Anspruch auf häusliche Krankenpflege in der gesetzlichen Krankenversicherung; Besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege
bei verordneter und durchgeführter Beatmungspflege; Anforderungen an die Kostenerstattung beim Unvermögen des Leistungsträgers
zur rechtzeitigen Leistungserbringung; Wesentlicher Unterhalt im Sinne der Sonderrechtsnachfolge
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten für Leistungen der häuslichen Krankenpflege.
Die Klägerin ist die Witwe und - aufgrund eines gemeinschaftlichen Testaments - Alleinerbin des 2009 verstorbenen W L, der
bei der Beklagten krankenversichert war. Der Zahlbetrag der dem Versicherten ab Juli 2008 ausgezahlte Altersrente betrug monatlich
960,77 Euro, das Nettoarbeitsentgelt der Klägerin belief sich auf 1.752,18 Euro.
Der Versicherte wurde aufgrund einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) viele Jahre in seinem Haushalt pflegerisch
versorgt. Aufgrund chronischer respiratorischer Insuffizienz wurden im Jahr 2008 mehrere Krankenhausaufenthalte erforderlich.
Während des letzten stationären Aufenthaltes vom 28. November bis 29. Dezember 2008 wurde bei dem Kläger am 12. Dezember 2008
eine Tracheotomie durchgeführt. In der Folgezeit gelang zwar keine dauerhafte Entwöhnung des Versicherten vom Respirator;
seit der Anpassung eines Heimbeatmungsgerätes am 22. Dezember 2008 ließ sich der Versicherte hierüber jedoch problemlos automatisch
beatmen. Ausweislich des Entlassungsberichtes ging das Krankenhaus von einem langfristigen partiellen Entwöhnungsversuch aus.
Noch während dieses stationären Aufenthalts reichte die Klägerin für ihren Ehemann am 19. Dezember 2008 bei der Beklagten
einen "Antrag auf vollstationäre Pflege" ein. Diesem war das ärztliche Gutachten des Krankenhausarztes Dr. L sowie die Einschätzung
einer Pflegekraft, jeweils vom 19. Dezember 2008, beigefügt. Eine Ärztin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung
Berlin-Brandenburg (MDK) bejahte am 23. Dezember 2008 in einer vorläufigen gutachterlichen Stellungnahme Pflegebedürftigkeit
im Sinne des
SGB XI.
Am 29. Dezember 2008 schlossen der Versicherte, vertreten durch die Klägerin, und das Zentrum für B und Ipflege GmbH (im Folgenden:
Pflegeeinrichtung) mit Wirkung vom selben Tage einen Heimvertrag ab, der u.a. Leistungen der Pflege, der medizinischen Behandlungspflege
und der medizinischen Rehabilitation vorsah. Die Entgelte für die in der Pflegeeinrichtung ausgeführten Leistungen sollten
sich grundsätzlich nach den Vereinbarungen richten, die zwischen der Pflegeeinrichtung und den öffentlichen Leistungsträgern
(Pflegekassen, Sozialhilfeträger) nach den einschlägigen Vorschriften des Sozialgesetzbuches/Elftes Buch (
SGB XI) und des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) vereinbart sind (§ 13 Abs. 1 Heimvertrag). Das vereinbarte tägliche Gesamtentgelt belief sich auf 237,10 Euro und setzte sich zusammen aus
- Kosten für Unterkunft und Verpflegung
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16,06 Euro
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- Pflegestufe I
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44,68 Euro
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- besonderer Zuschlag für Fachpflege Beatmung
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159,01 Euro
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- Investitionskosten Einzelzimmer
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17,35 Euro.
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Aufgrund einer Entgeltanpassungsklausel (§ 15 Heimvertrag) betrug 2009 der Beatmungszuschlag 160,28 Euro.
Mit Schreiben vom 06. Januar 2009, bei der Beklagten eingegangen am 08. Januar 2009, beantragte die Pflegeeinrichtung die
Übernahme der Kosten für die medizinische Behandlungspflege nach §
37 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (
SGB V). Bei dem Versicherten bestehe "ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege für mindestens 6 Monate (Überwachung
und Adaption der Beatmung, Trachealkanülenwechsel, Endotracheales Absaugen rund um die Uhr - unvorhersehbar -, Kontrolle der
Vitalparameter) der die Anwesenheit einer Pflegefachkraft am Tag und in der Nacht erforderlich" mache. Nach dem MDK-Gutachten
vom 27. Januar 2009 lag beim Versicherten seit Dezember 2008 Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe II vor.
Am 23. Februar 2009 ging bei der Beklagten die von der Pflegeeinrichtung übersandte und von der Allgemeinmedizinerin R am
29. Dezember 2008 ausgestellte Verordnung häuslicher Krankenpflege für den Versicherten, bezogen auf den Zeitraum 29. Dezember
2008 bis 28. Februar 2009, ein. Nach dieser Verordnung sollte die häusliche Krankenpflege, die statt Krankenhausbehandlung
und zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Behandlung erfolge, die Maßnahmen "24h Überwachung Beatmung, TK-Wechsel, Tracheostomapflege,
24h unvorhersehbares Absaugen, 24h O2 Überwachung, Med. Gabe nach Plan, Kontrolle Vitalparameter" umfassen. Als verordnungsrelevante
Diagnosen gab die Ärztin an: COPD FEV1 >=35% und <50%, chron. resp. Insuff., LZ-Beatmung, dysph. b. gebl. TK, Kachexie, CIP,
CIM, Pflegebedürftigkeit, Hypertonie, Presbyakusis beidseitig, Depression. Am 28. Februar 2009 wurde der Versicherte erneut
stationär in ein Krankenhaus aufgenommen und verstarb dort. Die Rechnungen der Pflegeeinrichtung vom 03. Februar und 30. März
2009 über 5.954,80 Euro bzw. 6.578,85 Euro beglich die Klägerin jeweils innerhalb einer Woche.
