Anspruch auf Versorgung mit Hörgeräten; Erforderlichkeit einer Hörgeräteabschlussprüfung durch den verordnenden Arzt
Gründe:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 20. Februar 2011 ist gemäß §§
172 Abs.
1,
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger
Anordnung zu verpflichten, ihn mit Hörgeräten des Typs Naida III Up dAZ zu versorgen, rechtsfehlerfrei abgelehnt. Denn der
Antragsteller hat weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen
hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (§
86b Abs.
2 Satz 2 und
4 SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung).
A. Der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsanspruch i.S.d. §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG ist ausgeschlossen, weil dem Antragsteller derzeit krankenversicherungsrechtlich kein Anspruch auf die begehrten Hörgeräte
nach §
33 Abs.
1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (
SGB V) zusteht. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte u.a. Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, die im Einzelfall erforderlich
sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen,
soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen
sind. Neben der Erforderlichkeit i.S.d. §
33 Abs.
1 Satz 1
SGB V ist der Anspruch auf Hörhilfen weiter davon abhängig, dass ein Vertragsarzt die vom Versicherten begehrten Hörhilfen verordnet
hat.
1.) Ein Anspruch auf bestimmte Hörhilfen setzt eine entsprechende vertragsärztliche Verordnung voraus. Nach §
15 Abs.
1 Satz 1
SGB V wird die ärztliche Behandlung von Ärzten erbracht. Sind Hilfeleistungen anderer Personen erforderlich, dürfen sie grundsätzlich
nach §
15 Abs.
1 Satz 2
SGB V nur erbracht werden, wenn sie vom Arzt angeordnet und von ihm verantwortet werden. Nach §
73 Abs.
2 Nr.
7 SGB V umfasst die vertragsärztliche Versorgung auch die Verordnung von Hilfsmitteln; schon nach dem Wortlaut der Vorschrift ist
danach eine ärztliche Verordnung auch für die Versorgung mit Hilfsmitteln erforderlich. Erst durch die vertragsärztliche Verordnung
wird das dem Versicherten durch §§
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
3,
33 Abs.
1 Satz 1
SGB V gewährte Rahmenrecht auf Versorgung mit Hörhilfen zu einem Anspruch auf die vom Vertragsarzt bestimmten Hörgeräte konkretisiert.
Daraus folgt, dass dem Versicherten ohne eine (ordnungsgemäße) vertragsärztliche Verordnung (noch) kein Anspruch auf die begehrten
Hörhilfen zusteht (so allgemein zum Anspruch des Versicherten für alle krankenversicherungsrechtlichen Leistungen: BSG, 1.
Senat, Urteil vom 9. Juni 1998, B 1 KR 18/96 R [Kunsthoden] sowie für die Arzneimittelversorgung auch 3. Senat, Urteil vom 17. Dezember 2009, B 3 KR 13/08 R, jeweils zitiert nach juris). 2.) Dem steht jedenfalls für den vorliegenden Fall der Versorgung mit Hörhilfen nicht entgegen,
dass der 3. Senat des BSG bereits wiederholt entschieden hat, dass der Arztvorbehalt des §
15 Abs.
1 Satz 2
SGB V im Hilfsmittelbereich nicht gelte und das Fehlen einer vertragsärztlichen Verordnung den Leistungsanspruch auf ein Hilfsmittel
grundsätzlich nicht ausschließe (vgl. zuletzt Urteil vom 10. März 2010, B 3 KR 1/09 R m.w.N., zitiert nach juris). Dies hat der 3. Senat des BSG daraus hergeleitet, dass der Arztvorbehalt des §
