Rechtmäßigkeit der Versagung von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II
Kein Rechtsschutzbedürfnis für die isolierte Feststellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Versagensbescheid
Erforderlichkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
Gründe:
I.
Der Antragsteller wendet sich mit einem als Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu qualifizierenden Begehren gegen die Versagung
von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) im Jahre 2016.
Nachdem der Antragsgegner auf einen ersten, im November 2015 gestellten Antrag des Antragstellers laufende Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch durch Bescheid vom 4. Februar 2016 und Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 2016 insbesondere wegen Unklarheiten hinsichtlich
der Bedarfe für Unterkunft und Heizung vollständig versagt hatte, stellte der im Jahre 1982 geborene Antragsteller am 14.
April 2016 erneut einen Antrag auf Arbeitslosengeld II (Leistungsakte - im Folgenden: LA - Bl. 135 ff.). Auch auf diesen erneuten
Antrag hin versagte der Antragsgegner die Leistungen auf der Grundlage von §
66 Abs.
1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (
SGB I), und zwar durch Bescheid vom 5. August 2016 (LA Bl. 198 ff.), da der Antragsteller wiederum seinen Mitwirkungspflichten
nicht nachgekommen sei. Hiergegen legte dieser, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigte, am 10. August 2016 Widerspruch
(LA Bl. 216) ein und machte dabei ergänzende Angaben zur Sache.
Anträge auf gerichtlichen einstweiligen Rechtsschutz, die der Antragsteller zeitnah zu diesen Anträgen angebracht hatte, blieben
erfolglos (Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 11. Mai 2016 - S 24 AS 99/16 ER - und anschließend Beschlüsse des Hess. Landessozialgerichts vom 1. Juni 2016 - L 9 AS 420/16 B ER - und vom 13. Juli 2016 - L 9 AS 488/16 RG -; Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 14. Juli 2016 - S 24 AS 720/16 ER - und anschließend Beschluss des Hess. Landessozialgerichts vom 29. Juli 2016 - L 9 AS 557/16 B ER -, wobei in diesem Verfahren der Erlass einer einstweiligen Anordnung wegen der laufenden Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts ab dem 4. Juli 2016 streitig war).
Mit Schreiben vom 3. November 2016 (LA Bl. 224), eingegangen am 8. November 2016, teilte der Antragsteller persönlich dem
Antragsgegner mit, dass er seinen Widerspruch gegen dessen Bescheid zurücknehme. Er werde seiner Anwältin das Mandat entziehen
und wolle kein Gerichtsverfahren mehr.
Auf einen neuen, bald darauf - am 15. November 2016 - beim Antragsgegner eingegangenen Antrag (LA Bl. 229 ff.) gewährte dieser
dem Antragsteller schließlich durch Bescheid vom 16. Juni 2017 - nachdem er die Leistungen zunächst erneut vollständig versagt
hatte - Leistungen ab dem 1. Februar 2017.
Die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers hat in dessen Namen am 18. April 2018 Untätigkeitsklage zum Sozialgericht Darmstadt
wegen der Bescheidung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 5. August 2016 erhoben. Sie hat vorgetragen, sie selbst habe
bei durchgängiger Bevollmächtigung - der Antragsteller habe das Mandat zu keiner Zeit beendet - den Widerspruch nicht zurückgenommen.
Auch der Antragsteller habe dies nicht tun wollen. Er habe nicht verstanden, was er unterschreibe, da er nicht gut Deutsch
könne. Er habe nicht gewusst, dass er damit auf gesetzliche Ansprüche verzichte. Auch sei anhand des Widerspruchsschreibens
nicht zu erkennen, welcher Widerspruch gegen welchen Bescheid zurückgenommen werde. Es seien "noch mehr Bescheide, Sachen,
Anträge etc." beim Antragsgegner anhängig gewesen.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 29. Mai 2019 abgewiesen und zur Begründung namentlich ausgeführt,
die Untätigkeitsklage sei bereits unzulässig. Der Widerspruch vom 10. August 2016 gegen den Bescheid vom 5. August 2016 sei
nicht mehr anhängig. Der Antragsteller habe den Widerspruch durch sein Schreiben an den Antragsgegner vom 3. November 2016
zurückgenommen. Etwaige Willensmängel - etwa ein Irrtum hinsichtlich des Inhalts seiner Erklärung - seien unbeachtlich.
