LSG Hamburg, Urteil vom 28.09.2017 - 1 KR 27/16
Krankenversicherung
Vergütung einer vollstationären Krankenhausbehandlung
Versicherte mit einem schweren psychiatrischen Leiden
Suchtbehandlung
Anspruch auf stationäre Krankenhausbehandlung
1. Versicherte mit einem schweren psychiatrischen Leiden haben nach der Rechtsprechung des BSG Anspruch auf stationäre Krankenhausbehandlung, wenn nur auf diese Weise ein erforderlicher komplexer Behandlungsansatz durch
das Zusammenwirken eines multiprofessionellen Teams unter fachärztlicher Leitung erfolgversprechend verwirklicht werden kann.
2. Vor allem bei psychiatrischer Behandlung - und um eine solche handelt es sich auch im Falle einer Suchtbehandlung - kann
der Einsatz von krankenhausspezifischen Gerätschaften in den Hintergrund treten und allein schon die Notwendigkeit des kombinierten
Einsatzes von Ärzten, therapeutischen Hilfskräften und Pflegepersonal sowie die Art der Medikation die Möglichkeit einer ambulanten
Behandlung ausschließen und eine stationäre Behandlung erforderlich machen.
3. Bei einem erforderlichen komplexen Behandlungsansatz durch Zusammenwirken eines multiprofessionellen Teams unter fachärztlicher
Leitung ist zu prüfen, ob ein solcher nach den Regeln der ärztlichen Kunst ambulant überhaupt realisierbar war und für den
Versicherten in Anbetracht seines Gesundheitszustandes in zumutbarer Weise zur Verfügung gestanden hätte.
Normenkette: ,
KHG § 17b Abs. 1 S. 10
,
KHEntgG § 7 S. 1 Nr. 1 ,
KHEntgG § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Vorinstanzen: SG Hamburg 16.10.2015 S 6 KR 1785/13
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Oktober 2015 aufgehoben und die Beklagte
verurteilt, an die Klägerin 2.130,42 EUR nebst 2% Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 18. April 2013 zu zahlen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer vollstationären Krankenhausbehandlung. Das von dem klagenden Träger betriebene
Krankenhaus behandelte die 1989 geborene Versicherte S. im Zeitraum u.a. vom 6. Juni 2012 bis 15. Juni 2012 vollstationär.
Vorausgegangen waren folgende stationäre Aufenthalte: 5. bis 18. Januar 2011, ab dem 29. Juni 2011, 15. bis 23. August 2011,
19. bis 29. Dezember 2011, 5. bis 13. Januar 2012, 5. April bis 11. Mai 2012, 21. Mai bis 1. Juni 2012, 2. bis 4. Juni 2012.
Die Aufenthalte erfolgten in der Regel zum qualifizierten Entzug. Die Aufnahme erfolgte regelmäßig in erheblich alkoholisiertem
Zustand oder ohne Blutalkoholkonzentration (BAK) aber mit deutlichen Entzugserscheinungen bei folgenden Diagnosen: Alkoholabhängigkeitssyndrom,
Alkoholintoxikation, Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD 10 F 10.2, F 10.0, F 60.31). Aus den
Unterlagen ergeben sich mehrere alkoholbedingte Arbeitsplatzverluste, ein Autounfall unter Alkohol sowie in der Folge der
Verlust des Führerscheins und mindestens eine am Alkoholkonsum der Versicherten zerbrochene Beziehung. Im Abschlussbericht
zum streitigen Aufenthalt vom 6. Juni 2012 bis 15. Juni 2012 heißt es: "Frau S. kam planmäßig nach telefonischer Voranmeldung
zur Krisenintervention auf die Station B unseres Hauses. Zuletzt befand sie sich in der Zeit vom 2.6. bis zum 4.6.2012 auf
Station L im Rahmen eines einmaligen Rückfalls. Die Patientin habe sich auf Station L überhaupt nicht wohl gefühlt. Da es
aus Station B zu dieser Zeit keine freie Bettenvakanz gab, habe sie sich dann ganz normal angemeldet. Die Schwester sei aus
der gemeinsamen Wohnung mit ihrem Freund ausgezogen, jetzt lebe sie in der Wohnung alleine. Das Alleinsein falle ihr sehr
schwer und sie hätte erheblichen Suchtdruck entwickelt, über die rasche Aufnahme wirkte sie sehr erleichtert. Jetzt sei sie
entschlossen, eine Langzeittherapie zu absolvieren. Sie wolle die Krisenintervention nutzen, diese in die Wege zu leiten.