Nach einem von der Beklagten veranlassten sozialmedizinischen Gutachten des MDK vom 11. Mai 2009 lagen bei den in der Pflegeeinrichtung
erbrachten Leistungen die medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung aus mehreren Gründen nicht vor. Hierauf
gestützt teilte die Beklagte der Pflegeeinrichtung mit, dass eine Kostenübernahme nicht erfolgen könne (Schreiben vom 17.
Mai 2009). Nachdem die Klägerin hiergegen mit Schreiben vom 06. Mai 2010 "Widerspruch" eingelegt und das gemeinschaftliche
Testament der Eheleute vorgelegt hatte, lehnte die Beklagte mit - ebenfalls auf den 17. Mai 2009 datierten, am 02. September
2010 zugegangenen - Bescheid (im Folgenden: Bescheid vom 02. September 2010) sowie dem Widerspruchsbescheid vom 02. November
2010 die Kostenübernahme für Leistungen der häuslichen Krankenpflege ab, weil keine behandlungspflegerischen Maßnahmen in
Intensität oder Häufigkeit unvorhersehbar am Tag und in der Nacht erforderlich gewesen seien, die die ständige Anwesenheit
einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle oder ein vergleichbaren intensiven Einsatz einer Pflegefachkraft
notwendig gemacht hätten, und weil eine Behandlungspflege mit der Zielsetzung einer Beatmungsentwöhnung (sog. Weaning) durchgeführt
worden sei, welches "nicht Bestandteil der HKP Richtlinien" sei.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Erstattung der ihr für die Beatmungspflege in der Zeit vom 29. Dezember 2008 bis 28.
Februar 2009 in Rechnung gestellten Kosten geltend gemacht und diese auf 9.417,15 Euro beziffert. Das Sozialgericht hat die
fachpflegerische und sozialmedizinische Stellungnahme des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen
e.V. (MDS) vom 09. September 2008 zum Thema "Häusliche Krankenpflege in stationären Pflegeeinrichtungen gemäß §
37 Abs.
2 SGB V" beigezogen.
Mit Urteil vom 21. September 2011 hat das Sozialgericht die Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, an die
Klägerin 9.417,15 Euro zu zahlen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt: Die Klägerin sei Sonderrechtsnachfolgerin
des Versicherten hinsichtlich des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs. Dessen Voraussetzungen lägen vor. Es handele
sich um eine unaufschiebbare Leistung und der Versicherte bzw. die Klägerin (als dessen Vertreterin) hätten alles Mögliche
und Zumutbare getan, um eine rechtzeitige Entscheidung der Beklagten zu ermöglichen. Ab dem 29. Dezember 2008 sei die Leistungserbringung
aus medizinischer Sicht so dringlich gewesen, dass keine Möglichkeit eines nennenswerten zeitlichen Aufschubs bis zu einer
Entscheidung der Krankenkasse mehr bestanden habe, weil mit der Entlassung des Versicherten aus dem Krankenhaus umgehend die
stationäre Pflege des Versicherten erforderlich gewesen sei. Mit dem bereits am 19. Dezember 2008 gestellten Antrag auf vollstationäre
Pflege hätten der Beklagten das Leistungsbegehren sowie alle erforderlichen Informationen für die Prüfung einer Leistungspflicht
nicht nur nach §
43 SGB XI, sondern auch nach §
37 Abs.
2 Satz 3
SGB V vorgelegen. Eine vertragsärztliche Verordnung über Behandlungspflege habe zwar noch nicht am 19. Dezember 2008, wohl aber
zu Beginn der Leistung am 29. Dezember 2008 vorgelegen. Da die Beklagte bereits mit dem Leistungsbegehren befasst gewesen
sei, sei es ihre Aufgabe im Rahmen der Aufklärungspflicht nach §
13 Sozialgesetzbuch/Erstes Buch (
SGB I) gewesen, auf die rechtzeitige Beibringung der erforderlichen ärztlichen Verordnung hinzuwirken. Sie könne nicht dadurch
von ihrer Leistungspflicht befreit sein, dass sie den Antrag sehr verspätet bearbeite und sich dann darauf berufe, die erforderlichen
Unterlagen hätten nicht rechtzeitig vorgelegen.
Dem Versicherten habe in der Zeit vom 29. Dezember 2008 bis zum 28. Februar 2009 ein Anspruch auf Behandlungspflege nach §
37 Abs.
2 Satz 3
SGB V zugestanden. Wann ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege vorliege, habe der Gemeinsame Bundesausschuss
(GBA) in seinen auf der Grundlage von §
37 Abs.
6 SGB V erlassenen Richtlinien über die Verordnung von Häuslicher Krankenpflege (HKP-RL), dort § 1 Abs. 7 Satz 3, näher konkretisiert.
