, inwieweit dies zunächst von den Beteiligten
und dem Sozialgericht erkannt wurde.
Die Anfechtungsklage ist auch begründet, weil die unzuständige Behörde gehandelt hat. Für die Entscheidung über die vom Kläger
im Antragsschreiben vom 9. Mai 2008 ausdrücklich geforderten Leistungen aus der Pflegekasse war nach dem gesetzlichen Zuständigkeitsvorgaben
ausschließlich die Pflegekasse bei der Beklagten zu 2), also die Beklagte zu 1), nicht aber die Beklagte zu 2) berufen. Dieser
Fehler begründet zwar nicht die Nichtigkeit, wohl aber die Rechtwidrigkeit des angefochtenen Bescheides und insoweit einen
Aufhebungsanspruch des Klägers. Soweit der Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Neuruppin für die Sachentscheidung vorgreiflich
sein sollte, würde der Bescheid auch inhaltlich gegen das Verbot des vorzeitigen Verfahrensabschlusses verstoßen und deshalb
der Aufhebung unterliegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Sie berücksichtigt den anteiligen Erfolg der Rechtsverfolgung (Erfolg der Anfechtungsklage, Rücknahme der Feststellungsklagen).
Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür nach §
160 Abs
2 SGG nicht vorliegt.