Aufgrund des Alleinseins habe sie immer wieder depressive Symptomatik entwickelt und daher regelmäßig V. 150 mg eingenommen,
bezüglich Stimmung und Antrieb sei es ihr unter dieser Medikation erheblich besser gegangen, trotzdem habe sie erheblichen
Suchtdruck entwickelt. Die Patientin war wach, bewusstseinsklar, zu allen vier Qualitäten voll orientiert. Das formale Denken
war geordnet, gedankeninhaltlich lagen keine Wahnideen vor. Der Affekt war zum Aufnahmezeitpunkt relativ ausgeglichen, aus
der Anamnese waren aber immer wieder massive depressive Verstimmungen bekannt. Der Affekt war zum Aufnahmezeitpunkt stabil,
aber auch da gab es immer wieder massive Gereiztheit und Impulsivitätsausbrüche in der Vergangenheit. Keine Ängste. Keine
Phobien. Keine Zwänge. Antrieb zum Aufnahmezeitpunkt unter antidepressiver Medikation nicht mehr gehemmt, aber auch dort waren
aus der näheren Vergangenheit erhebliche Antriebsstörungen bekannt bezüglich ihrer Suchterkrankung zeigte sich die Patientin
zunächst krankheitseinsichtig und motivationsfähig. In der äußeren Erscheinung wirkte sie gepflegt. Die Patientin kam am 6.6.2012
zwecks Krisenintervention und Motivationsbehandlung bei Alkoholabhängigkeit zur stationären Aufnahme. Bei vegetativer Entzugssymptomatik
mit Schwitzen, Schlaflosigkeit sowie innerer Unruhe wurde der körperliche Entzug mit einer Diazepam-Medikation in Reduktion
durchgeführt und mit Akupunktur unterstützt. Bei initial massiven Verstimmungen mit innerer Unruhe, emotionaler Labilität
und Grübelneigung kam es im weiteren Verlauf bei angepasster antidepressiver Medikation und durch das strukturierte Behandlungssetting
zu einer zunehmenden psychischen Stabilisierung, die depressiven Symptome traten deutlich in den Hintergrund. Im Rahmen der
Motivationsbehandlung nahm die Patientin regelmäßig am interdisziplinären Stationsprogramm bestehend aus psychologischen Einzelgesprächen,
Gesprächsrunden, Informations- und Motivationsgruppen, Akupunktur, Garten- und Physiotherapie teil. Aufgrund des Schweregrades
ihrer Abhängigkeitserkrankung und den daraus resultierenden körperlichen und psychosozialen Folgen wurde der Patientin empfohlen,
sich zwecks einer regelmäßigen weiterführenden suchttherapeutischen Betreuung in eine stationäre Entwöhnungsbehandlung zu
begeben und im weiteren ambulanten Verlauf eine Suchtberatungsstelle aufzusuchen. Die Patientin beendete die Behandlung am
15.6.2012 regulär mit der Perspektive einer Vorsorgebehandlung in der T1." Die Schlussrechnung in Höhe von 2.130,42 EUR bezahlte
die Beklagte zunächst, rechnete dann aber nach Einschaltung des MDK, der ausgeführt hatte, es liege eine primäre Fehlbelegung
vor, mit einer anderen unstreitigen Rechnung auf. Auf die am 1. Oktober 2013 erhobene Klage hin hat das Sozialgericht den
Arzt für Psychiatrie, forensische Psychiatrie und suchtmedizinische Grundversorgung Dr. Jochen B. mit der Erstellung eines
Gutachtens beauftragt. Dieser hat ausgeführt, die Versicherte sei zur Krankenhausaufnahme aufgrund eines instabilen psychischen
Zustandsbildes gelangt, welches im Aufnahmezeitpunkt gekennzeichnet gewesen sei durch eine emotionale Instabilität verbunden
mit Depressivität sowie einem vorangegangenen Alkoholrückfallgeschehen. Aus suchtmedizinischer Sicht sei die Patientin im