Entgegen der Ansicht der Beklagten sei das Erfordernis einer ständigen Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen
Kontrolle und Einsatzbereitschaft oder ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft nicht dahingehend auszulegen,
dass die ständige Anwesenheit einer Pflegefachkraft in unmittelbarer Nähe des Versicherten erforderlich sei. Dies ergebe sich
aus dem Wortlaut und der Systematik der Regelungen, dem Willen des GBA sowie dem Zweck der Vorschrift, wie er auch in der
Gesetzesbegründung zum Ausdruck komme. Ein besonders hoher Pflegebedarf könne nicht allein deshalb verneint werden, weil in
einer speziell ausgestatteten Intensiv- bzw. Beatmungspflegeeinrichtung aufgrund technischer Überwachungsmöglichkeiten - wie
auch in der Stellungnahme des MDS bestätigt - die ständige Anwesenheit am Bett des Patienten nicht erforderlich sei. Beatmungspatienten
würden nach der Gesetzesbegründung, die Bedienung und Überwachung eines Beatmungsgerätes nach den HKP-RL als Regelfälle eines
besonders hohen Behandlungspflegebedarfs gewertet. Auch aus dem Rahmenvertrag gemäß §
75 Abs.
1 und
2 SGB XI zur vollstationären Pflege im Land Berlin ergäben sich besonders hohe personelle und technische Anforderungen für Pflegeeinrichtungen
zur Betreuung von langzeitbeatmeten Pflegebedürftigen. Die von der Beklagten favorisierte Auslegung von §
37 Abs.
2 Satz 3
SGB V laufe der Intention des Gesetzgebers evident zuwider. Von einem besonders hohen Behandlungspflegebedarf sei daher dann auszugehen,
wenn der Pflegebedarf über den in einer Pflegeeinrichtung üblichen Rahmen deutlich hinaus gehe und hierdurch für den Versicherten
gegenüber dem nach der entsprechenden Pflegestufe gedeckelten Betrag deutlich höhere Kosten entstünden. Dies sei insbesondere
dann der Fall, wenn der schwerstpflegebedürftige Versicherte in einem Heim lebe, das sich konzeptionell auf einen Personenkreis
mit außergewöhnlich hohem Behandlungspflegebedarf spezialisiert habe und deshalb einen Pflegesatz deutlich über den Pflegesätzen
der Pflegekasse berechne. Wie sich aus der Stellungnahme des MDS ergebe, werde für die Behandlungspflege in einer stationären
Einrichtung von einem durchschnittlichen zeitlichen Aufwand zwischen 6,7 und 11 Minuten ausgegangen, während bei einem tracheotomierten
und dauerbeatmeten Patienten - auch wenn insoweit ein Wachkomapatient zugrunde gelegt werde - für die Behandlungspflege ca.
100 bis 150 Minuten zzgl. der nicht quantifizierbaren dauerhaften Kontrolle der Sauerstoffsättigung mittels Monitor und der
Sauerstoffgabe erforderlich seien. Die meisten der in der MDS-Stellungnahme aufgeführten behandlungspflegerischen Maßnahmen
dürften ausweislich des MDK-Gutachtens und der Pflegedokumentation auch im vorliegenden Fall angefallen sein.
Der besonders hohe Pflegebedarf habe auch auf Dauer bestanden. Im Rahmen der erforderlichen vorausschauenden Behandlungsweise
sei nicht bereits bei Aufnahme in die Pflegeeinrichtung davon auszugehen gewesen, dass der Versicherte nur noch zwei Monate
zu leben habe. Unerheblich sei, dass nach Ansicht der Beklagten und des MDK im streitgegenständlichen Zeitraum in der Pflegeeinrichtung
auch ein Weaning durchgeführt worden sei, welches der akutmedizinischen Behandlung zuzurechnen und daher im Krankenhaus durchzuführen
sei. Indes stehe die Notwendigkeit einer stationären Behandlung einem Anspruch auf häusliche Krankenpflege auch in einer Pflegeeinrichtung
nicht grundsätzlich entgegen. Denn gemäß §
37 Abs.
1 SGB V werde häusliche Krankenpflege auch dann gewährt, wenn Krankenhausbehandlung geboten, aber nicht ausführbar sei, oder wenn
sie durch häusliche Krankenpflege vermieden oder verkürzt werde. Hierin komme die Wertung zum Ausdruck, dass die häusliche
Krankenpflege - wenn möglich - eine aufwändige stationäre Behandlung ersetzen solle. Auch wenn spezielle Intensivpflegeeinrichtungen
über eine aufwendige personelle und technische Ausstattung verfügten, dürfte der Aufenthalt dort in jedem Fall noch deutlich
preiswerter sein als ein dauerhafter Aufenthalt im Krankenhaus, zumal wenn dieser - wie vorliegend jedenfalls bis zum 28.
Dezember 2008 - auf einer Intensivstation erfolge. Der Einwand, dass die in einer Beatmungspflegeeinrichtung tätigen Pflegefachkräfte
für die Durchführung des Weaning nicht ausreichend qualifiziert seien, betreffe im Übrigen nur die Durchführung des Weaning
selbst, nicht aber die übrigen behandlungspflegerischen Maßnahmen. Schließlich sei vorliegend darauf hinzuweisen, dass das
Krankenhaus nach den glaubhaften Angaben der Klägerin auf eine Beendigung des stationären Aufenthalts gedrängt habe und die
