Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II
Rechtmäßigkeit der Aufrechnung mit einem Darlehensrückzahlungsanspruch
Kein Erfordernis einer vorherigen Festsetzung durch Bescheid
Anforderungen an eine zeitliche Begrenzung der Realisierung eines Darlehensrückzahlungsanspruchs
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Aufrechnung des Beklagten mit einem Darlehensrückzahlungsanspruch gegen der Klägerin zustehende
laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II).
Die 1962 geborene Klägerin erhält, soweit ersichtlich, seit Januar 2005 Arbeitslosengeld II von dem Beklagten beziehungsweise
dessen Rechtsvorgängerin (im Folgenden einheitlich: Beklagter), wobei es immer wieder zu Konflikten wegen der Leistungshöhe
und namentlich (auch) wegen der Berücksichtigung von Mehrbedarfen für den Erwerb von Körperpflegeprodukten kam. Hierzu verpflichtete
das Sozialgericht Kassel den Beklagten durch Beschluss vom 29. Juli 2014 – S 10 AS 134/14 ER – im Wege der einstweiligen Anordnung, der Antragstellerin vorläufig „Mehrbedarfsleistungen als Darlehen“ für Körperpflegeprodukte
in Höhe von monatlich 120,- Euro ab dem 24. Juni 2014 zu bewilligen. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 124 ff. der beigezogenen
Akte des Sozialgerichts Kassel zum genannten Verfahren Bezug genommen.
Der Beklagte setzte diesen Beschluss durch Bescheid vom 4. oder 5. August 2014 um. Auch in den folgenden Bewilligungszeiträumen
erbrachte er unter Verweis auf den Beschluss des Sozialgerichts darlehensweise Leistungen wegen der geltend gemachten Mehrbedarfe
für den Erwerb von Körperpflegeprodukten unter dem Vorbehalt einer abschließenden Entscheidung im sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren
(Darlehensbescheide des Beklagten über 120,- Euro monatlich für Körperpflegeprodukte vom 19. Januar 2015 für die Zeit vom
1. Januar 2015 bis 30. Juni 2015, vom 30. Juni 2015 für die Zeit vom 1. Juli 2015 bis 31. Dezember 2015, vom 19. Januar 2016
für die Zeit vom 1. Januar 2016 bis 30. Juni 2016, vom 27. Juni 2016 für die Zeit vom 1. Juli 2016 bis 31. Dezember 2016,
vom 21. Dezember 2016 für die Zeit vom 1. Januar 2017 bis 30. Juni 2017 sowie vom 1. August 2017 für die Zeit vom 1. Juli
2017 bis 30. Juni 2018; wegen des Bescheides vom 21. Dezember 2016 wird auf Bl. 106 der zur Klägerin geführten Leistungsakte
des Beklagten – im Folgenden: LA –, wegen des Bescheides vom 1. August 2017 auf LA Bl. 249 Bezug genommen). Hinsichtlich der
Rückzahlung wartete der Beklagten den Ausgang der laufenden sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren ab.
Nach umfangreichen medizinischen Ermittlungen und namentlich der Einholung medizinischer Sachverständigengutachten im Hauptsacheverfahren
S 10 AS 389/12 wies das Sozialgericht Kassel mit Urteilen vom 17. November 2017 sowohl die Klage im genannten Verfahren – betreffend den
Streitzeitraum von Januar 2011 bis Juni 2012 – als auch im Verfahren S 10 AS 547/14 – betreffend den Streitzeitraum von Juli bis Dezember 2014 – als unbegründet ab. Die Klägerin habe, so hat es zum Streitzeitraum
Juli bis Dezember 2014 ausgeführt, keinen Anspruch auf die von ihr begehrten Mehrbedarfe für kostenaufwändige Ernährung, für
Körperpflegeprodukte und eine Haushaltshilfe. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 528 ff. beziehungsweise Bl. 66 ff. der beigezogenen
Verfahrensakten des Sozialgerichts Kassel zu den Aktenzeichen S 10 AS 389/12 beziehungsweise S 10 AS 547/14 Bezug genommen. Berufung hat die Klägerin in beiden Verfahren nicht eingelegt.
Daran anknüpfend nahm der Beklagte nach Anhörung vom 21. November 2017 durch Änderungsbescheid vom 24. Januar 2018 die Bewilligung
von Mehrbedarfen für kostenaufwändige Ernährung und für Körperpflegeprodukte für die Zukunft, also ab 1. Februar 2018, in
vollem Umfang zurück. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies er mit Widerspruchsbescheid vom 23. Mai 2018 zurück; Klage
erhob die Klägerin, soweit ersichtlich, nicht.