Zeitraum vom 6. Juni 2012 bis 15 Juni 2012 mit den besonderen Mitteln eines Krankenhauses umfangreich behandelt, jedoch auf
Druck der Krankenkasse entlassen worden, obwohl sie sich zum Entlassungszeitpunkt in einem noch nicht ausreichend psychisch
stabilen Zustandsbild befunden habe. Die vorbestehende Medikation von V. sei erhöht worden, sowie T. zur Nacht mediziniert
worden. Die Versicherte habe des Weiteren an mehreren Terminen an der Akupunktur/Entspannungsbehandlung teilgenommen. Auch
an der Ergotherapie habe sie sich am 8. Juni und am 12. Juni 2012 beteiligt. Am 12. Juni 2012 sei darüber hinaus eine Vorstellung
in der Vorsorge der therapeutischen Wohngemeinschaft J. (T1) erfolgt. Die Patientin habe sich aktiv an dem in der Klinik vorgehaltenen
umfangreichen therapeutischen Programm beteiligt und habe insbesondere dahingehend profitiert, dass eine Aufnahme in einer
weiterführenden Einrichtung (T1) geplant worden sei und durch den stationären Aufenthalt insbesondere ein Rückfall in die
manifeste Alkoholabhängigkeitserkrankung habe vermieden werden können. Ein stationäres Setting sei bei bestehendem erheblichem
Suchtdruck geeignet gewesen, die erhebliche Gefahr eines Rückfalls in die manifeste Abhängigkeit bei bestehendem psychiatrischen
komorbiden Erkrankungen zu behandeln. Eine Abweisung der Patientin hätte in dieser Situation mit Sicherheit dazu geführt,
dass bei der Patientin erneut eine Verschlimmerung hinsichtlich der bei ihr bestehenden chronischen Alkoholabhängigkeitserkrankung
eingetreten wäre. Die Patientin habe aufgrund ihrer Situation und ihres psychopathologischen Zustandsbildes dringend den Schutzraum
bzw. das therapeutische Setting eines Krankenhauses benötigt. Eine ambulante Behandlung wäre in diesem Falle nicht ausreichend
gewesen, allein die stationäre Aufnahme habe eine Verschlimmerung des Krankheitsbildes verhindern können. Es entspreche insgesamt
den Leitlinien, wiederholte Motivationsarbeit während eines stationären Aufenthaltes zu leisten, damit der jeweils Betroffene
eine weiterführende Behandlung im Rahmen einer Entwöhnungsbehandlung annehme. Genau dieses Ziel habe bei der Patientin neben
dem Erhalt einer Abstinenz bzw. der Verhinderung eines erneuten Rückfalls erreicht werden können. Insgesamt entspreche die
Behandlung den Leitlinien und habe ausschließlich der Wiederherstellung eines stabileren psychischen Zustandsbildes und der
Vermeidung eines Rückfalls in eine manifeste Abhängigkeitserkrankung gedient. Mit Urteil vom 16. Oktober 2015 hat das Sozialgericht
die Klage abgewiesen, im Wesentlichen mit der Begründung, es sei nicht Aufgabe der Krankenhausbehandlung, Patienten in Abstinenz
zu halten und ihnen bloß einen Schutzraum zu bieten. Feste Anhaltspunkte dafür, dass es ohne die stationäre Aufnahme der Versicherten
zu einem Rückfall gekommen wäre, seien nicht ersichtlich. Im Aufnahmezeitpunkt sei auch keine erhebliche Depressivität oder
emotionale Instabilität dokumentiert. Auch die Verlaufsdokumentation spreche insgesamt eher für das Gegenteil bzw. für eine
nur leichtgradige Ausprägung der komorbiden Erkrankung. So sei die Versicherte in stabilem Zustand in das Krankenhaus gekommen.