Beklagte bzw. die Pflegekasse die vollstationäre Pflege nach §
43 SGB XI auch bewilligt habe.
Gegen dieses ihr am 28. September 2011 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 26. Oktober 2011, die
sie wie folgt begründet: Weil die vom Sozialgericht herangezogene Stellungnahme des MDS vom 09. September 2008 ihr erst in
der mündlichen Verhandlung ausgehändigt worden sei, leide das Urteil insofern an einem schweren Begründungsmangel, als diese
Stellungnahme zum einen unveröffentlicht und zum anderen durch die spätere Stellungnahme vom 05. Februar 2009 überholt gewesen
sei. Im Übrigen werde auf das MDK-Gutachten vom 17. November 2011 verwiesen. Nach diesem Gutachten sei die Beatmungstherapie
eine originär ärztliche Aufgabe und eine Entlassung mit dem Ziel, den Weaningprozess in der Häuslichkeit, in einer ambulanten
oder stationären Betreuungseinrichtung fortzuführen, obsolet. Da nach den HKP-RL in der zuletzt am 15. April 2010 geänderten
Fassung u.a. Maßnahmen der ärztlichen Therapie nicht als häusliche Krankenpflege verordnungsfähig seien, sei eine Behandlungspflege
mit der Zielsetzung der Beatmungsgeräteentwöhnung nicht Bestandteil der HKP-RL. In der Pflegedokumentation für die Zeit vom
01. Januar bis 26. Februar 2009 sei keine unvorhersehbare - nicht planbare - behandlungspflegerische Maßnahme dokumentiert.
Auf der Grundlage der vorliegenden Informationen sei nicht nachvollziehbar, dass "behandlungspflegerische Maßnahmen in ihrer
Intensität oder Häufigkeit unvorhersehbar am Tag und in der Nacht erfolgen" mussten. Nach der S2-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft
für Pneumologie ("Nicht invasive und invasive Beatmung als Therapie der chronischen respiratorischen Insuffizienz") seien
bei permanenter Beatmung die Beatmungsparameter und -messwerte kontinuierlich, mindestens einmal pro Schicht, zu überwachen
und bedarfsgerecht zu dokumentieren. Die Voraussetzung für die in der MDS-Stellungnahme vom 05. Februar 2009 umschriebenen
Fälle eines "besonders hohen Bedarfs" lägen nach der Pflegedokumentation nicht vor. Da der Versicherte sich häufig gemeldet
habe, um abgesaugt zu werden, hätten keine schweren Beeinträchtigungen des Bewusstseins und der motorischen Fähigkeiten vorgelegen.
Nach übereinstimmenden Äußerungen des GKV-Spitzenverbandes und des Bundesministeriums für Gesundheit im Februar und April
2009 sei das Kriterium der Unvorhersehbarkeit der Maßnahmen nicht explizit Anspruchsvoraussetzung, sondern beschreibe nur
eine mögliche Fallgestaltung näher. Entscheidend komme es darauf an, dass die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft
zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft oder ein vergleichsweise intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft erforderlich
sei. Diese Voraussetzungen lägen nach nochmaliger gründlicher Prüfung der Unterlagen nicht vor, etwas anderes gelte nur für
den 27. und 28. Februar 2009, an denen es zu unvorhersehbaren Krampfanfällen gekommen sei, die einen intensiven behandlungspflegerischen
Einsatz des Pflegepersonals begründet und in der Folge zur stationären Aufnahme des Versicherten geführt hätten.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. September 2011aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte
sowie die beigezogenen Verwaltungsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Zahlungsanspruch der Klägerin insgesamt
bejaht. Die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte lagen nur für die Zeit vom 23. bis 28.
Februar 2009 vor. Im darüber hinausgehenden Umfang ist die Klage unbegründet.
I. Die Klägerin ist als Sonderrechtsnachfolgerin des Versicherten Inhaberin des Kostenerstattungsanspruchs. Dieser stand dem
Versicherten bis zum seinem Tod als Surrogat des von der Beklagten nicht erfüllten Sachleistungsanspruchs (hierzu unter II.)
zu.
Gemäß §
56 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB I stehen fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen beim Tod des Berechtigten zunächst dem Ehegatten zu, wenn er mit dem
Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat oder von ihm wesentlich unterhalten worden ist.
Ein Kostenerstattungsanspruch, der als Surrogat eines auf laufende Leistungen der häuslichen Krankenpflege gerichteten Sachleistungsanspruch
entstanden ist, zählt zu den Ansprüchen auf laufende Geldleistungen (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 03. Juli 2012 - B 1 KR 6/11 R -, juris, mit dem Hinweis, dass der 3. Senat des BSG seine abweichende Auffassung auf Anfrage aufgegeben habe).
Ob die Klägerin mit dem Versicherten zuletzt in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat, kann der Senat offen lassen. Denn sie
wurde jedenfalls von ihm "wesentlich" unterhalten. Was unter diesem Begriff zu verstehen ist, erläutert das Gesetz nicht.
Das Tatbestandsmerkmal "überwiegend unterhalten" in §
56 Abs.
4 SGB I erlaubt jedoch den Rückschluss, dass ein "wesentlicher" Unterhalt auch unterhalb der 50%-Grenze vorliegen kann (a.A. Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Juli 2008 - L 27 SF 12/08 -, juris). Auf der anderen Seite können schon begrifflich geringfügige, nur unerhebliche Unterhaltsleistungen nicht "wesentlich"
i.S.v. §
56 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB I sein. Mit der überwiegenden Auffassung in der Literatur (Mrozynski, Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil, 4.A., §
56 Rd. 24; Merten, in: Eichenhofer/Wenner, Kommentar zum
Sozialgesetzbuch I, IV; X, §
56 SGB I, Rd. 19; Lebich, in: Hauck/Noftz,
SGB I, §
56 Rd. 8; Krauskopf/Baier, Gesetzliche Krankenversicherung Pflegeversicherung, §
56 SGB I, Rd. 24; Gutzler, in: Beck'scher Onlinekommentar, Stand 1. März 2014,
SGB I §
56 Rd. 9-10; Hänlein, in: Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 3.A., §
56 SGB I, Rd. 11) geht der Senat daher davon aus, dass im Anschluss an die Rechtsprechung des BSG (BSGE 21, 155 zum früheren Kindergeldgesetz) ein Unterhalt zumindest ab einem Anteil von 25 % "nicht unerheblich" ist. Darüber hinaus stellt
der Senat bei Eheleuten auf die beiden Ehegatten zur Verfügung stehenden laufenden Einkünfte ab, weil er in typisierender
Betrachtung davon ausgeht, dass innerhalb einer Ehe alle Einkünfte zum Bestreiten des Unterhalts verwendet werden.
