Ablehnung eines Überprüfungsantrages für Leistungen nach dem SGB II
Keine allgemeine Überprüfungspflicht bestandskräftiger Verwaltungsakte
Überprüfungsantrag des Betroffenen als Anlass für eine Überprüfung
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Antrags auf Überprüfung von Bescheiden betreffend Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Dezember 2012 bis zum 31. Mai 2013.
Der 1965 geborene Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum erwerbsfähig und als Außenrequisiteur und Ausstatter selbstständig
tätig. Hieraus erzielte er Einnahmen in unterschiedlicher Höhe. Mit Bescheid vom 31. Oktober 2012 bewilligte der Beklagte
ihm zunächst vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 1.112,58 Euro für den Monat Dezember 2012 und in Höhe von monatlich 1.116,58 Euro für den Zeitraum vom 1. Januar
2013 bis zum 31. Mai 2013. Ab dem 1. Januar 2013 wurden dem Kläger infolge der Anhebung der Regelsätze und einer Erhöhung
seiner Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung tatsächlich monatlich 1.150,07 Euro gewährt (vgl. dazu die Übersicht auf
Blatt 216 der Leistungsakte). Hierbei wurde - unter Zugrundelegung der vom Kläger für diesen Zeitraum prognostizierten Einnahmen
- kein bedarfsmindernd anzurechnendes Einkommen berücksichtigt. Nachdem der Kläger abschließende Angaben zu seinen tatsächlichen
Betriebseinnahmen und -ausgaben in diesem Zeitraum gemacht hatte, erließ der Beklagte am 20. März 2014 einen Bescheid, mit
dem er dem Kläger für den Zeitraum vom 1. Dezember 2012 bis zum 31. Mai 2013 endgültig Leistungen in Höhe von 0,00 Euro monatlich
bewilligte. Hierbei berücksichtigte der Beklagte nach Abzug von Freibeträgen ein monatliches Einkommen in Höhe von 1.749,14
Euro. Mit Erstattungsbescheid gleichen Datums forderte der Beklagte vom Kläger die Erstattung der für den genannten Zeitraum
vorläufig erbrachten Leistungen in voller Höhe, d.h. insgesamt 6.862,93 Euro. Der Kläger erhob weder gegen den Bewilligungs-
noch gegen den Erstattungsbescheid Widerspruch.
Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 20. Juni 2014 beantragte der Kläger "rein vorsorglich" die Überprüfung "sämtlicher
Bescheide des letzten Jahres, d.h. ab dem 20. Juni 2013" nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), ohne diesen Antrag zu begründen. Der Beklagte lehnte den Antrag auf Überprüfung der Bescheide vom 20. März 2014 betreffend
den Zeitraum vom 1. Dezember 2012 bis zum 31. Mai 2013 mit Bescheid vom 23. Juni 2014 ab: Die Bescheide seien nicht zu beanstanden;
bei ihrem Erlass sei das Recht richtig angewandt und von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden. Hiergegen erhob
der Kläger am 25. Juli 2014 Widerspruch, der wiederum nicht begründet und vom Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 19. Januar
2015 zurückgewiesen wurde. Zur Begründung führte der Beklagte aus, Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung seien weder
genannt noch aus den Unterlagen ersichtlich. Der Bescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen. Der Widerspruchsbescheid
wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 21. Januar 2015 zugestellt.
Am 21. Februar 2015 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht erhoben. Die Bescheide seien unbestimmt, da nicht erkennbar sei,
in welcher Höhe Abzüge in Ansatz gebracht worden seien. Er habe im streitgegenständlichen Zeitraum nicht gearbeitet. Ihm hätten
die vollen Leistungen für den Lebensunterhalt und die Kosten der Unterkunft zugestanden. Die Versicherungspauschale sei nicht
berücksichtigt worden. Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 23. Juni
2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Januar 2015 zu verurteilen, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des
Gerichts neu zu bescheiden.
Mit Gerichtsbescheid vom 28. Februar 2017 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zu Recht habe der Beklagte den Überprüfungsantrag
des Klägers abgelehnt. Der Antrag des Klägers sei nicht hinreichend bestimmt und konkret gewesen, um eine inhaltliche Überprüfungspflicht
des Beklagten auszulösen. Der Gerichtsbescheid war mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen, die darauf hinwies, dass er nicht
mit der Berufung angefochten werden könne. Er ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 7. März 201 zugestellt worden.
Am 10. April 2017, einem Montag, hat der Kläger Nichtzulassungsbeschwerde zum Landessozialgericht erhoben. Nachdem der Senat
darauf hingewiesen hat, dass entgegen der Rechtsmittelbelehrung des Gerichtsbescheids die Berufung auch ohne Zulassung durch
das Gericht zulässig ist, hat der Kläger mit Schreiben vom 25. August 2017 die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgenommen und
zugleich Berufung eingelegt. Die Berufung ist nicht begründet und ein Berufungsantrag nicht formuliert worden.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Mit Beschluss vom 1. März 2018 hat der Senat die Berufung nach §
153 Abs.
5 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) der Berichterstatterin zur Entscheidung mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen.