Der Darlegung des Sachverständigen sei es nicht gelungen aufzuzeigen, aus welchen medizinischen Gründen Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit
bestanden habe. Die Klägerin hat gegen das ihr am 5. Februar 2016 zugestellte Urteil am 4. März 2016 Berufung eingelegt. Sie
trägt vor, es sei nicht nachvollziehbar, warum das Sozialgericht sich kritiklos der unzutreffenden Auffassung des MDK angeschlossen
habe und das neutrale Gutachten des ausgewiesenen Suchtmediziners Dr. B. verworfen habe. Die Patientin habe während des gesamten
Zeitraums der vollstationären Behandlung bedurft. Neben massivem Suchtdruck hätten bei der Aufnahme depressive Einbrüche,
Niedergeschlagenheit sowie Anspannungszustände und aggressive Impulse bestanden. Diese seien lediglich im Zeitpunkt der Aufnahme
(Momentaufnahme) nicht so deutlich ausgeprägt gewesen. Bereits wenige Tage zuvor habe sich die Patientin aufgrund einer akuten
Krisensituation in der psychiatrischen Notaufnahme befunden. Hieraus zeige sich eine deutliche psychische Instabilität, die
auch durch die vorbestehenden Diagnosen einer Depression sowie einer Persönlichkeitsstörung vom Borderlinetyp nachvollziehbar
seien. Dies zeige sich auch aus der Notwendigkeit einer sedierenden Benzodiazepin-Medikation während des Aufenthaltes. Dass
die Patientin sich selbst in den "Schutzraum" des Krankenhauses begeben habe, zeige den Erfolg der Vorbehandlung. Ein erneuter
Rückfall hätte zu einer weiteren Chronifizierung der Erkrankung geführt, weshalb die Aufnahme auch zur Vermeidung der Verschlimmerung
der Erkrankung notwendig gewesen sei. Belastungserprobungen während der Behandlung seien integraler Bestandteil der Therapie
und dienten dazu, dem Patienten zu ermöglichen, sich in seinem sozialen Umfeld zu organisieren und die eigene psychische Belastbarkeit
zu testen und dabei die erlernten Strategien anzuwenden. Hieraus auf eine angeblich einer stationären Behandlungsnotwendigkeit
entgegenstehende psychische Stabilität zu schließen, sei völlig verfehlt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Oktober 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.130,42
EUR nebst 2% Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 18. April 2013 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und ist der Auffassung, dass es fraglich sei, ob die Diagnose der
Depressivität der Versicherten für eine Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit ausreichend gewesen sei. Dr. S. habe in seiner
Beurteilung vom 4. August 2014 ausgeführt, dass keine Suizidalität vorgelegen habe und auch die weiteren Verlaufseintragungen
praktisch durchgehend einen relativ guten und stabilen psychischen Zustand vermerkt hätten. Der Senat hat den Sachverständigen
Dr. B. in der mündlichen Verhandlung vom 28. September 2017 zum Inhalt seines Gutachtens angehört. Der Sachverständige hat
im Wesentlichen ausgeführt, bei der Versicherten habe es sich um eine trotz ihrer Jugend bereits schwer an Alkoholabhängigkeit
erkrankte Patientin gehandelt. Schon die Vorgeschichte der diversen Voraufenthalte in stationärer Unterbringung mache deutlich,
dass eine Entwöhnung bei der Versicherten bis dahin nicht erreicht worden sei. Der Umstand, dass die Patientin sich telefonisch
vorab bei der Klinik um einen weiteren Aufenthalt bemüht habe, sei ein deutlicher Hinweis auf eine positive Entwicklung. Im
Zeitpunkt, als sie ihren Aufenthalt angebahnt habe, habe sie bereits wieder getrunken, bei der Aufnahme sei sie dann jedoch
nüchtern gewesen. Hieran werde ganz deutlich, dass die Patientin in den Voraufenthalten nicht hinreichend stabilisiert worden
sei, so dass der letzte Aufenthalt unbedingt erforderlich gewesen sei, um die Grundlage für die danach geplante Vorsorgebehandlung
in der T1 zu schaffen. Dies sei auch leitliniengerecht. Das Ziel der stationären Behandlung ergebe sich insoweit einschlägig
aus der DG-Sucht. Die Versicherte habe im Krankenhaus an dem dort vorgehaltenen therapeutischen Programm teilgenommen (therapeutische
Gespräche, Akupunktur gegen das craving, Ergotherapie). In diesem Umfang werde ein therapeutisches Programm in der T1 nicht
