Sofortige Vollziehung einer ärztlichen Zulassungsentscheidung
Interesse für die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes
Vorwegnahme der Hauptsache
1. Welche Anforderungen an das Vorliegen öffentlicher oder überwiegender privater Interessen für die Anordnung der sofortigen
Vollziehung eines Verwaltungsaktes bei der von den Sozialgerichten vorzunehmenden Interessenabwägung zu stellen sind, hängt
zunächst davon ab, ob sich der Verwaltungsakt im Rahmen der Prüfung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren als (offensichtlich)
rechtmäßig erweist oder ob das Obsiegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren unsicher ist; ist der Verwaltungsakt offensichtlich
rechtswidrig, scheidet die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides aus.
2. Nur wenn das öffentliche oder ein überwiegendes privates Interesse die Anordnung der sofortigen Vollziehung dringend gebieten,
weil die Versorgung der Versicherten ansonsten nicht sichergestellt erscheint oder der betroffene Vertragsarzt oder Vertragspsychotherapeut
in seiner beruflichen Existenz aus einem Grund gefährdet ist, der nicht in seinen Verantwortungsbereich fällt, kommt eine
Anordnung der sofortigen Vollziehung in Betracht.
3. Wegen der mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung für das System der gesetzlichen Krankenversicherung jedenfalls für
den Zeitraum der Geltung der Anordnungsentscheidung verbundenen Vorwegnahme der Hauptsache, kommt eine Anordnung nur dann
in Betracht, wenn die dafür sprechenden Gründe erheblich über diejenigen hinausgehen, die die Erteilung der Sonderbedarfszulassung
selbst rechtfertigen.
Gründe:
1.) Nach §
155 Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) entscheidet der Vorsitzende über die Beschwerde allein, weil es sich um einen dringenden Fall i.S.d. genannten Vorschrift
handelt. Von der Entscheidung, ob die sofortige Vollziehung der Zulassungsentscheidung des Antragsgegners anzuordnen ist,
hängt es ab, ob die Antragstellerin von der Sonderbedarfszulassung des Antragsgegners jetzt sofort Gebrauch machen darf, so
dass im Hinblick auf die Dauer der Anhängigkeit der Sache nunmehr sofort über die Beschwerde zu entscheiden war.
2.) Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. Oktober 2015 ist gemäß §§
172 Abs.
1,
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat es zu Recht abgelehnt, dem Antrag der Antragstellerin zu entsprechen,
die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Antragsgegners vom 10. Juni 2015 anzuordnen, mit dem der Antragsgegner der Antragstellerin
eine Sonderbedarfszulassung als Fachärztin für Innere Medizin mit der Schwerpunktbezeichnung Rheumatologie erteilt hat.
3.) Nach §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung
haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Im vorliegenden Fall hatte die Klage der Beigeladenen zu 1)
gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 10. Juni 2015 aufschiebende Wirkung [vgl. §
97 Abs.
4 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (
SGB V)] mit der Folge, dass die Antragstellerin von der Zulassung bis zum Eintritt der Bestandskraft des Zulassungsbescheides grundsätzlich
keinen Gebrauch machen darf, solange der Antragsgegner gemäß §
97 Abs.
4 SGB V oder das Sozialgericht gemäß §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG die sofortige Vollziehung des Bescheides nicht anordnet. Während der Antragsgegner die sofortige Vollziehung des Zulassungsbescheides
ausschließlich im öffentlichen Interesse anordnen darf, kann das Sozialgericht die sofortige Vollziehung sowohl aus Gründen
des öffentlichen Interesses als auch dann anordnen, wenn sie im überwiegenden Interesse eines Beteiligten erforderlich ist
(vgl. hierzu §
86a Abs.
2 Nr.
5 SGG). Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht vor. Die Anordnung der sofortigen
Vollziehung ist weder aus Gründen des öffentlichen Interesses noch wegen des Vorliegens überwiegender Interessen der Antragstellerin
geboten.
4.) Welche Anforderungen an das Vorliegen öffentlicher oder überwiegender privater Interessen für die Anordnung der sofortigen
Vollziehung eines Verwaltungsaktes bei der von den Sozialgerichten vorzunehmenden Interessenabwägung zu stellen sind, hängt
zunächst davon ab, ob sich der Verwaltungsakt im Rahmen der Prüfung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren als (offensichtlich)
rechtmäßig erweist oder ob das Obsiegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren unsicher ist; ist der Verwaltungsakt offensichtlich
rechtswidrig, scheidet die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides aus. Denn an der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit
eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes besteht weder ein öffentliches noch ein überwiegendes privates Interesse. Erweist sich
der Verwaltungsakt als rechtmäßig, sind die Anforderungen an das Vorliegen eines öffentlichen oder eines überwiegenden privaten
Interesses als Voraussetzung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung geringer als wenn der Ausgang des Hauptsacheverfahrens
zum Zeitpunkt der Entscheidung der Sozialgerichte offen ist: Im letzten Fall sind an das Vorliegen eines öffentlichen Interesses
oder eines überwiegenden privaten Interesses besonders hohe Anforderungen zustellen, weil der Gesetzgeber in §§