Unter diesen Prämissen trägt die vom Versicherten bezogene Rente i.H.v. 960,77 Eurowesentlich zum (Gesamt-)Unterhalt der Eheleute
i.H.v. 2.712,95 Euro dar, denn sie überschreitet einen Anteil von 1/3. Dass weitere nennenswerte Einkünfte für den Unterhalt
der Eheleute zur Verfügung standen, ist nicht ersichtlich.
II. Auf der Grundlage von §
13 Abs.
3 Satz 1
SGB V steht der Klägerin nur teilweise ein Anspruch auf Erstattung derjenigen Kosten zu, die ihr für die Beatmung des Versicherten
in der Zeit vom 29. Dezember 2008 bis 28. Februar 2009 in Rechnung gestellt wurden. Nach §
13 Abs.
3 Satz 1
SGB V sind, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (1. Alt.) oder sie eine Leistung
zu Unrecht abgelehnt hat (2. Alt.) und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese
von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Zwar bestand ein - auch im
Rahmen der Kostenerstattung nach §
13 Abs.
3 SGB V erforderlicher - (primärer) Sachleistungsanspruch für den gesamten streitigen Zeitraum (hierzu unter 1.). Die weiteren Voraussetzungen
für eine Kostenerstattung liegen indes nur teilweise vor (hierzu unter 2.).
1. Der Versicherte hatte für die Zeit vom 29. Dezember 2008 bis 28. Februar 2009 gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf
häusliche Krankenpflege.
a. Rechtsgrundlage ist insoweit §
37 Abs.
2 SGB V. Nach dessen Satz 1 erhalten Versicherte in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere
in betreuten Wohnformen, Schulen und Kindergärten, bei besonders hohem Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen
als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist;
der Anspruch umfasst verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen auch in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf
bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§
14 und
15 SGB XI zu berücksichtigen ist. Der Anspruch nach Satz 1 besteht über die dort genannten Fälle hinaus ausnahmsweise auch für solche
Versicherte in zugelassenen Pflegeeinrichtungen im Sinne des §
43 SGB XI, die auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, einen besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege
haben (§
37 Abs.
2 Satz 3
SGB V, eingefügt m.W.z. 1. April 2007 durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG - vom 26. März 2007). Als Ziel dieser Gesetzesänderung wird in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/3100, S. 105) angegeben:
"Für besondere, eng begrenzte Personengruppen mit besonders hohem Versorgungsbedarf (z.B. Wachkomapatienten, Dauerbeatmete)
regelt Abs. 2 Satz 2 [im Laufe des Gesetzgebungsverfahren wurde daraus Satz 3] die Übernahme der Kosten für die Behandlungspflege
durch die Krankenkassen, die nach § 132a Abs. 2 Verträge mit den Pflegeeinrichtungen zu schließen haben. Für diese Personen
fallen im Rahmen der vollstationären Dauerpflegeversorgung (§
43 SGB XI) sehr hohe Kosten für den behandlungspflegerischen Aufwand an. Da diese bisher von der Pflegeversicherung nur im Rahmen ihrer
gedeckelten Leistungsbeträge übernommen wurden, verblieben bei den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen sehr hohe Eigenanteile,
die sehr häufig die Finanzkraft der Betroffenen überforderten und zu Sozialhilfeabhängigkeit führte."
Zur Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben sah der GBA in seinen auf §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
6, Abs.
7 SGB V gestützten HKP-RL unter Nr. 6 Abs. 3 vor:
"Eine Verordnung von Behandlungspflege ist auch für Versicherte in Pflegeheimen zulässig, die auf Dauer, voraussichtlich für
mindestens 6 Monate, einen besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege haben (§
37 Abs.
2 S. 3
SGB V). Dies ist der Fall, wenn die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft
oder ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft erforderlich ist, insbesondere weil
- behandlungspflegerische Maßnahmen in ihrer Intensität oder Häufigkeit unvorhersehbar am Tag und in der Nacht erfolgen müssen
oder
- die Bedienung und Überwachung eines Beatmungsgerätes im Sinne der Nr. 8 der Anlage am Tag und in der Nacht erforderlich
ist."
Zu den verordnungsfähigen Leistungen der häuslichen Krankenpflege zählen nach Nr. 6 (erster Spiegelstrich), 8 und 29 der Anlage
zu den HKP-RL auch:
"6. Absaugen der oberen Luftweg
Bei hochgradiger Einschränkung der Fähigkeit zum Abhusten/der bronchialen Selbstreinigungsmechanismen z.B. bei schwerer Emphysembronchitis,
Aids, Mukoviszidose, beatmeten Patienten."