vorgehalten. Die Versicherte sei auch im Laufe des Aufenthaltes immer wieder emotional instabil gewesen, mit akuter Depression
und Antriebsminderung. Hiergegen sei dann V. erhöht dosiert und der therapeutische Kontakt intensiviert worden. Für eine Reha
müsse eine zumindest zeitweise stabile Abstinenz bestehen, die Reha diene dann der Erlangung einer dauerhaften Abstinenz.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der
ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 28. September 2017 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten und
Unterlagen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz ( SGG)) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben. Sie ist auch begründet. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs. 4 S. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung ( SGB V), § 17b Abs. 1 S. 10 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) und § 7 Nr. 1, § 9 Abs. 1 Nr. 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) in Verbindung mit der hier maßgeblichen Vereinbarung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser für das Jahr 2012
sowie dem am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Vertrag Allgemeine Bedingungen Krankenhausbehandlung vom 19. Dezember 2002
zwischen der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft e.V. und unter anderem der Beklagten (Vertrag nach § 112 SGB V). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entsteht die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse unabhängig
von einer Kostenzusage unmittelbar mit der Inanspruchnahme einer Leistung durch den Versicherten, wenn die Versorgung in einem
zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinne des § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V erforderlich ist (BSG, Urteil vom 16.05.2012 - B 3 KR 14/11 R - Juris). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Insbesondere kann die Beklagte dem Vergütungsanspruch der Klägerin nicht
entgegenhalten, dass eine vollstationäre Behandlung der Versicherten nicht erforderlich gewesen wäre, weil insoweit eine ambulante
Behandlung ausgereicht hätte (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB V). Die Auffassung der Beklagten, eine Krankenhausbehandlung diene nicht dazu, einen Rückfall zu vermeiden und einen Weg in
die weiterführende Behandlung zu bahnen, greift im Falle der hier durchgeführten qualifizierten Entzugsbehandlung zu kurz.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist allerdings Krankenbehandlung, die nicht der besonderen Mittel eines Krankenhauses bedarf, grundsätzlich ambulant durchzuführen;
insbesondere die vollstationäre Krankenhausbehandlung ist nachrangig gegenüber allen anderen Arten der Krankenbehandlung (vgl.
§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB V, der insoweit eine Abstufung der Behandlungsformen formuliert: "weil ... nicht"). Ob die notwendige medizinische Versorgung
nur mit den besonderen Mitteln eines Krankenhauses durchgeführt werden kann, ist immer an Hand der Umstände des konkreten
Einzelfalles zu beurteilen; es kommt auf die Art und Schwere der Krankheit im Einzelfall an und ob dafür die medizinische
Versorgung eines Versicherten gerade im Krankenhaus notwendig ist. Allerdings lässt sich die Frage, ob ambulante oder stationäre
Behandlung angezeigt ist, nicht immer eindeutig beantworten. So hat der 1. Senat des BSG (Urteil vom 4. April 2006, Az: B 1 KR 5/05 R) darauf hingewiesen, dass für die ärztliche Entscheidung, Behandlungsverfahren ambulant oder stationär durchzuführen, vor
allem Risikoabwägungen ausschlaggebend sind. Dabei kommt es insbesondere auf den Gesundheitszustand des Versicherten an, aber
auch andere Faktoren können eine Rolle spielen, denn eine medizinische Versorgung, die als solche nach dem allgemein anerkannten
Stand der medizinischen Erkenntnisse in der Regel ambulant vorgenommen wird, kann gleichwohl auf Grund besonderer Gegebenheiten
des Einzelfalles eine stationäre Krankenhausbehandlung erfordern. Entscheidend ist zudem, dass eine nach den Regeln der ärztlichen