15 Abs.
1 Satz 2
SGB V nur bezüglich der "Hilfeleistungen anderer Personen" gelte, nach §
15 Abs.
3 SGB V jedoch für die Inanspruchnahme "anderer Leistungen" nicht anzuwenden sei (Urteil vom 16. September 1999, B 3 KR 1/99 R, zitiert nach juris). Im vorliegenden Fall - wie es bei der Beschaffung von Hörhilfen regelmäßig der Fall ist - liegt das
Schwergewicht der Versorgung des Antragstellers jedoch nicht in der Beschaffung "anderer Leistungen", sondern in der durch
die Angaben der den Antragsteller behandelnden Ohrenärztin gesteuerten Beratung des Antragstellers sowie vor allem der Auswahl
und Anpassung von Hörhilfen durch den beigeladenen Hörgeräte-Akustiker auf Grund ton- und sprachaudiographischer sowie Freifeldmessungen
unter Störschall. Diese Dienstleistungen des Hörgräte-Akustikers stellen "Hilfeleistungen anderer Personen" dar, für die nach
§
15 Abs.
1 Satz 2
SGB V eine ärztliche Verordnung erforderlich ist.
3.) Selbst wenn sich jedoch die Notwendigkeit der vertragsärztlichen Verordnung von Hörhilfen nicht aus §
15 Abs.
1 Satz 2
SGB V ergeben sollte, folgt sie zumindest aus §
92 Abs.
1 Satz 1 und
2 Nr.
6 SGB V in Verbindung mit §§
7 und
20 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung
(Hilfsmittel-Richtlinie, HilfsM-RL) in der Neufassung vom 16. Oktober 2008, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2009, Nr. 61
S. 462, in Kraft getreten am 7. Februar 2009.
a) Nach §
92 Abs.
1 SGB V beschließt der GBA die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewährung für eine ausreichende,
zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten; dabei ist den besonderen Erfordernissen der Versorgung behinderter
oder von Behinderung bedrohter Menschen und psychisch Kranker Rechnung zu tragen, vor allem bei den Leistungen zur Belastungserprobung
und Arbeitstherapie; er kann dabei die Erbringung und Verordnung von Leistungen oder Maßnahmen einschränken oder ausschließen,
wenn nach allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische
Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind; er kann die Verordnung von Arzneimitteln einschränken oder
ausschließen, wenn die Unzweckmäßigkeit erwiesen oder eine andere, wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeit mit vergleichbarem
diagnostischen oder therapeutischen Nutzen verfügbar ist. Er soll insbesondere Richtlinien beschließen u.a. über die Verordnung
von Hilfsmitteln. Durch §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
6 SGB V ist dem GBA danach schon nach dem Wortlaut der Vorschrift ausdrücklich das Recht eingeräumt worden, Richtlinien über die
Verordnung von Hilfsmitteln zu beschließen; soweit der Gesetzgeber durch diese Vorschrift die Verordnungsbedürftigkeit der
Versorgung mit Hilfsmitteln nicht selbst vorausgesetzt hat, hat er den GBA zumindest ermächtigt, die Versorgung mit Hilfsmitteln
von einer vertragsärztlichen Verordnung abhängig zu machen, wovon der GBA in §§ 7 und 20 HilfsM-RL auch Gebrauch gemacht hat.
Darüber hinaus hat der GBA in den HilfsM-RL den Anspruch der Versicherten auf die Bewilligung von Hilfsmitteln von weiteren
Voraussetzungen abhängig gemacht, die hier nur zum Teil vorliegen.
b) Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 HilfsM-RL sind die Verordnungen auf den vereinbarten Vordruckmustern vorzunehmen. Die Vordrucke
müssen vollständig ausgefüllt werden. In der Verordnung ist das Hilfsmittel so eindeutig wie möglich zu bezeichnen, ferner
sind alle für die individuelle Versorgung oder Therapie erforderlichen Einzelangaben zu machen (§ 7 Abs. 2 HilfsM-RL). Durch
die für die Verordnung von Hörhilfen erlassenen Vorschriften (§§ 18 ff. HilfsM-RL) werden diese allgemeinen Anforderungen
konkretisiert und den besonderen Bedingungen des Bedarfs der Versicherten bei der Verordnung dieser Hilfsmittel angepasst.
