Aufhebung eines Beschlusses im sozialgerichtlichen Verfahren wegen der Unstatthaftigkeit der Vollziehung nach Ablauf der Monatsfrist;
Anwendbarkeit von § 929 Abs. 2 ZPO
Gründe:
I. Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der angegriffene Beschluss des Sozialgerichtes ist aufzuheben, weil aus ihm nicht
mehr vollstreckt werden kann.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 4 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) i.V.m. §
929 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) ist die Vollziehung des Beschlusses über die Anordnung der einstweiligen Anordnung unstatthaft, wenn seit dem Tag, an dem
der Beschluss verkündet oder der Partei, auf deren Antrag er erging, zugestellt ist, ein Monat verstrichen ist. Diese Voraussetzungen
sind gegeben.
Der Beschluss des Sozialgerichtes Dresden vom 25. April 2008 ist dem Antragsteller am 29. April 2008 zugestellt worden. Der
Antragsgegner hat die in diesem Beschluss angeordneten Leistungen, die den Leistungszeitraum vom 1. Februar 2008 bis 31. Juni
2008 betrafen, nicht erbracht. Er hat der einstweiligen Anordnung auch nicht Folge geleistet, nachdem das Sozialgericht mit
Beschluss vom 22. Mai 2008 den Antrag gemäß §
175 Satz 3
SGG auf einstweilige Aussetzung des Vollzugs abgelehnt hat.
Nach den vorliegenden Unterlagen hat der Antragsteller nicht innerhalb der Monatsfrist Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet.
Für die Wahrung der Monatsfrist in §
929 Abs.
2 ZPO reicht es nach der herrschenden Meinung in der zivilprozessrechtlichen Rechtsprechung und Kommentarliteratur aus, dass die
Vollstreckung bei der zuständigen Stelle innerhalb der Frist beantragt worden ist. Denn dann hat der Vollstreckungsgläubiger
mit der Antragstellung alles getan, was ihm möglich ist, und er soll keine Nachteile aus der Dauer des Vollstreckungsverfahrens
haben (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1990 - IX ZR 211/89 - BSGE 122, 356 [359] und Beschluss vom 15. Dezember 2005 - 1 ZB 63/05 - NJW 2006, 1290; Reichold, in: Thomas/Putzo,
Zivilprozessordnung [28. Aufl., 2007], §
929 RdNr. 4. Vgl. auch: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann,
Zivilprozessordnung [66. Aufl., 2008], §
929 RdNr. 7). Einen solchen Antrag hat der Antragsteller innerhalb der Monatsfrist nicht gestellt. Vielmehr hat er noch mit Schreiben
vom 27. Juni 2008 gegenüber dem Antragsgegner die Umsetzung der einstweiligen Anordnung angemahnt und gleichzeitig angekündigt,
die Vollstreckung betreiben zu wollen. Bei der Vollstreckungsankündigung handelt es sich aber nicht um einen Vollstreckungsantrag
im oben beschriebenen Sinn. Auch mit dem Antrag vom 13. Mai 2008 auf Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung (vgl. §
724 ZPO) ist die Monatsfrist nicht gewahrt. Denn bei diesem Antrag handelt es sich lediglich um die Vorbereitung der Vollstreckung,
nicht jedoch um einen Vollstreckungsantrag.
Damit ist die Vollstreckung aus dem Beschluss unstatthaft mit der Folge, dass der Beschluss aufzuheben ist (vgl. SächsLSG,
Beschluss vom 24. Januar 2008 - L 3 B 610/07 AS-ER - JURIS-Dokument Rdnr. 2, m.w.N.).
Soweit eingewandt wird, dass §
929 ZPO nach ihrer ursprünglichen, gesetzgeberischen, der
Zivilprozessordnung zugrunde liegenden Konzeption regelmäßig zwischen zwei privaten Parteien anzuwenden gewesen sei und die Situation im sozialgerichtlichen
Verfahren anders sei (vgl. SächsLSG, Beschluss vom 22. April 2008 - L 2 B 111/08 - JURIS-Dokument Rdnr. 14), steht dies einer Anwendbarkeit von §
929 Abs.
2 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren nicht entgegen. Denn ob eine Entscheidung des Gesetzgebers, eine Regelung aus einem Rechtsgebiet
unmittelbar oder mittelbar im Wege der Verweisung in ein anderes Rechtsgebiet zu übernehmen, sachgerecht ist, ist eine rechtspolitische
Frage. Erwägungen über Sinn und Zweck einer Regelung können aber in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der eindeutige Wortlaut
der Regelung keinen Ansatzpunkt für eine Auslegung bietet, im Rahmen einer gerichtlichen Entscheidung nicht angestellt werden.