Der Antragsteller hat durch seine Bevollmächtigte am 28. Juni 2019 Berufung eingelegt und dabei - neben der Fortführung seines
erstinstanzlichen Begehrens und einem weiteren, auf die Hauptsache bezogenen Feststellungsantrag - beantragt, "festzustellen,
dass der Widerspruch gegen den Bescheid [des Antragsgegners] vom 05.08.2016 aufschiebende Wirkung hat und der Beklagte die
aufschiebende Wirkung nicht beachtet". Der Senat hat mit Berichterstatterschreiben vom 8. Januar 2020 darauf hingewiesen,
dass dieser Antrag als einstweiliges Rechtsschutzbegehren zu verstehen, aber voraussichtlich unzulässig sein dürfte. Die Bevollmächtigte
des Antragstellers hat daraufhin mitgeteilt, der Antrag, festzustellen, dass der Antragsgegner die aufschiebende Wirkung missachte,
sei zulässig, weil der Antragsteller ein "ideelles, rechtliches, finanzielles Interesse an der Feststellung" habe, da es um
das Existenzminimum gehe und der Antragsgegner den Antragsteller "durch seine rechtswidrige totale auf ewige Versagung etc."
diskriminiere (Gerichtsakte Bl. 63).
II.
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist unzulässig.
1. Das von der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers im Berufungsschriftsatz formulierte Begehren ist trotz seiner absehbaren
Erfolglosigkeit als Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz und konkret als Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung
(auf der Grundlage einer entsprechenden Anwendung von §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 Sozialgerichtsgesetz -
SGG -) anzusehen, nachdem die Prozessbevollmächtigte auch vor dem Hintergrund der Hinweise aus dem Berichterstatterschreiben
vom 8. Januar 2020 in ihrem Schreiben vom 10. März 2020 an dem Antrag unverändert festgehalten hat.
2. Der Senat ist für die Entscheidung zuständig, nachdem über Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz nach §
86b Abs.
1 Satz 1 und Abs.
2 SGG das Gericht der Hauptsache zu entscheiden hat. Ist das Hauptsacheverfahren in der Berufungsinstanz anhängig, ist somit das
Berufungsgericht zur Entscheidung (auch) über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz berufen.
3. Der Antrag ist jedoch unzulässig.
Er ist zwar im Ausgangspunkt statthaft: In Fällen, in denen ein Rechtsbehelf von Gesetzes wegen nach §
86a Abs.
1 Satz 1
SGG aufschiebende Wirkung hat, kann der Betreffende auf der Grundlage einer entsprechenden Anwendung von §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG die gerichtliche Feststellung der aufschiebenden Wirkung verlangen, sofern die Verwaltung diese nicht beachtet (vgl. für
viele Keller, in: Meyer-Ladewig u.a.,
SGG - Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 15). Der Fall der Versagung einer Leistung nach §
66 Abs.
1 SGB I, also der Nichtbewilligung einer beantragten Leistung mit Rücksicht auf die unzureichende Erfüllung von Mitwirkungsobliegenheiten,
ist auch nach den mit dem Neunten Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26. Juli 2016
(BGBI. I S. 1824; im Folgenden: Rechtsvereinfachungsgesetz) bewirkten Änderungen des Sozialgesetzbuches Zweites Buch in §
39 SGB II nicht genannt, so dass Versagensbescheide - weiterhin - von Gesetzes wegen nicht sofort vollziehbar sind (so auch Burkiczak,
in: BeckOK-SozR, § 39 SGB II Rn. 5; Greiser, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage 2017, § 39 Rn. 19; Aubel, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 39 (Stand: 01.03.2020) Rn. 15; Keller, in: Meyer-Ladewig u.a.,
SGG - Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 86a Rn. 16b; Kallert, in: Gagel, SGB II /
SGB III, Werkstand: März 2020, §
39 Rn. 25; vgl. auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 27. April 2017 - L 7 AS 277/17 B ER -, juris, Rn. 35). Dieses Auslegungsergebnis unterliegt schon angesichts der als Aufzählung ausgestalteten Regelung
in § 39 Nr. 1 SGB II - in der die Versagung fehlt - letztlichen keinem Zweifel. Hinzu kommt, dass durch das Rechtsvereinfachungsgesetz für die
Entziehung, also die andere Alternative des §
66 SGB I, die sofortige Vollziehbarkeit von Gesetzes wegen eingeführt und damit die diesbezüglich zuvor bestehende Zweifelsfrage geklärt
wurde, während die Versagung in § 39 Nr. 1 SGB II weiterhin nicht genannt ist; dies kann nicht anders denn als "beredtes Schweigen" des Gesetzgebers verstanden werden. Eine
entsprechende Anwendung kommt schließlich ebenfalls nicht in Betracht: Abgesehen von der danach fehlenden Lückenhaftigkeit
der gesetzlichen Regelung gibt es hierfür auch inhaltlich keine Grundlage: Die in § 39 Nr. 1 SGB II aufgeführten und auf Leistungen der Grundsicherung bezogenen Entscheidungen (Aufhebung, Rücknahme, Widerruf und Entziehung)
betreffen durchgängig bereits bewilligte Leistungen und unterscheiden sich dadurch grundlegend von der Versagung, die sich
begrifflich gerade auf einen noch offenen Antrag bezieht.