In der mündlichen Verhandlung am 10. September 2018, zu der der Kläger nicht persönlich erschienen ist, hat der Prozessbevollmächtigte
des Klägers einen bei ihm bereits am 11. Juni 2018 eingegangenen Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 4. Juni 2018 vorgelegt,
mit dem über das Vermögen des Klägers wegen Zahlungsunfähigkeit das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter
eingesetzt worden ist. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat dazu erklärt, er gehe davon aus, dass das Verfahren infolge
der Insolvenzeröffnung gem. §
240 ZPO unterbrochen sei und sehe deshalb von einer Antragstellung ab. Er hat hieran auch nach dem (nicht protokollierten) Hinweis
des Senats, dass von einer Unterbrechung des Verfahrens nicht auszugehen sei, festgehalten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie
der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
I. Eine Entscheidung, die gem. §
153 Abs.
5 SGG durch die Berichterstatterin und die ehrenamtlichen Richter zu treffen war, konnte trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen
Verhandlung ergehen, weil der Kläger ordnungsgemäß geladen und auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§
110 Abs.
1 des
Sozialgerichtsgesetzes -
SGG).
Der Senat war ferner nicht durch eine Unterbrechung des Verfahrens an der Entscheidung des Rechtsstreits gehindert. §
202 SGG i.V.m §
240 Zivilprozessordnung (
ZPO) bestimmt, dass ein Verfahren, welches die Insolvenzmasse betrifft, durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das
Vermögen einer Partei unterbrochen wird, bis es nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften aufgenommen oder
das Insolvenzverfahren beendet wird. Hintergrund dieser Regelung ist, dass der Schuldner mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens
die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über sein zur Insolvenzmasse gehörendes Vermögen verliert und an seine Stelle der
Insolvenzverwalter tritt. Voraussetzung einer Unterbrechung ist jedoch, dass das Verfahren die Insolvenzmasse (§§
35,
36 Insolvenzordnung,
InsO), d.h. das pfändbare Vermögen des Schuldners betrifft. Hingegen tritt keine Unterbrechung ein, wenn lediglich eine wirtschaftliche
Beziehung zur Masse besteht, oder nur unpfändbare Gegenstände (wobei "Gegenstände" auch Forderungen und sonstige Vermögensrechte
meint, vgl. Keller, in: Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur
InsO, 9. Aufl. 2018, §
36 Rn. 9), höchstpersönliche oder nicht vermögensrechtliche Ansprüche betroffen sind (vgl. Greger, in: Zöller,
ZPO, 32. Aufl. 2018, §
240 Rn. 8a).
Das hiesige Verfahren betrifft nicht die Insolvenzmasse in diesem Sinne: Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob der
Beklagte den Überprüfungsantrag des Klägers rechtmäßig abgelehnt hat. Dabei geht es vorrangig darum, welche Anforderungen
an einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X zu stellen sind und in welchem Ausmaß sich ein Leistungsträger (und später das Gericht) durch unbegründete Anträge zur Überprüfung
veranlasst sehen muss. Die Frage, ob der Beklagte zu Recht eine Erstattungsforderung gegen den Kläger geltend macht, stellt
sich allenfalls nachrangig und nur für den Fall, dass eine umfassende Überprüfungspflicht des Beklagten bzw. des Gerichts
angenommen werden kann. Hier kommt hinzu, dass der Kläger lediglich beantragt hat, den Beklagten zur Neubescheidung seines
Überprüfungsantrags zu verurteilen, nicht aber zur Aufhebung bzw. Abänderung der Bescheide vom 20. März 2014. Auch bei einer
diesem Antrag entsprechenden Entscheidung wäre daher über das Schicksal der Forderung des Beklagten gegen den Kläger noch
nicht abschließend befunden. Bereits aus diesem Grund ist die Insolvenzmasse jedenfalls nicht direkt betroffen. Daneben und
vor allem berührt aber auch die Forderung, die der Beklagte mit dem Erstattungsbescheid vom 20. März 2014 (auf der Grundlage
des endgültigen Bewilligungsbescheids vom 20. März 2014) erhebt, nicht die Insolvenzmasse. Denn es handelt sich um eine Forderung
nach Erstattung vorläufig gewährter Leistungen, die wegen der Erzielung von Einkommen erhoben wird. Wie das Bundessozialgericht
mit Urteil vom 16. Oktober 2012 (B 14 AS 188/11 R, dort zu einer Erstattungsforderung aufgrund von Einkommen aus einer Betriebs- und Heizkostenerstattung), dem der Senat
sich insoweit anschließt, entschieden hat, werden Verfahren um derartige Forderungen durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens
nicht unterbrochen. Dies begründet sich daraus, dass Einkommen des Insolvenzschuldners, welches bei der Deckung seines Bedarfs
nach dem SGB II zu berücksichtigen ist, nicht der Pfändung und Zwangsvollstreckung unterliegt (§
54 SGB I i.V.m. §§
850 ff., 850 i
ZPO) und damit nicht Teil der Insolvenzmasse wird (vgl. BSG a.a.O., Rn. 20 m.w.N.; hierzu auch Loose/Pieperjohanns, ZFSH/SGB 2018, S. 79, 83). Soweit der Kläger sich demgegenüber auf
die Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Januar 2009 (L 8 AL 110/08) beruft, kann er damit nicht durchdringen. Diese Entscheidung, die zudem zeitlich vor dem zitierten Urteil des Bundessozialgerichts
erging, hat die Zugehörigkeit der dort streitigen Erstattungsforderung (Rückforderung von Überbrückungsgeld wegen gleichzeitiger
Erzielung von Erwerbseinkommen) zur Insolvenzmasse einfach angenommen, ohne dies in irgendeiner Weise zu begründen.