Auch das Vertrauen in Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ist nicht als solches geschützt, wie die vielfältigen vom Gesetzgeber
geschaffenen Rechtsschutzmöglichkeiten im Bereich des öffentlichen Rechts belegen. Maßgebend ist deshalb, wie der Vertrauensschutz
in der jeweiligen Konstellation ausgestaltet ist. Für den Fall, dass die zuständige Behörde eine einstweilige Anordnung eines
Sozialgerichtes nicht umsetzt, hat der Gesetzgeber mit der Verweisung in §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG unter anderem auf §§
928 bis
929 ZPO, und damit auch auf §
929 Abs.
2 ZPO, eine eindeutige Regelung getroffen.
Soweit die Auffassung vertreten wird, die Monatsfrist des §
929 Abs.
2 ZPO solle erst zu laufen beginnen, wenn der Antragsteller Kenntnis von der Nichtbefolgung des gerichtlichen Beschlusses erlangt
hat (vgl. hierzu Plagemann/Schaffhausen, jurisPR-SozR 13/2008 Anm. 4, m.w.N.), ist dies nach der geltenden Rechtslage nicht
möglich. In §
929 Abs.
2 ZPO wird ausdrücklich auf den Zeitpunkt der Verkündung oder der Zustellung abgestellt. Ein anderer Fristbeginn kann nur vom Gesetzgeber
bestimmt werden.
Schließlich ist es auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen, insbesondere im Hinblick auf den Anspruch auf Gewährung
effektiven Rechtsschutzes, geboten, die Verweisungsreglung in §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG "verfassungskonform" dahingehend auszulegen, dass die Regelung des §
929 Abs.
2 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren überhaupt nicht mehr oder nur noch mit Modifikationen anzuwenden ist. Denn die Frage, ob
die Vollziehungsfrist aus §
929 Abs.
2 ZPO abgelaufen ist, stellt sich im sozialgerichtlichen Verfahren regelmäßig dann, wenn einerseits der Antragsgegner, der der
einstweiligen Anordnung nicht Folge leistet, die einmonatige Beschwerdefrist aus §
173 Satz 1
SGG - berechtigterweise (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz [8. Aufl., 2005], §
67 Rdnr. 3a) - weitgehend oder ganz ausschöpft und andererseits der Antragsteller in der parallel dazu laufenden Monatsfrist
aus §
929 Abs.
2 ZPO nicht die erforderlichen Schritte einleitet, um die im zugesprochenen Leistungen zu erlangen. Diese Kollisionssituation führt
jedoch nicht dazu, dass ein Antragsteller, zu dessen Gunsten eine einstweilige Anordnung erlassen wurde, aus rechtlichen oder
tatsächlichen Gründen gehindert wäre, die Vollziehung gegenüber dem Antragsgegner aus dem Beschluss des Sozialgerichtes zu
betreiben.
Die Regelung des §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
929 Abs.
2 ZPO ist von Amts wegen zu berücksichtigen. Aus diesem Grund kann eine Behörde nicht das Recht verlieren, sich auf diese Regelung
zu berufen (so aber Plagemann/Schaffhausen, aaO.).
Dem Antragsteller kann auch nicht von Amts wegen gemäß §
67 Abs.
1 SGG Widereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden (vgl. hierzu Plagemann/Schaffhausen, aaO). Nach dieser Regelung setzt
die Widereinsetzung in den vorigen Stand voraus, dass jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist
einzuhalten. Ohne Verschulden handelt, wer diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem gewissenhaften Prozessführenden nach
den gesamten Umständen nach allgemeiner Verkehrsanschauung zuzumuten ist (BSG, Urteil vom 31. März 1993 - 13 RJ 9/92 - BSGE 72, 158). Ein rechtsunkundiger Beteiligter muss sich ausreichend rechtlich beraten lassen (Keller, aaO., § 67 Rdnr 7d). Bei einem
etwaigen Rechtsirrtum liegt nur dann kein Verschulden vor, wenn der Beteiligte auch bei sorgfältiger Prüfung den Irrtum nicht
vermeiden konnte. Auch hier gilt, dass sich ein Rechtsunkundiger sachkundig beraten lassen muss (Keller, aaO., § 67 Rdnr 8a,
m.w.N.). Diese Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung sind vorliegend nicht erfüllt. Denn der Antragsteller hat selbst
Anstrengungen unternommen, um vom Antragsgegner die ihm einstweilig zugesprochenen Leistungen zu erhalten. Dass dies nach
der Gesetzeslage "nicht die zweckmäßigsten Maßnahmen" waren, wie der Antragsteller im Schreiben vom 20. August 2008 angemerkt
hat, führt nicht dazu, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden könnte.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Bei der Entscheidung, die das Gericht nach billigem Ermessen zu treffen hat, wurde für das Beschwerdeverfahren berücksichtigt,
dass sich das Beschwerdeverfahren faktisch erledigte, weil die Antragsteller die Monatsfrist des §
929 Abs.
2 ZPO verstreichen ließen. Ausschlaggebend für den Ausspruch zur Erstattungsfähigkeit der außergerichtlichen Kosten der Antragsteller
war jedoch, dass sie sich darauf verlassen durften, der Antragsgegner werde wegen des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung den einstweiligen Anordnungen auch ohne Vollstreckungsmaßnahmen Folge leisten. Die außergerichtlichen
Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens wurden für erstattungsfähig erklärt, weil der Antragsgegner durch sein Verhalten maßgeblich
dazu beitrug, dass die Möglichkeit, den angegriffenen Beschluss des Sozialgerichtes im Beschwerdeverfahren überprüfen zu können,
entfiel.
III. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).