"8. Bedienung und Überwachung des Beatmungsgeräts
Anpassung und Überprüfung der Einstellungen des Beatmungsgerätes an Vitalparameter (z.B. Atemgase, Herzfrequenz, Blutdruck)
auf Anordnung des Arztes bei beatmungspflichtigen Erkrankungen (z.B. hohe Querschnittslähmung, Zustand nach Schädel-Hirntrauma);
Überprüfung der Funktionen des Beatmungsgerätes, ggf. Austausch bestimmter Teile des Gerätes (z.B. Beatmungsschläuche, Kaskaden,
O2-Zellen)."
"29. Wechsel und Pflege der Trachealkanüle
Herausnahme der liegenden Trachealkanüle, Reinigung und Pflege, ggf. Behandlung des Stomas, Einsetzen und Fixieren der neuen
Trachealkanüle, Reinigung der entnommenen Trachealkanüle."
b. Diesen Anforderungen werden die dem Versicherten am 29. Dezember 2008 verordneten Leistungen der häuslichen Krankenpflege
gerecht.
aa. Die am 29. Dezember 2008 verordneten Einzelmaßnahmen "24h Überwachung Beatmung", "24h O2 Überwachung" und "Kontrolle Vitalparameter"
sind Nr. 8 der o.g. Anlage, "TK-Wechsel" (= Trachealkanülen-Wechsel) und "Tracheostomapflege" Nr. 29 der Anlage, "24h unvorhersehbares
Absaugen" Nr. 6 der Anlage und die Medikamentengabe nach Plan Nr. 26 der Anlage zuzuordnen. Allerdings waren für den Kläger
als Pflegeheimbewohner (§
43 SGB XI) andere als die in §
6 Abs.
3 HKP-RL genannten Maßnahmen gemäß § 6 Abs. 1 HKP-RL nicht verordnungsfähig. Dies ist indes unschädlich, da mit der Klage andere
als die in Nr. 8 der Anlage genannten Leistungen nicht geltend gemacht werden. Die zugrunde liegenden Rechnungsbeträge ("Zulage
Beatmung") beziehen sich offenkundig nur auf Beatmungsmaßnahmen i.S.v. Nr. 8 der o.g. Anlage.
bb. Zutreffend hat das Sozialgericht in der verordneten und durchgeführten Beatmungspflege einen besonders hohen Bedarf an
medizinischer Behandlungspflege gesehen. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat gemäß §
153 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auf die überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts. Das Berufungsvorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung.
(1) Soweit die Beklagte rügt, das Sozialgericht habe sich auf die überholte Stellungnahme des MDS vom September 2008 gestützt,
verkennt sie, dass die aus ihrer Sicht heranzuziehende spätere Stellungnahme vom Februar 2009 frühestens ab dem (dem Senat
nicht bekannten) Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung beachtlich sein könnte. Denn allgemein können für die Beurteilung medizinischer
Fragen nur Veröffentlichungen Berücksichtigung finden, die zum maßgeblichen Zeitpunkt - hier: 28. Dezember 2008 bis 29. Februar
2009 - bereits allgemein zugänglich waren. Somit müssen auch die weiteren vom MDK in seinem Gutachten vom 17. November2011
erwähnten Publikationen - die erstmals im Dezember 2009 veröffentlichte S2-Leitlinie sowie die aus dem Jahre 2011 stammenden,
u.a. unter Mitwirkung des MDS erstellten "Durchführungsempfehlungen zur invasiven außerklinischen Beatmung" - außer Betracht
bleiben.
(2) Die Beklagte hat auch verkannt, dass über Sachleistungsansprüche der Versicherten grundsätzlich aufgrund einer vorausschauenden
Betrachtung zu entscheiden ist. Erkenntnisse, die die Krankenkasse oder für sie der MDK erst anhand von Unterlagen über die
Leistungserbringung, z.B. der Pflegedokumentation, erlangen, stehen daher nicht dem Sachleistungsanspruch des Versicherten,
sondern allenfalls dem Vergütungsanspruch des Leistungserbringers entgegen. Unzulässig ist es demnach zum einen, die Erforderlichkeit
der ständigen Anwesenheit einer Pflegefachkraft mit Hilfe der Pflegedokumentation abzulehnen. Zum anderen stehen dokumentierte,
vom Leistungserbringer ggf. eigenmächtig eingeleitete Beatmungsentwöhnungsversuche (Weaning) dem Sachleistungsanspruch nicht
entgegen, solange sich - wie hier - keine Anhaltspunkte dafür finden, dass die Beatmungspflege mit dem Ziel der (kurzfristigen)
Entwöhnung ärztlich verordnet wurde.
(3) Was die weiteren Einwände zu dem nach Ansicht des MDK außerhalb der akutmedizinischen Krankenhausbehandlung unzulässigen
Weaning betrifft, sei zunächst darauf hingewiesen, dass weder dem Wortlaut der HKP-RL noch den Tragenden Gründen zum Beschluss
des GBA vom 17. Januar 2008 (veröffentlicht auf der Website des GBA, www.g-ba.de) eine diesbezügliche Einschränkung zu entnehmen
ist. Im Übrigen hat das Sozialgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass die Notwendigkeit stationärer Krankenhausbehandlung
Ansprüchen auf häusliche Krankenpflege nicht generell entgegensteht. Dies wurde von der Beklagten im Berufungsverfahren nicht
ansatzweise in Zweifel gezogen.