Die Rückzahlungsansprüche wegen der mit Rücksicht auf die Mehrbedarfe für Körperpflegeprodukte gewährten Darlehen, die er
wegen des laufenden gerichtlichen Verfahrens um eine mögliche zuschussweise Gewährung entsprechender Leistungen bis dahin
nicht eingefordert hatte, machte der Beklagte mit Zahlungsaufforderung vom 27. Februar 2018 geltend. Die Gesamtforderung in
Höhe von insgesamt 5.160,- Euro schlüsselte er dabei entsprechend der Darlehensbescheide, die den Zahlungen zugrunde lagen,
näher auf. Wegen der Einzelheiten wird auf LA Bl. 416 ff. Bezug genommen.
Auf die Anhörung der Klägerin mit Schreiben ebenfalls vom 27. Februar 2018 (LA Bl. 424 ff.) wegen einer Aufrechnung der Darlehensrückzahlungsansprüche
machte diese mit Schreiben vom 13. März 2018 geltend, sie verfüge über keine Ersparnisse. Zudem benötige sie die streitigen
Mehrbedarfe, was sich nach anstehenden weiteren Testungen auch herausstellen werde. Für die Übergangszeit, bis daraufhin wieder
entsprechende Leistungen vom Beklagten gezahlt würden, werde sie sich Geld leihen müssen. Eine Aufrechnung sei vor diesem
Hintergrund völlig ausgeschlossen. Auf LA Bl. 428 wird Bezug genommen.
Mit dem streitigen Bescheid vom 21. März 2018 rechnete der Beklagte anschließend seine Forderungen aus den Darlehen in Höhe
von insgesamt 5.160,- Euro ab dem 1. Mai 2018 in monatlichen Raten von 41,60 Euro gegen die laufenden Leistungen auf. Wegen
der Einzelheiten wird auf LA Bl. 440 f. verwiesen.
Auf Grund des Widerspruchs der Klägerin gegen diesen Bescheid (LA Bl. 443) stellte der Beklagte die Aufrechnung ein. Sodann
wies er mit Widerspruchsbescheid vom 2. August 2018 den – von Klägerseite nicht begründeten – Widerspruch zurück. Zur Begründung
führte er insbesondere aus, solange Darlehensnehmer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch bezögen, würden gemäß § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II Rückzahlungsansprüche aus den Darlehen ab dem Monat, der auf die Auszahlung folge, durch monatliche Aufrechnung in Höhe von
zehn Prozent des maßgebenden Regelbedarfes getilgt. Dies sei gegenüber den Darlehensnehmern gemäß § 42a Abs. 2 Satz 3 SGB II schriftlich durch Verwaltungsakt zu erklären. Ein Entschließungsermessen, ob überhaupt aufgerechnet werde, bestehe im Rahmen
der Vorschrift des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II nicht. Der nach § 20 SGB II maßgebliche Regelbedarf belaufe sich für die Klägerin zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides auf monatlich
416,- Euro, was zu einem monatlichen Aufrechnungsbetrag in Höhe von 41,60 Euro führe. Nachdem die anhängigen sozialgerichtlichen
Verfahren zur Klärung der Frage, ob die Klägerin Anspruch auf einen Mehrbedarf für Körperpflegeprodukte habe, abgeschlossen
und solche Bedarfe nicht festgestellt worden seien, seien die ihr gewährten Darlehen fällig zu stellen gewesen. Darüber hinaus
habe eine bis dahin zu Gunsten der Klägerin ausgesetzte Einziehung der Forderung durch Aufrechnung erfolgen müssen. Wegen
der Einzelheiten wird auf LA Bl. 518 ff. Bezug genommen.
Hiergegen hat die Klägerin am 30. August 2018 Klage zum Sozialgericht Kassel erhoben. Zur Begründung hat sie insbesondere
geltend gemacht, sie müsse, da der Beklagte gegen eine Gesamtverbindlichkeit in Höhe von 5.160,- Euro mit monatlichen Raten
in Höhe von 41,60 Euro aufrechne, die nächsten zehn Jahre mit erheblich reduzierten Leistungen auskommen, sofern weiterhin
Bedürftigkeit bestünde. Damit seien die existenznotwendigen Leistungen auf lange Zeit nicht mehr gewährleistet.