II. Die Berufung ist statthaft (§§
143,
144 SGG) und auch im Übrigen zulässig. Sie ist insbesondere nicht wegen Fristversäumnis unzulässig. Der erstinstanzliche Gerichtsbescheid
enthielt mit dem Hinweis auf die Unzulässigkeit der Berufung eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung, weshalb nicht die einmonatige
Berufungsfrist des §
151 Abs.
1 SGG, sondern die Jahresfrist des §
66 Abs.
2 SGG zur Anwendung kommt (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Auflage 2017, §
151 Rn. 8).
Die Berufung ist aber nicht begründet. Der Beklagte hat den Antrag des Klägers auf Überprüfung der Bescheide vom 20. März
2014 zu Recht abgelehnt. Wie das Sozialgericht mit zutreffender Begründung dargelegt hat, war der Beklagte nicht verpflichtet,
die Bescheide vom 20. März 2014 einer umfassenden Überprüfung zu unterziehen.
§ 44 SGB X dient dazu, den Konflikt zwischen der Bindungswirkung eines (rechtswidrigen) Verwaltungsakts einerseits und der materiellen
Rechtmäßigkeit (und damit Gerechtigkeit) andererseits zugunsten letzterer zu lösen. Dies setzt jedoch voraus, dass der Behörde
der Konflikt in diesem Sinne überhaupt bekannt ist. Eine allgemeine Pflicht der Behörde, den Verwaltungsakt unter ständiger
Kontrolle zu halten oder ohne Anlass regelmäßige Überprüfungen von bestandskräftigen Verwaltungsakten durchzuführen, besteht
dabei nicht (vgl. BSG, Urteil vom 13.2.2014 - B 4 AS 22/13 R, Rn. 19 m.w.N. und Urteil vom 28.10.2014 - B 14 AS 39/13 R, Rn. 15; Baumeister in: jurisPK-SGB X, § 44 SGB X, Rn. 133 m.w.N.). Voraussetzung für eine Prüfpflicht ist ein konkreter Anlass für eine derartige Prüfung. Ein Überprüfungsantrag
des Betroffenen kann ein solcher Anlass sein, auch hier gilt jedoch, dass nicht jeder Antrag eine umfassende Prüfpflicht auslöst.
Vielmehr kann die Behörde einen Überprüfungsantrag mit dem Hinweis auf fehlende neue Gesichtspunkte für die Rechtswidrigkeit
ablehnen, wenn der Antragsteller keine entsprechenden Gründe in seinem Antrag vorbringt und der Behörde auch darüber hinaus
keine solchen Gründe bekannt werden. Sie ist nicht gezwungen, von sich aus eine vollständige Sachverhalts- oder Rechtsprüfung
durchzuführen, wenn dazu objektiv keine Veranlassung gegeben ist (BSG, Urteil vom 13.2.2014 - B 4 AS 22/13 R, Rn. 19; Baumeister a.a.O., Rn. 135).
Der Kläger hatte seinen Überprüfungsantrag bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids nicht begründet und es ist nicht erkennbar,
dass dem Beklagten sonstige Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung bekannt waren oder sich hätten aufdrängen müssen.
Folglich handelte der Beklagte nach den genannten Maßstäben rechtmäßig, als er den Überprüfungsantrag des Klägers unter Hinweis
darauf ablehnte, Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung seien weder genannt noch aus den Unterlagen ersichtlich und der
Bescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen.
Unerheblich ist insoweit, dass der Kläger - wenn auch nur ansatzweise und pauschal - im Klageverfahren seinen Überprüfungsantrag
näher konkretisiert hat. Denn für die Beurteilung, ob und inwieweit der Antrag eine Prüfpflicht des Leistungsträgers auslöst,
ist auf die zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zu diesem Überprüfungsantrag vorgetragenen tatsächlichen und/oder
rechtlichen Anhaltspunkte abzustellen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 13.2.2014 - B 4 AS 22/13, Rn. 16 und Urteil vom 28.10.2014 - B 14 AS 39/13 R, Rn. 20).
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 Nr.
1 oder 2
SGG nicht vorliegen.