Auch für diesen Bereich hält der GBA daran fest, dass die für die Verordnung von Hörhilfen vereinbarten Vordrucke verwendet
und vom Vertragsarzt vollständig ausgefüllt werden müssen (§ 20 HilfsM-RL). Darüber hinaus verlangt § 24 Abs. 1 HilfsM-RL
jedoch zusätzlich, dass sich der verordnende HNO-Arzt durch sprachaudiometrische Untersuchung vergewissert, dass eine vom
Hörgeräte-Akustiker vorgeschlagene Hörhilfe den angestrebten Verstehensgewinn nach § 21 Absatz 2 HilfsM-RL erbringt und die
selbst erhobenen Messwerte mit denen des Hörgeräte-Akustikers übereinstimmen, wenn der Hörgeräte-Akustiker - wie im vorliegenden
Fall - aufgrund einer ärztlichen Verordnung dem Versicherten ein Hörgerät angepasst hat. Diese Voraussetzungen sind hier nicht
gegeben. Während die behandelnde Vertragsärztin die erste Seite des Vordrucks "Ohrenärztliche Verordnung einer Hörhilfe" (teilweise)
ausgefüllt und der Hörgeräte-Akustiker die erforderlichen Angaben durch seinen "Anpassbericht" vom 13. Oktober 2010 sowie
seinen Kostenvoranschlag vom selben Tag gemacht hat, fehlt die auf der Rückseite des Verordnungsvordrucks erforderliche Bescheinigung
der Ohrenärztin, dass sie sich davon überzeugt hat, dass durch die vorgeschlagene Hörhilfe eine ausreichende Hörverbesserung
erzielt wird und das vorgeschlagene Gerät zweckmäßig ist. Damit mangelt es an einem wesentlichen Element der vertragsärztlichen
Verordnung, einer Konkretisierung des Anspruchs des Antragstellers auf die von ihm begehrte Hörhilfe und damit auch an einem
Anordnungsanspruch.
4.) Zu einem anderen Ergebnis käme man im Übrigen auch dann nicht, wenn man (schematisch) davon ausgehen wollte, dass der
Leistungsanspruch des Versicherten im Hilfsmittelrecht niemals von einer vertragsärztlichen Verordnung abhinge.
a) Die behandelnde Ohrenärztin hat nicht nur den Verordnungsvordruck unvollständig ausgefüllt, sondern auch auf ausdrückliche
Nachfrage des Sozialgerichts bestätigt, dass sie keine Hörgeräteabschlussprüfung durchgeführt habe und ihr deshalb weder bekannt
sei, bei welchem Hörgeräte-Akustiker und mit welchem Hörgerätetyp der Antragsteller versorgt worden sei; ebenso wenig sei
ihr bekannt, welches Sprachverstehen mit den neuen Hörgeräten erzielt werde. Damit fehlt es nicht nur an jeder ärztlichen
Feststellung, dass die vom Antragsteller begehrten Hörhilfen nach §
33 Abs.
1 Satz 1
SGB V erforderlich sind, um die in dieser Norm genannten Ziele zu erreichen, sondern auch an ärztlichen Erkenntnissen, dass die
begehrten Hörhilfen im vorliegenden Fall notwendig und zweckmäßig im Sinne des §
12 Abs.
1 SGB V sind. Nach dieser Vorschrift müssen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung jedoch ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich
sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind,
können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.