Kunst geeignete ambulante Variante überhaupt zur Verfügung steht, und zwar so, dass sie für den Versicherten verfügbar und
in zumutbarer Weise erreichbar ist. Besonders problematisch kann die grundsätzliche Abgrenzung stationär - ambulant im Bereich
psychiatrischer Erkrankungen sein. Denn Versicherte mit einem schweren psychiatrischen Leiden haben nach der Rechtsprechung
des BSG Anspruch auf stationäre Krankenhausbehandlung, wenn nur auf diese Weise ein erforderlicher komplexer Behandlungsansatz durch
das Zusammenwirken eines multiprofessionellen Teams unter fachärztlicher Leitung erfolgversprechend verwirklicht werden kann
(BSGE 94, 139 = SozR 4-2500 § 112 Nr 4; BSGE 94, 161 = SozR 4-2500 § 39 Nr 4). Vor allem bei psychiatrischer Behandlung - und um eine solche handelt es sich auch im Falle einer
Suchtbehandlung - kann der Einsatz von krankenhausspezifischen Gerätschaften in den Hintergrund treten und allein schon die
Notwendigkeit des kombinierten Einsatzes von Ärzten, therapeutischen Hilfskräften und Pflegepersonal sowie die Art der Medikation
die Möglichkeit einer ambulanten Behandlung ausschließen und eine stationäre Behandlung erforderlich machen. Bei einem erforderlichen
komplexen Behandlungsansatz durch Zusammenwirken eines multiprofessionellen Teams unter fachärztlicher Leitung ist zu prüfen,
ob ein solcher nach den Regeln der ärztlichen Kunst ambulant überhaupt realisierbar war und für den Versicherten in Anbetracht
seines Gesundheitszustandes in zumutbarer Weise zur Verfügung gestanden hätte (BSG, Urteil vom 10. April 2008 - B 3 KR 19/05 R -). Letzteres war hier nur in Form der stationären Krankenhausbehandlung der Fall. Vorliegend ist dabei insbesondere zu berücksichtigen,
dass im Falle einer Alkoholerkrankung nach den Leitlinien "Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen"
(Leitlinie Sucht, Stand: 28.2.2016) zu unterscheiden ist zwischen der reinen körperlichen Entgiftung und der sich in der Regel
bei entsprechender Indikation anschließenden qualifizierten Entzugsbehandlung. In den Leitlinien heißt es insoweit: "Als wesentliches
Abgrenzungsmerkmal ist anzusehen, dass sich die "körperliche Entgiftung" auf die Behandlung einer Komplikation der Grunderkrankung
Alkoholabhängigkeit beschränkt, nämlich die Alkoholintoxikation bzw. den Alkoholentzug, wohingegen dies nur einen Aspekt der
‚qualifizierten Entzugsbehandlung‘ darstellt. Zwingend zielen hier wesentliche Behandlungsbausteine auf die eigentliche
Grunderkrankung Alkoholabhängigkeit ab." Die qualifizierte Entzugsbehandlung wird dabei wie folgt definiert: "Grundsätzlich
erfolgt eine Behandlung der Intoxikations- und Entzugssymptome und eine Diagnostik und Behandlung der psychischen und somatischen
Begleit- und Folgeerkrankungen. Essenziell für eine qualifizierte Entzugsbehandlung sind psycho- und soziotherapeutische sowie
psychosoziale Intervention zur Förderung der Änderungsbereitschaft, der Änderungskompetenz und der Stabilisierung der Abstinenz.
Im Rahmen der qualifizierten Entzugsbehandlung soll die Motivation zur Inanspruchnahme weiterführender Hilfen gesteigert und
entsprechende Kontakte in das regionale Hilfesystem gebahnt werden (z.B. Selbsthilfe, Psychotherapie, soziale Arbeit). Bei
entsprechender Indikation erfolgt die Vermittlung in spezifische Behandlungsangebote, wie z.B. in die soziale oder medizinische
Rehabilitation. Aufgrund der oben angegebenen multidisziplinär zu erbringenden Behandlungsleistungen und zur suffizienten
Differentialdiagnostik und Behandlung psychischer und somatischer Folge- und Begleiterkrankungen ist die Dauer einer qualifizierten
Entzugsbehandlung länger als bei einer körperlichen Entgiftung." Die qualifizierte Entzugsbehandlung dauert leitliniengerecht
in der Regel 21 Behandlungstage. Weiter heißt es in der Leitlinie: "Dies führt im Bereich der Entgiftungsbehandlung zur unbefriedigenden
Situation, dass die von Leistungsträgerseite häufig gewünschte Beschränkung auf die Akutbehandlung des körperlichen Entzugssyndroms
weder eine ausreichende Behandlung der häufig länger als die körperlichen Symptome anhaltenden psychischen Entzugssymptome,
wie Suchtdruck, Irritabilität, Konzentrationsstörung, innere Unruhe, Dysphorie, Affektlabilität, Angst und Schlafstörungen,
