Anspruch auf Versorgung mit einem elektronischen Sprachausgabesystem als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung
bei ALS; Wirtschaftlichkeit eines unmittelbaren Behinderungsausgleichs
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten für die Versorgung mit dem elektronischen Sprachausgabesystem "meine eigene Stimme"
(Preis: 2.600 Euro) sowie Kostenerstattung in Höhe von 600 Euro für die bereits erfolgte Aufzeichnung seiner eigenen Stimme.
Der im Jahre 1966 geborene Kläger leidet unter Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Die Krankheit wurde im Jahre 2004 bei ihm
festgestellt. Eine der vielen gravierenden Folgen der Erkrankung besteht in der Lähmung der Sprechmuskulatur mit der Folge
von Sprechstörungen bis hin zum völligen Verlust der eigenständigen Artikulationsmöglichkeit.
Mit Schreiben seines behandelnden Arztes Dr. T M, Oberarzt im CC für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie (ALS-Ambulanz
nach §
116 b SGB V), vom 26. Februar 2007, eingegangen bei der Beklagten am 28. August 2007, beantragte der Kläger die Übernahme der Kosten
für die Aufzeichnung seiner eigenen Stimme und für das elektronische Kommunikationsprogramm "meine eigene Stimme", das im
Falle des Stimmverlusts über entsprechende Hardware die apparativ vermittelte Artikulation des Klägers mittels seiner eigenen
Stimme ermöglicht. Herkömmliche Systeme ermöglichen lediglich die Artikulation mittels einer synthetischen Stimme.
Mit Bescheid vom 9. Oktober 2007, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 27. November 2007, lehnte die Beklagte die begehrte
Kostenübernahme ab. Eine Versorgung mit dem beantragten Produkt übersteige das Maß des Notwendigen. Eine Kommunikationshilfe
mit synthetischer Sprachausgabe sei im Sinne eines Basisausgleichs gegebenenfalls ausreichend.
Mit der am 20. Dezember 2007 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt.
Zu Beginn des Jahres 2008 hat der Kläger gegen Zahlung von 600 Euro seine Stimme vom Hersteller des Programms "meine eigene
Stimme" aufnehmen lassen, um sich die Möglichkeit zu erhalten, dieses Programm später nutzen zu können; insoweit begehrt er
nun Kostenerstattung. Seit dem Ende des Jahres 2008 ist der Kläger aufgrund eingetretenen Stimmverlusts auf ein Sprachausgabesystem
als Hilfsmittel zur Kommunikation angewiesen; das ihm von der Beklagten zur Verfügung gestellte Hilfsmittel funktioniert mit
einer synthetischen Stimme.
Der Kläger meint, weitestgehender Behinderungsausgleich sei nur mit dem Gebrauch der eigenen Stimme gewährleistet. Mit einer
synthetischen Stimme gehe die Individualität der Stimme sowie ein wichtiges Identifizierungsmerkmal verloren. Das allgemeine
Persönlichkeitsrecht schütze den Gebrauch der eigenen Stimme.
Das Sozialgericht Potsdam hat die Klage mit Urteil vom 21. April 2009 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Zum Zwecke des Behinderungsausgleichs sei die Versorgung mit einem herkömmlichen Sprachsystem ausreichend. Das Grundbedürfnis
nach Kommunikation könne so erfüllt werden. Eine Versorgung mit dem begehrten Sprachprogramm sei auch unwirtschaftlich, da
es naturgemäß nur einmal, nämlich beim Kläger, verwendet werden könne, anders als die herkömmlichen Kommunikationshilfen,
die von der Beklagten stets einer Wiederverwendung zugeführt würden.
Gegen das ihm am 12. Mai 2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11. Juni 2009 Berufung eingelegt und mit dieser (erstmals)
eine ärztliche Verordnung für das Programm "meine eigene Stimme" vom 10. Juni 2009 vorgelegt, ausgestellt vom behandelnden
Arzt Dr. T M, versehen mit dem Stempel der ALS-Ambulanz der C. Zur Begründung bringt er im Wesentlichen vor: Das Sozialgericht
habe das Gebot des möglichst weitgehenden Behinderungsausgleichs nicht berücksichtigt. Anzustreben sei ein Zustand, der dem
eines gesunden Menschen am nächsten komme. Seine Behinderung liege gerade im Verlust der eigenen Stimme. Ein weitestgehender
Ausgleich dieses Handicaps sei nur mit dem Gebrauch des begehrten Kommunikationsprogramms zu erzielen. Die begehrte Leistung
ziele auch auf ein Grundbedürfnis des Klägers. Seine Erkrankung führe zunehmend zum Verlust seiner körperlichen Funktionen.
Mit dem Gebrauch seiner eigenen Stimme könne er sich einen Teil seiner Identität bewahren. Die Nutzung der synthetischen Stimme
werde dagegen aufgrund ihrer Künstlichkeit oft vermieden, was mit einem Kommunikationsverlust einhergehe. Immerhin sei das
begehrte Programm im Hilfsmittelverzeichnis gelistet (Pos.-Nr. 16.99.06.3012). Viele andere gesetzliche Krankenkassen übernähmen
diese Leistung.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 21. April 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 2007 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 27. November 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm 600 Euro für die Aufzeichnung
seiner Stimme für das Kommunikationsprogramm "meine eigene Stimme" zu erstatten sowie ihn mit diesem Programm zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat sich vom Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung das von der Beklagten zur Verfügung gestellte Sprachausgabesystem
vorführen lassen sowie eine kurze Passage aus der Aufnahme seiner eigenen Stimme.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs
der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung
war.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger hat einen Anspruch
auf Versorgung mit dem Sprachausgabeprogramm "meine eigene Stimme" und auf Erstattung der Kosten für die bereits erfolgte
Aufzeichnung seiner eigenen Stimme.