Das Sozialgericht hat die Klage durch den angegriffenen Gerichtsbescheid vom 27. November 2019 abgewiesen. Zur Begründung
hat es namentlich ausgeführt, der Aufrechnungsbescheid vom 21. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. August
2018 sei nicht zu beanstanden. Ergänzend zu den Ausführungen des Beklagten, auf die das Gericht Bezug genommen hat, sei auszuführen,
dass die Entscheidung des Sozialgerichts Kassel vom 17. November 2017 (S 10 AS 547/14, neben weiteren Entscheidungen) rechtskräftig geworden sei. Darin habe das Sozialgericht einen den Darlehen des Beklagten
zu Grunde liegenden Anspruch auf Mehrbedarfe nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch nach Einholung zweier medizinischer Sachverständigengutachten rechtskräftig abgelehnt. Daran anschließend habe er die Aufrechnung
auf der Grundlage von § 42a Abs. 2 SGB II rechtmäßig durch Verwaltungsakt verfügt. Zutreffend sei, dass bei einem der Klägerin über die Jahre hinweg gewährten Darlehensbetrag
von 5.160,- Euro die Aufrechnung von monatlich 41,60 Euro einen über zehnjährigen Zeitraum bis zur Tilgung des Darlehens erfordere.
Anhaltspunkte dafür, von dieser Aufrechnungsverpflichtung absehen zu können, ergäben sich aus dem Gesetz jedoch nicht. Bei
der Aufrechnungserklärung handele es sich um eine gebundene Entscheidung, sie stehe nicht im Ermessen des Beklagten (Verweis
auf Bundessozialgericht – BSG –, Urteil vom 28. November 2018 – B 14 AS 31/17 R –, juris, Rn. 54). Die Tilgung des Darlehens erfolge zwingend durch Aufrechnung des Leistungsträgers mit der Rückzahlungsforderung
in Höhe von zehn Prozent des maßgebenden Regelbedarfes (Verweis auf Bittner, in: jurisPK-SGB II, § 42a Rn. 41). Die Anwendung von § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB II, wonach eine Aufrechnung gegenüber der leistungsberechtigten Person spätestens drei Jahre nach dem Monat ende, der auf die
Bestandskraft der in § 43 Abs. 1 SGB II genannten Entscheidungen folge, sei auf die Darlehensgewährung im Sinne von § 42a SGB II nicht anzuwenden. Selbst wenn daher bei sehr hohen oder bei mehreren Darlehen, die eine Aufrechnung über einen langen Zeitraum
zur Folge hätten, nach der Einschätzung in der Literatur Bedenken hinsichtlich der Rückzahlungsverpflichtung angebracht seien
(Verweis auf Bittner, in: jurisPK-SGB II, § 42a Rn. 14 m.w.Nw.), so sei eine mögliche Überforderung des Darlehensempfängers durch eine spätere Rückzahlung bei den anzustellenden
Ermessenserwägungen über das „Ob“ der Gewährung des Darlehens anzustellen und nicht erst bei der Frage der Rückerstattung
des Darlehens (Verweis auf Bittner, in: jurisPK-SGB II, § 42a Rn. 14). Auch wenn es de lege ferenda erwägenswert sein möge, in Anlehnung an die Bestimmung des § 43 Abs. 4 SGB II eine Aufrechnung auf maximal drei Jahre zu begrenzen (Verweis auf Bittner, in: jurisPK-SGB II, § 42a Rn. 14, Rn. 44), so fehle nach geltendem Recht hierfür die Rechtsgrundlage. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelung
des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II habe die Kammer auch bei langjährig zu tilgenden Darlehen nicht. Entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
(Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 5. November 2019 – 1 BvR 7/16 –) verfüge der Gesetzgeber über einen Einschätzungsspielraum zur Ausgestaltung der existenzsichernden Leistungen. Die Regelbedarfsleistung
sei mit einem Anteil für unregelmäßig auftretende oder kostenträchtige Bedarfe ausgestattet, so dass nicht erkennbar sei,
dass existenzgefährdende Unterdeckungen einträten (Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvR 10/17 u.a. –, juris, Rn. 119; Bittner, in: jurisPK-SGB II, § 42a Rn. 13). Wegen weiterer Einzelheiten wird auf Bl. 42 ff. der Gerichtsakten zum hiesigen Verfahren (im Folgenden: GA) Bezug
genommen.