2. Die sonstigen - formellen - Anforderungen an einen Kostenerstattungsanspruch nach §
13 Abs.
3 Satz 1
SGB V liegen jedoch nur teilweise vor. Zu Recht ist das Sozialgericht zwar davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen der zweiten
Alternative dieser Vorschrift schon deshalb nicht vorliegen, weil sämtliche geltend gemachten Kosten vor der Leistungsablehnung
der Beklagten gegenüber der Klägerin (Bescheid vom 2. September 2010) und deshalb nicht "dadurch" entstanden sind. Die Voraussetzungen
der 1. Alt. sind nur für einen kurzen Teilzeitraum (23. bis 28. Februar 2009) dem Grunde nach gegeben.
a. Ein Kostenerstattungsanspruch gründet nur dann auf dem Unvermögen der Krankenkasse zur rechtzeitigen Erbringung einer unaufschiebbaren
Leistung (§
13 Abs.
3 Satz 1, 1. Alt.
SGB V), wenn es dem Versicherten - aus medizinischen oder anderen Gründen - nicht möglich oder nicht zuzumuten war, vor der Beschaffung
die Krankenkasse einzuschalten (BSG, Urteile vom 18. Juli 2006 - B 1 KR 9/05 R - und vom 25. September 2000 - B 1 KR 5/99 R -, Beschluss vom 10. Januar 2005 - B 1 KR 69/03 B -, juris). Dies ist der Fall, wenn eine Leistungserbringung im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Durchführung so dringlich ist,
dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten zeitlichen Aufschubs bis zur Entscheidung der Krankenkasse
mehr besteht. Die Norm erfasst allerdings nicht Notfälle im Sinne des §
76 Abs.
1 Satz 2
SGB V, bei denen ein unvermittelt aufgetretener Behandlungsbedarf sofort befriedigt werden muss. Sie knüpft an die Regel an, dass
Versicherte ihrer Krankenkasse vor Selbstbeschaffung einer Leistung ermöglichen müssen zu prüfen, ob ihre Leistungspflicht
besteht (BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 8/06 R -, juris). Diesen Anforderungen wurde der Versicherte erst ab dem 23. Februar 2009 gerecht.
aa. Allerdings ist zwischen den Beteiligten zu Recht nicht umstritten, dass die vom Versicherten begehrte Leistung (künstliche
Beatmung) durchgängig, d.h. auch schon bei Aufnahme in die Pflegeeinrichtung und während der gesamten stationären Pflege,
aus medizinischen Gründen erforderlich und daher unaufschiebbar war.
bb. Die Klägerin hat mit Recht nicht eingewandt, dem Versicherten sei eine Einschaltung der Beklagten nicht möglich oder zumutbar
gewesen. Die ärztliche Verordnung der streitgegenständlichen Beatmungspflege stammt vom 29. Dezember 2008, mithin dem Tag,
an dem der Versicherte in die Pflegeeinrichtung aufgenommen wurde. Welche Gründe einer sofortigen Übermittlung dieser Verordnung
per Telefax an die Beklagte entgegen gestanden haben könnten, ist nicht ersichtlich. Da der Versicherte sich für die weitere
Klärung seines Anspruchs der Hilfe der Pflegeeinrichtung bedient hat, ist nicht erkennbar, warum diese nicht schon am Aufnahmetag
der Beklagten die Verordnung per Telefax übermittelt hat.
cc. Der Versicherte hat nicht alles ihm Zumutbare unternommen, um der Beklagten eine Prüfung des Anspruchs auf Beatmungspflege
zu ermöglichen.
(1) Zutreffend hat das Sozialgericht gewürdigt, dass die Beklagte schon seit dem 19. Dezember 2008 (Freitag), somit 10 Tage
vor Aufnahme in die Pflegeeinrichtung, durch den Antrag auf vollstationäre Pflege und das beigefügte Gutachten des Krankenhausarztes
Dr. Lang darüber informiert war, dass der Versicherte wegen der Beatmungspflichtigkeit auf Beatmungspflege angewiesen war.
Sie hat auch angemessen reagiert, indem sie unverzüglich die dann am zweiten darauffolgenden Werktag verfasste Stellungnahme
des MDK vom 23. Dezember 2008 (Dienstag) veranlasst hat. Allerdings hat der Versicherte am 19. Dezember 2008, auch wenn man
seinen "Antrag auf vollstationäre Pflege" zugleich als auf §
37 Abs.
2 SGB V gestützten Antrag auf Beatmungspflege ansieht, der Beklagten nicht alle Informationen übermittelt, die diese zur Prüfung
des Anspruchs auf häusliche Krankenpflege benötigt.
(2) In diesem Zusammenhang kann auf sich beruhen, ob im vorliegenden Fall die Beklagte wegen der darin enthaltenen Informationen
zum Gesundheitszustand des Versicherten auf die Vorlage der vertragsärztlichen Verordnung vom 29. Dezember 2008 angewiesen
war. Denn spätestens seit dem 6. Januar 2009 waren ihr alle wesentlichen Umstände bekannt: einerseits zur Beatmungspflichtigkeit
sowie den sie begründende Diagnosen und Befunden aufgrund des ärztlichen Gutachtens vom 19. Dezember 2008 und andererseits
zum Umfang der Beatmungspflege ("Überwachung und Adaption der Beatmung, Trachealkanülenwechsel, endotracheales Absaugen rund
um die Uhr - unvorhersehbar -, Kontrolle der Vitalparameter") aufgrund des Schreibens der Pflegeeinrichtung vom 4. Januar
2009.