Nach §
33 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (
SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die
im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder
eine Behinderung auszugleichen. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung
auch, müssen die Leistungen nach §
33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die
nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken
und die Krankenkassen nicht bewilligen (§
12 Abs.
1 SGB V).
Da mit dem elektronischen Sprachausgabesystem der Ausgleich der Behinderung erfolgen soll, indem das geschädigte, nicht mehr
funktionstüchtige Sprachorgan einschließlich der verloren gegangenen eigenen, individuellen Stimme durch technisch vermittelte
Sprache künstlich ersetzt wird, hat die Prüfung des Anspruchs anhand des §
33 Abs.
1 S. 1, dritte Alternative
SGB V zu erfolgen. Im Vordergrund steht daher der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion "Stimmgebrauch"
selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits,
und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung,
ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende
Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion
ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel
nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich
der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Die Wirtschaftlichkeit
eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen,
wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil
vom 25. Juni 2009, B 3 KR 2/08 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18 [Badeprothese]; Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 12 ff. [C-Leg]; Senat, Urteil vom 9. März 2011, L 9 KR 152/08, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18 [C-Leg]).
Hieran gemessen hat der Kläger Anspruch auf Versorgung mit dem Sprachprogramm "meine eigene Stimme", denn nur so erfolgt ein
weitestgehender Ausgleich des bestehenden Funktionsdefizits, das nicht nur im Verlust der sprachvermittelten Kommunikationsmöglichkeit
besteht, sondern gerade auch im Verlust der individuellen Stimme, die im Rahmen des Sprachgebrauchs einen eigenen messbaren
Wert und Nutzen hat. Der Einwand der Beklagten, der Kläger sei mit dem zur Verfügung gestellten Sprachausgabesystem und der
dort zum Einsatz kommenden synthetischen Stimme hinreichend versorgt, greift demgegenüber nicht. Diese synthetische Stimme
schöpft die Möglichkeit des "Gleichziehens" mit Nichtbehinderten nicht hinlänglich aus.
Der Kläger hat dem Senat das derzeit genutzte Sprachvermittlungssystem im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgeführt. Der
Senat konnte sich davon überzeugen, dass der Kläger sich mit Gebrauch dieses Systems sprachlich artikulieren kann; er bedient
dabei einen Laptop und gibt dort mit Hilfe einer über Infrarotsignale gesteuerten Maus Text ein, der über entsprechende Software
und Lautsprecher in Sprache umgesetzt wird. Die sprachliche Artikulation war klar vernehmbar. Die synthetische Stimme wirkte
zwar einigermaßen natürlich, gleichzeitig aber austauschbar und wenig individuell. Vorgeführt hat der Kläger dem Senat auch
einige wenige Textpassagen, die im Vorgriff auf die Nutzung des begehrten Systems "meine eigene Stimme" bereits mit seiner
eigenen Stimme abgespeichert waren. Diese Worte wirkten erheblich individueller artikuliert als jene mit der synthetischen
Stimme gesprochenen. Es war wahrnehmbar, dass hier ein authentischer, weniger künstlicher Tonfall vorlag. Die technisch vermittelte
eigene Stimme glich dabei der tatsächlichen eigenen Stimme des Klägers weitestgehend. Davon konnte der Senat sich überzeugen,
weil der Kläger teilweise auch noch in der Lage war, sich sehr mühevoll und langsam, aber verständlich und ohne technische
Hilfe zu äußern.
Dass die Funktionseinbuße, unter der der Kläger leidet, nicht schon vollständig und weitestmöglich mit der synthetischen Stimme
ausgeglichen ist, wird auch an Folgendem deutlich: Der Kläger hat erklärt, des Öfteren an Treffen von ALS-Kranken teilzunehmen,
bei denen dasselbe Sprachausgabesystem mit derselben synthetischen Stimme von verschiedenen Leidensgenossen benutzt werde,
so dass den Redebeiträgen jegliche individuelle Note fehle und zuweilen nicht feststellbar sei, wer etwas gesagt habe. Diese
Einlassung ist nachvollziehbar und belegt, dass für ein vollständiges Gleichziehen mit Nichtbehinderten nicht nur irgendeine
Sprachvermittlung, sondern nur eine solche basierend auf der eigenen Stimme des Versicherten den bestmöglichen Behinderungsausgleich
gewährleistet. Ebenso nachvollziehbar ist es, dass die beim Kläger vorliegende Funktionseinbuße bei Telefonaten nur dann vollständig
ausgeglichen ist, wenn der Gesprächspartner die eigene Stimme des Klägers und nicht nur eine synthetische vernimmt, denn am
Telefon ist der Gesprächspartner ausschließlich am Klang der eigenen Stimme zu identifizieren.
Nach alledem hat der Kläger Anspruch auf Versorgung mit diesem Sprachausgabesystem, das den neuesten technischen Fortschritt
verkörpert. Hieraus folgt zugleich, dass nach §
13 Abs.
3 SGB V 600 Euro im Wege der Erstattung verlangt werden können, denn die Kostenübernahme für die Aufzeichnung der eigenen Stimme
des Klägers hat die Beklagte zu Unrecht abgelehnt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG) zuzulassen.