Die Klägerin hat nach Zustellung des Gerichtsbescheides am 28. November 2019 (spätestens) mit Eingang am 30. Dezember 2019,
einem Montag, Berufung gegen diesen eingelegt, mit der sie ihr Begehrung unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen
Vorbringens weiterverfolgt. Insbesondere macht sie geltend, die vom Sozialgericht eingeholten Gutachten, aus denen sich vermeintlich
ergebe, dass sie keinen Anspruch auf einen Mehrbedarf für spezielle, auf ihre Allergien Rücksicht nehmende Körperpflegeprodukte
habe, sei mangelhaft; die notwendigen Testungen seien nicht erfolgt. Sie sei dringend auf diesen, aber auch auf die Mehrbedarfe
wegen kostenaufwändiger Ernährung und einer Haushaltshilfe angewiesen. Wenn nunmehr auch noch monatlich 41,60 Euro vom Jobcenter
einbehalten würden, wisse sie nicht, wie sie überleben solle. Weiter hat sie auf die drohende Bedarfsunterdeckung für einen
Zeitraum von zehn Jahren hingewiesen. Das sei weder mit dem Konzept des Sozialgesetzbuches Zweites Buch noch mit dem
Grundgesetz vereinbar. Zudem dürfe ein Darlehen nach § 42a SGB II – bereits nach den Weisungen der Bundesagentur für Arbeit – nicht vorläufig bewilligt werden. Hiergegen habe der Beklagte
verstoßen.
Sie beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 27. November 2019 sowie den Aufrechnungsbescheid des Beklagten vom 21.
März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. August 2018 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt die angegriffene sozialgerichtliche Entscheidung sowie seine Bescheide.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze
sowie auf den Inhalt der Gerichtsakten zum hiesigen wie zu den vor dem Sozialgericht Kassel zu den Aktenzeichen S 10 AS 134/14 ER, S 10 AS 389/12 und S 10 AS 547/14 sowie der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat kann auf der Grundlage von §
124 Abs.
2 in Verbindung mit §
153 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich beide Beteiligte, die Klägerin durch Schriftsatz ihres
Bevollmächtigten vom 19. Januar 2021, der Beklagte durch Schriftsatz vom 26. Januar 2021, mit einem entsprechenden Vorgehen
einverstanden erklärt haben.
Der Senat entscheidet weiter in der Besetzung mit dem Berichterstatter und den beiden ehrenamtlichen Richtern, nachdem der
Rechtsstreit durch Beschluss des Senats vom 7. Januar 2021 auf der Grundlage von §
153 Abs.
5 SGG auf diesen übertragen worden ist.
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der angegriffene Gerichtsbescheid ist ebenso wenig zu beanstanden wie der streitige
Aufrechnungsbescheid vom 21. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. August 2018.
I. Gegenstand des Verfahrens ist – neben dem Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 27. November 2019 – (nur) der
Aufrechnungsbescheid vom 21. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. August 2018, den die Klägerin – zutreffend
– mit der reinen Anfechtungsklage nach §
54 Abs.
1 Satz 1
SGG angreift. Nicht Gegenstand des Verfahrens sind dagegen die Darlehensbewilligungsbescheide, die den gewährten Leistungen wegen
des Mehrbedarfs für Körperpflegeprodukte zugrunde liegen. Diese – ohnehin längst bindenden – Bescheide hat die Klägerin im
hiesigen Verfahren nicht angegriffen: Sie sind von der schon damals anwaltlich vertretenen Klägerin nicht zum Gegenstand der
erstinstanzlichen Klageanträge gemacht worden, das Sozialgericht hat folglich zu Recht über diese nicht entschieden. Auch
die – wiederum anwaltlich formulierten – Berufungsanträge erstrecken sich – sinnvollerweise – nicht auf diese. Umso weniger
ist die Höhe der der Klägerin zuschussweise zustehenden Leistungen, sei es in den Zeiträumen, auf die sich die Darlehensbescheide
beziehen, sei es aktuell, Gegenstand des Verfahrens. Ihre wirtschaftliche Situation und die – weiterhin – geltend gemachten
Mehrbedarfe könnten daher, wenn überhaupt, im hiesigen Verfahren nur von Relevanz sein, wenn die Entscheidung über die Aufrechnung
hiervon abhinge, was allerdings, wie noch auszuführen sein wird, nicht der Fall ist.
II. Die Berufung ist zulässig; insbesondere ist sie nach §
143, §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1, Satz 2
SGG von Gesetzes wegen statthaft und nach §
151 Abs.
1 SGG form- und fristgerecht eingelegt.
Dabei kann der Senat offenlassen, ob die Berufung – wofür angesichts des automatisch vermerkten Eingangszeitpunkt durch das
Faxempfangsgerät viel spricht – bereits am 29. Dezember 2019 oder – so der Eingangsstempel – erst am 30. Dezember 2019 eingegangen
ist. In beiden Fällen ist sie rechtzeitig: Der angegriffene Gerichtsbescheid ist dem früheren Bevollmächtigten der Klägerin
ausweislich von dessen elektronischem Empfangsbekenntnis am 28. November 2019 zugestellt worden; da der Gesetzgeber auch bei
der elektronischen Zustellung von Schriftstücken gegen Empfangsbekenntnis an dem sogenannten voluntativen Element der Entgegennahme
festgehalten hat, kommt es nicht darauf an, ob der Gerichtsbescheid tatsächlich früher in dessen Machtbereich gelangt ist.