gestattet, noch die Mitbehandlung der eigentlich zu Grunde liegenden Erkrankung, nämlich der Alkoholabhängigkeit. Ferner drohen
die in ihrer Motivationslage oft ambivalenten Patienten der Akutbehandlung auf dem Weg in weiterführende Behandlungs- und
Rehabilitationsmaßnahmen an den zum Teil erheblichen administrativen Hürden und Wartezeiten zu scheitern. Hieraus ist in Deutschland
das Konzept der qualifizierten Entzugsbehandlung entstanden, um eine stabilere weiterreichende Therapiemotivation entwickeln
zu können und die bestehenden Schnittstellenhürden zu reduzieren". Unter Berücksichtigung der Leitlinie hält der Senat die
Ausführungen des Sachverständigen für nachvollziehbar und schließt sich diesen an. Die Dokumentation des streitigen Aufenthalts,
insbesondere der Ereignisse und der psychosozialen Auffälligkeiten der Versicherten vor der Aufnahme mag im Einzelnen eher
knapp und auf das Wesentliche fokussiert sein. Dies liegt aber nicht zuletzt an der umfangreichen in der Akte dokumentierten
Vorgeschichte der Versicherten. Nach den Ausführungen des Sachverständigen hat die Versicherte aufgrund der bestehenden Depression
und der Borderlineerkrankung, der zahlreichen vorangegangenen Alkoholrückfallgeschehen und der psychosozialen Folgen, die
der Alkoholkonsum bereits in ihrem noch recht jungen Leben hinterlassen hatte, auch und gerade in Anbetracht ihres noch jugendlichen
Alters besondere psychische Risikofaktoren aufgewiesen, die dazu geführt haben, dass die qualifizierte Entzugsbehandlung stationär
durchzuführen war. Dabei ist auch der Umstand, dass die Versicherte überhaupt für eine Vermittlung in eine weiterführende
Maßnahme in Betracht kam und hierfür motiviert war, von entscheidender Bedeutung. Der Sachverständige hat in der mündlichen
Verhandlung überzeugend ausgeführt, dass nur wenige Alkoholkranke (nur 3-4 % der suchtkranken Alkoholiker) Krankheitseinsicht
zeigen und sich überhaupt für eine weiterführende Maßnahme motivieren lassen und dass eine derartige Motivation zu stützen
und zu fördern ist, weil ansonsten die fragile Motivation wieder zu zerbrechen und das Zeitfenster für eine Konsolidierung
der körperlichen Abstinenz sich zu schließen droht. Vor diesem Hintergrund kann nicht gefordert werden, dass die Aufnahme
in eine qualifizierte Entzugsbehandlung eine bestehende Alkoholisierung bei dem Versicherten voraussetzt. Ein erheblicher
Suchtdruck ist vielmehr ausreichend. Dass ein solcher bei der Versicherten nach der Vorgeschichte und den bestehenden Vorerkrankungen
bei der Patientin vorlag, steht zur Überzeugung des Senats in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Sachverständigen fest.
Anhaltspunkte dafür, dass in diesem konkreten Fall keine Aussicht auf Erfolg der qualifizierten Entzugsbehandlung bestand
in dem Sinne, dass diese erfolgreich in eine weiterführende Maßnahme einmünden könne, bestanden nicht. Ausgehend davon, dass
nämlich vorliegend die behandelte Krankheit nicht ein Rauschzustand, sondern das bei der Versicherten unstreitig nach ICD
10 F 10.2 bestehende Abhängigkeitssyndrom als psychische und Verhaltensstörung durch Alkohol gewesen ist und eine ambulante
Behandlung dieses Syndroms wegen des bestehenden Suchtdrucks, bestehender komorbider psychiatrischer Erkrankungen und der
daraus resultierenden Gefahr eines Rückfalls nicht ausreichend gewesen wäre, eine Verfestigung und Verschlimmerung dieser
Krankheit zu verhindern, ist der Senat davon überzeugt, dass das therapeutische Setting einer stationären Krankenhausbehandlung
notwendig war, um die medizinische Versorgung der Versicherten sicherzustellen. Dass diese medizinische Versorgung in diesem
speziellen Fall unter anderem auch darin bestand, die notwendige Abstinenz bis zur Einmündung in die bereits angebahnte Rehabilitationsmaßnahme
zu gewährleisten, steht dem nicht entgegen, denn nach der Leitlinie Sucht ist die Bahnung der Kontakte in weiterführende Maßnahmen
Teil der qualifizierten Entzugsbehandlung.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
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