Allerdings erreicht der Betroffene - gerade aus diesem Grunde - im Falle der Versagung sein vorläufiges Rechtsschutzziel noch
nicht, wenn diese nicht vollzogen werden kann: Auch wenn sich der Antragsgegner wegen der aufschiebenden Wirkung vorläufig
nicht auf die Versagung berufen darf, steht damit noch nicht fest, dass dem Antragsteller - und sei es auch nur vorläufig
- Leistungen zu gewähren sind. Für eine isolierte Feststellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen
Versagensbescheid fehlt es daher am Rechtsschutzbedürfnis, da der Betroffene seine Rechtsposition damit nicht entscheidend
verbessern kann.
Angesichts dieser dogmatischen Zusammenhänge ist im konkreten Fall das Rechtsschutzbedürfnis zudem deswegen sehr zweifelhaft,
weil aus dem bloßen Umstand, dass der Antragsgegner entsprechende Leistungen nicht erbringt, nicht geschlossen werden kann,
dass er den Eintritt der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich des Versagensbescheides in Frage stellt (zum Rechtsschutzbedürfnis
bei einem Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung vgl. nochmals Keller, in: Meyer-Ladewig u.a.,
SGG - Kommentar, 12. Aufl. 2017, §
86b Rn. 15).
Der Antragsteller ist somit jedenfalls ergänzend auf einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verwiesen (vgl.
LSG Stuttgart, Beschluss vom 8. April 2010 - L 7 AS 304/10 ER-B -; LSG für das Saarland, Beschluss vom 2. Mai 2011 - L 9 AS 9/11 B ER -, NZS 2012, 32; Keller, in: Meyer-Ladewig u.a.,
SGG - Kommentar, 12. Aufl. 2017, §
86b Rn. 29b). Einen entsprechenden Antrag hat der anwaltlich vertretene Antragsteller trotz des Hinweises auf diese Problematik
im Berichterstatterschreiben vom 8. Januar 2020 nicht gestellt, so dass eine ergänzende Auslegung nur schwerlich in Betracht
kommt.
4. Selbst wenn man dies aber - mit Blick auf den sogenannten Meistbegünstigungsgrundsatz und unter entsprechender Anwendung
von §
123 SGG - anders sehen wollte, könnte der Antragsteller keinen Erfolg haben. Geht man zu seinen Gunsten davon aus, dass sein Begehren
im Wege der ergänzenden Auslegung als (auch) auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung korrespondierend zu dem im hiesigen
Hauptsacheverfahren streitigen Bescheid vom 5. August 2016 und dessen Regelungsgehalt gerichtet verstanden werden kann, könnte
diese nur den Zeitraum vom 1. Mai 2016 bis 14. November 2016 betreffen. Wegen der Zäsurwirkung des am 15. November 2016 gestellten
neuen Antrags, der durch die nachfolgenden Verwaltungsakte vom 17. Februar 2017 und vom 16. Mai 2017 beschieden wurde, sind
Leistungen ab diesem Tag nicht Gegenstand des hiesigen Verfahrens.
Soweit der damit streitige Zeitraum bereits Gegenstand der vorangegangenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes war,
ist der Antrag auf Grund der entgegenstehenden Rechtskraft der ablehnenden Entscheidungen dort bereits unzulässig (zur materiellen
Rechtskraft von Entscheidung über Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vgl. nur Keller, in: Meyer-Ladewig u.a.,
SGG - Kommentar, 12. Aufl. 2017, §
86b Rn. 44a und §
141 Rn. 5). Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, die eine neue inhaltliche Entscheidung erlauben würde, ist nicht ersichtlich
und nicht vorgetragen.
Im Übrigen fehlt es durchgängig an den Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, die vorliegend allein
in Form einer Regelungsanordnung nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG in Betracht kommt.
Das Gericht kann eine entsprechende Anordnung erlassen, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint.
Ein solcher Nachteil ist (nur) anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher
Leistungsanspruch in der Hauptsache - mit hinreichender Wahrscheinlichkeit, wobei die diesbezüglichen Anforderungen auf Grund
des funktionellen Zusammenhangs mit dem Anordnungsgrund unterschiedlich sind - zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits
nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch
und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung).
An der Glaubhaftmachung fehlt es im konkreten Fall trotz anwaltlicher Vertretung vollständig. Im Übrigen zielt eine Regelungsanordnung
gerade im Bereich des Existenzsicherungsrechts auf die Abwendung einer gegenwärtigen, durch die in Frage stehende Leistung
beziehungsweise deren Ausbleiben verursachten Notlage. Sie kann daher regelmäßig nicht für Leistungszeiträume in der Vergangenheit
erlassen werden, sofern nicht ausnahmsweise glaubhaft gemacht wird, dass eine dadurch verursachte Notlage gegenwärtig fortwirkt
(vgl. für viele Keller, in: Meyer-Ladewig u.a.,
SGG - Kommentar, 12. Aufl. 2017, §
86b Rn. 35a). Eine fortwirkende Notlage wegen der Leistungsversagung im Jahre 2016 ist aber nicht ansatzweise ersichtlich; an
einer Glaubhaftmachung fehlt es, wie bereits ausgeführt, vollständig.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.