96 Abs.
4 Satz 2 und
97 Abs.
4 SGB V als Regelfall das Eintreten des Suspensiveffekts bestimmt hat. In jedem Fall gilt: Nur wenn das öffentliche oder ein überwiegendes
privates Interesse die Anordnung der sofortigen Vollziehung dringend gebieten, weil die Versorgung der Versicherten ansonsten
nicht sichergestellt erscheint oder der betroffene Vertragsarzt oder Vertragspsychotherapeut in seiner beruflichen Existenz
aus einem Grund gefährdet ist, der nicht in seinen Verantwortungsbereich fällt, kommt eine Anordnung der sofortigen Vollziehung
in Betracht. Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor. Wegen der mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung für
das System der gesetzlichen Krankenversicherung jedenfalls für den Zeitraum der Geltung der Anordnungsentscheidung verbundenen
Vorwegnahme der Hauptsache, kommt eine Anordnung nur dann in Betracht, wenn die dafür sprechenden Gründe erheblich über diejenigen
hinausgehen, die die Erteilung der Sonderbedarfszulassung selbst rechtfertigen.
a) Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Sonderbedarfszulassung legt der Senat seine Urteile vom 23. Oktober 2013 (L 7 KA 123/11 und L 7 KA 86/12; juris) zugrunde, die grundsätzlich für die Rechtmäßigkeit der erteilten Sonderbedarfszulassung sprechen dürften, weil die
bereits zugelassenen Fachärzte für Innere Medizin mit der Schwerpunktbezeichnung Rheumatologie im Zulassungsbezirk Berlin
keine ausreichende Versorgung gewährleisten dürften. Dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die den Urteilen
des Senats zugrunde lagen, zwischen Oktober 2013 und dem Juni 2015 so gravierend verändert haben, dass eine Sonderbedarfszulassung
im vorliegenden Fall nicht erteilt werden durfte, ist im Rahmen des Beschwerdeverfahrens weder erkennbar geworden noch haben
das die Beteiligten überzeugend dargelegt.
b) Ebenso wenig sind allerdings ins Gewicht fallende Gründe ersichtlich, die über die hinausgehen, die die Erteilung einer
Sonderbedarfszulassung selbst rechtfertigen und die die Anordnung der sofortigen Vollziehung tragen würden. Der Senat stimmt
mit dem Sozialgericht darin überein, dass die Antragstellerin bereits in ihrer derzeitigen hausärztlichen Tätigkeit mit einem
halben Versorgungsauftrag rheumakranke Versicherte entweder selbst behandeln oder aber zur erforderlichen Versorgung weiterüberweisen
kann. Vor diesem Hintergrund spricht nichts dafür, dass die Zulassung als internistische Rheumatologin mit einem weiteren
halben Versorgungsauftrag die Versorgungslage erheblich und nachhaltig verbessern würde. Es erscheint in diesem Zusammenhang
auch nicht schlechthin ausgeschlossen, dass für eine Weiterversorgung nach einer ersten internistischen Diagnosestellung und
medikamentösen Behandlung durch die Antragstellerin zumindest teilweise nicht nur internistische Rheumatologen, sondern auch
niedergelassene orthopädische Rheumatologen in Betracht kommen. Zu bedenken sein könnte auch, ob eine Versorgung im Rahmen
der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung nach §
116b Abs.
1 Nr.
1 c) Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (
SGB V), in Hochschulambulanzen sowie ggf. durch ermächtigte Krankenhausärzte möglich wären. Denn anders als bei der Zulassungsentscheidung
selbst, erscheint es bedenkenswert, vor der vom Gesetz nur in Ausnahmefällen vorgesehenen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit
einer Sonderbedarfszulassung grundsätzlich das gesamte vorhandene Versorgungsangebot in den Blick zu nehmen. In diesem Fall
müsste die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nur dann erfolgen, wenn sich auch unter Berücksichtigung aller vorhandenen
Versorgungsalternativen eine Versorgungslücke nicht einmal für die Übergangszeit zwischen der Zulassungsentscheidung und dem
Eintritt ihrer Bestandskraft überbrücken ließe. Auch dafür sind keine ausreichenden Anhaltspunkte ersichtlich.
c) Schließlich erfordert auch das private Interesse der Antragstellerin nicht die Anordnung der sofortigen Vollziehung der
Sonderbedarfszulassung. Ihre schützenswerten Interessen werden durch die Versagung der Anordnung der sofortigen Vollziehung
nicht gravierend beeinträchtigt oder gar verletzt. Denn sie kann bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache ihre
vertragsärztliche Tätigkeit im Anstellungsverhältnis, wenn auch nur mit einem halben Versorgungsauftrag, fortsetzen. Es lässt
sich deshalb nicht feststellen, dass sie in ihrer beruflichen Existenz aus einem Grund gefährdet ist, der - anders als die
Tätigkeit mit einem halben Versorgungsauftrag - nicht in ihren Verantwortungsbereich fällt. Die vorgetragenen finanziellen
Einbußen wiegen deshalb nicht schwer genug, um abweichend vom gesetzlichen Regelfall die Anordnung der sofortigen Vollziehung
der Zulassungsentscheidung zu rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §
197a SGG i.V.m. §§
154 Abs.
1,
162 Abs.
3 VwGO und entspricht dem Ausgang in der Sache. Die Wertfestsetzung beruht auf §§ 52, 53 GKG und ist vom Senat auf der Grundlage der Angaben der Antragstellerin vorgenommen worden. Der Senat trägt bei der Wertfestsetzung
der Vorläufigkeit seiner Entscheidung dadurch Rechnung, dass nur der Jahresbetrag des erwarteten Honorars Berücksichtigung
findet. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (vgl. §
177 SGG).