b) Warum die behandelnde Ohrenärztin auf die von den HilfsM-RL vorgeschriebene Hörgeräteabschlussprüfung verzichtet und die
Antragsgegnerin den Festbetrag für Hörhilfen trotz Fehlens einer ausreichenden vertragsärztlichen Verordnung bewilligt und
sich weder im Verwaltungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren auf das Fehlen der Verordnung und der Abschlussprüfung
berufen hat, ist dagegen unerheblich: Die Notwendigkeit einer qualifizierten vertragsärztlichen Verordnung und die Abhängigkeit
der begehrten Leistung von den Kriterien der Erforderlichkeit, Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Leistungsgewährung folgen
un-mittelbar aus dem
SGB V und den HilfsM-RL. Beide sind Gesetze im materiellen Sinne, das
SGB V ein Parlamentsgesetz und die HilfsM-RL - wie alle Richtlinien des GBA - untergesetzliches Bundesrecht (vgl. BSG, Urteil vom
31. Mai 2006, B 6 KA 13/05 R [Clopidogrel®], LSG Bln-Bbg., 7. Senat, Urteil vom 17. März 2010, L 7 KA 125/09 KL [Monapax®], jeweils zitiert nach juris). Als Rechtsnormen sind sie nicht nur für die Versicherten, Krankenkassen und Vertragsärzte
verbindlich (vgl. § 1 Abs. 2 HilfsM-RL), sondern auch von den Sozialgerichten gemäß Art.
20 Abs.
3 Grundgesetz (
GG) zu beachten, soweit sie höherrangigem Recht nicht widersprechen, wofür es hier keine Anhaltspunkte gibt.
B. Darüber hinaus lässt sich auch kein eiliges Regelungsbedürfnis i.S.d. §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG feststellen, das Voraussetzung für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes ist. Ein eiliges Regelungsbedürfnis wäre nur dann
gegeben, wenn dem Antragsteller ein Zuwarten auf das Hauptsacheverfahren nicht zuzumuten wäre und er nach Bewilligung des
Festbetrages durch die Antragsgegnerin i.H.v. 715,00 EUR die zur Beschaffung der begehrten Hörhilfe noch erforderlichen weiteren
1.950 EUR nach seinen Einkommens- und Vermögensverhältnisses auch nicht vorübergehend selbst aufbringen könnte.
An der letzten Voraussetzung fehlt es hier anders als in dem vom 15. Senat des LSG Berlin-Brandenburg am 22. Mai 2008 entschiedenen
Fall (L 15 B 242/08 SO ER zitiert nach juris), auf den der Antragsteller sich berufen hat, weil in dortigem Fall der Antragsteller ergänzende
Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII) erhielt. Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller
dagegen weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, dass er über keine eigenen bereiten Mittel verfügt, um sich die begehrte
Hörhilfe zunächst selbst zu beschaffen und die Antragsgegnerin im Hauptsacheverfahren nach §
13 Abs.
3 SGB V auf Kostenerstattung in Anspruch zu nehmen.
Zutreffend hat das Sozialgericht es nicht ausreichen lassen, dass sich der Antragsteller zur Begründung eines eiligen Regelungsbedürfnisses
allein auf die Dauer des Hauptsacheverfahrens berufen hat. Die mit der Durchführung des Hauptsacheverfahrens verbundene zeitliche
Verzögerung einer Entscheidung über den Leistungsanspruch führt regelmäßig und auch im vorliegenden Fall weder zu einem Verlust
dieses Anspruchs noch zu einer wesentlichen Erschwerung seiner Durchsetzung. Ebenso wenig ist nach dem Vorbringen des Antragstellers
erkennbar geworden, dass er durch die Verweisung auf das Hauptsacheverfahren sonstige wesentliche - etwa finanzielle - Nachteile
zu befürchten hätte, die er nicht selbst vorübergehend abwenden könnte. Dies wäre in einem Fall wie dem vorliegenden allenfalls
dann der Fall, wenn ihm aus der Weigerung der Antragsgegnerin, die geltend gemachte Leistung zu erbringen, noch im Zeitpunkt
der Entscheidung des Gerichts irreversible Einbußen drohten. Allein dieser Zweck rechtfertigt es, dem Versicherten die Leistung
regelmäßig unter Vorwegnahme der Hauptsache ohne eine vollständige Prüfung der materiellen Rechtslage zuzusprechen. Die Aufgabe
des vorläufigen Rechtsschutzes besteht dagegen nicht darin, dem Versicherten ein schnelleres Hauptsacheverfahren zu verschaffen
und das Klageverfahren damit in ein "Nachverfahren" zu verwandeln. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundssozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).