(3) Jedenfalls ist auch bei unaufschiebbaren Leistungen die vorhandene (vertrags-)ärztliche Verordnung regelmäßig schon deshalb
dem Leistungsantrag beizufügen, weil erst durch sie der Sachleistungsanspruch des Versicherten konkretisiert (BSG, Urteile vom 13. Dezember 2011 - B 1 KR 9/11 R - [Rd. 21], vom 28. September 2010 - B 1 KR 3/10 R -, vom 17. Dezember 2009 - B 3 KR 13/08 R -; grundlegend zum Rechtskonkretisierungskonzept des
SGB V: BSG, Urteil vom 16. Dezember 1993 - 4 RK 5/92 -; jeweils juris) und somit zum Entstehen gebracht wird. Sie schafft eine Grundlage dafür, dass Versicherte mit Naturalleistungen
der gesetzlichen Krankenversicherung (§
2 Abs.
2 Satz 1
SGB V) auf Kosten der Krankenkassen versorgt werden (BSG, Urteil vom 13. September 2011 - B 1 KR 23/10 R -, juris). Ohne Vorlage der Verordnung darf die mit einer unaufschiebbaren Leistung konfrontierte Krankenkasse regelmäßig
davon ausgehen, dass ein Sachleistungsanspruch bereits wegen Außerachtlassens des Arztvorbehalts (§
15 Abs.1
SGB V) nicht besteht. Damit wird den Versicherten nicht Unzumutbares auferlegt. Gerade in Fällen wie dem vorliegenden, in denen
Versicherte nahtlos im Anschluss an eine stationäre Behandlung - oftmals erstmalig - häusliche Krankenpflege benötigen, kann
ihr Sachleistungsantrag ohne nennenswerten zusätzlichen Aufwand mit der Vorlage der erforderlichen ärztlichen Verordnung verbunden
werden, etwa wenn der Antrag persönlich einem Mitarbeiter der Krankenkasse übergeben oder er per Telefax übermittelt wird.
Selbst bei telefonischer Antragstellung können die wesentlichen Verordnungsdaten zunächst mündlich weitergegeben werden.
(4) Selbst wenn die Obliegenheit der Versicherten, der Krankenkasse auch bei unaufschiebbaren Leistungen mit dem Antrag auch
zugleich die ärztliche Verordnung zu übermitteln, als unzumutbar eingestuft würde, gälte im vorliegenden Fall nichts anderes.
Denn der GBA hat den in solchen Lebenssituationen auftretenden besonderen Belastungen der Versicherten und ihrer Angehörigen
durch Nr. 26 HKP-RL (in der in den Jahren 2008 und 2009 geltenden, hier maßgeblichen Fassung - alte Fassung [aF]) Rechnung
getragen. Danach übernimmt die Krankenkasse bis zur Entscheidung über die Genehmigung die Kosten für die vom Vertragsarzt
verordneten und vom Pflegedienst erbrachten Leistungen entsprechend der vereinbarten Vergütung nach §
132a Abs.
2 SGB V, wenn die Verordnung spätestens an dem dritten der Ausstellung folgenden Arbeitstag der Krankenkasse vorgelegt wird. Das
Nähere regeln die Partner der Rahmenempfehlungen nach §
132a Abs.
1 SGB V. Weil der Versicherte aber nicht einmal - entsprechend dieser Regelung - die ärztliche Verordnung vom 29. Dezember 2008 bis
zum dritten darauf folgenden Arbeitstag, d.h. bis zum 2. Januar 2009, der Beklagten vorgelegt hat, ist der Vorhalt, er habe
nicht alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen, berechtigt.
(5) Die Klägerin kann sich weder darauf berufen, sie habe darauf vertrauen dürfen, die Pflegeeinrichtung werde alles insoweit
Erforderliche veranlassen, noch, dass sie mit der Übergabe der ärztlichen Verordnung an die Pflegeeinrichtung alles ihr Mögliche
und Zumutbare unternommen habe. Wenn Versicherte sich Dritter, z.B. Verwandten oder Leistungserbringern, bedienen, um ihre
Pflichten und Obliegenheiten gegenüber der Krankenkasse zu erfüllen, müssen sie sich auch Versäumnisse und Fehlverhalten dieser
Dritten zurechnen lassen. Denn nicht die Krankenkasse, sondern die Versicherten haben im Einzelfall die jeweiligen Dritten
ausgewählt. Führen deren Versäumnisse und Fehlverhalten zu finanziellen Schäden der Versicherten, sind diese ggf. durch Schadensersatzansprüche
aus dem zugrunde liegenden Dienst- oder Auftragsverhältnis (§§ 611ff, 662ff
BGB) vor bleibenden Nachteilen geschützt. Würden Versäumnisse und Fehlverhalten dieser Dritten hingegen der Krankenkasse zugerechnet,
stehen dieser typischerweise keine Rückgriffsansprüche gegen die Dritten zu. Im vorliegenden Fall etwa wäre - ungeachtet einer
möglichen Verjährung - an einen Anspruch der Klägerin gegen die Pflegeeinrichtung auf Rückzahlung des Entgelts für die Beatmungspflege
wegen Verletzung einer Nebenpflicht - erheblich verspätetes Einreichen der ärztlichen Verordnung bei der Beklagten - zu denken.
b. Somit besteht nur für den Zeitraum 23. bis 28. Februar 2009 ein Kostenerstattungsanspruch, der sich der Höhe nach auf (6
x 160,28 Euro =) 961,68 Euro beläuft.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits. §
193 SGG kommt im vorliegenden Fall zur Anwendung, da die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin (s. oben unter I.) nach §
183 Satz 1
SGG kostenprivilegiert ist.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG) zugelassen.