Die daran anknüpfende, nach §
151 Abs.
1 SGG einmonatige Berufungsfrist endet, da der 28. Dezember 2019 auf einen Sonnabend fiel, erst am nächsten Werktag, also am 30.
Dezember 2019 (vgl. §
64 Abs.
2 Satz 1, Abs.
3 SGG).
Sonstige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit bestehen nicht.
III. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Weder das angegriffene Urteil noch der streitige Aufrechnungsbescheid des Beklagten
vom 21. März 2018 in der Gestalt, den er nach §
95 SGG durch den Widerspruchsbescheid vom 2. August 2018 gefunden hat, sind zu beanstanden.
1. Rechtsgrundlage für den Bescheid ist § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II. Danach werden Rückzahlungsansprüche aus Darlehen, solange der Darlehensnehmer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
bezieht, ab dem Monat, der auf die Auszahlung folgt, durch monatliche Aufrechnung in Höhe von zehn Prozent des maßgebenden
Regelbedarfs getilgt.
Der Beklagte hat sich mit dem streitigen Bescheid zweifelsfrei entschieden, durch Aufrechnung einen Darlehensrückzahlungsanspruch
geltend zu machen und sich damit auf die dargestellte Rechtsgrundlage zu stützen. Der Senat kann offenlassen, ob er nach der
Abweisung der den Mehrbedarf betreffenden Klagen in der Hauptsache alternativ hätte geltend machen können, damit sei der Rechtsgrund
für die durchgängig nur vorläufige Leistungsgewährung hinsichtlich der Mehrbedarfe entfallen, oder diesen durch eine an die
Urteile anschließende sogenannte Nullfestsetzung der endgültig in diesem Zusammenhang zu erbringenden Leistungen zum Entfallen
hätte bringen können.
Aus Sicht des Senats besteht jedenfalls auch kein Hinderungsgrund für das vom Beklagten gewählte Vorgehen. Ausreichend ist
insofern, dass die Leistungsgewährung (gerade nur) in Form eines Darlehens erfolgt und bindend geworden ist. Es kommt daher
nach Auffassung des Senats nicht darauf an, ob die Leistungsgewährung in dieser Form geboten oder auch nur zulässig war: Es
ist weder zu entscheiden, ob die Gewährung eines Darlehens das sachgerechte Instrument war, um während des offenen Streits
in der Hauptsache die Leistungen wegen des Mehrbedarfs zu erbringen, ohne sich von Seiten des Beklagten für den Fall seines
Obsiegens in der Hauptsache an die eigene Entscheidung gebunden zu sehen, noch kann die Klägerin angesichts der von ihr nicht
angegriffenen Bewilligung in dieser Form damit gehört werden, dass die Gewährung eines Darlehens als vorläufige Leistung gesetzlich
beziehungsweise nach den Weisungen der Bundesagentur für Arbeit nicht vorgesehen sei.
Weiter kommt es nicht einmal darauf an, dass jedenfalls der erste Darlehensbescheid in Ausführung einer entsprechenden gerichtlichen
Verpflichtung – die im Übrigen wiederum auch von Seiten der Klägerin nicht angegriffen worden ist – erfolgt ist. Entscheidend
ist vielmehr, dass Klägerin die (vorläufigen) Leistungen wegen des Mehrbedarfs „als Darlehen“ erhalten hat. Nachdem die Darlehensbescheide
nicht Gegenstand des Verfahrens sind, ist nach Auffassung des Senats der Darlehenscharakter im hiesigen Verfahren nicht zu
prüfen. Auch die isolierte Bewilligung von Leistungen gerade nur für die Mehrbedarfe ist, auch wenn hinsichtlich dieser Verfahrensweise
wegen der Untrennbarkeit der Mehrbedarfe jedenfalls von der Bewilligung des Regelbedarfs Bedenken bestehen mögen, aus vergleichbaren
Gründen für das hiesige Verfahren nicht von Relevanz, nachdem die Bescheide mit diesem Inhalt bindend geworden sind.
Schließlich kann die Klägerin aber auch in der Sache die Umwandlung der Darlehen in die zuschussweise Gewährung von Leistungen
nicht, jedenfalls nicht im hiesigen Verfahren verlangen. Nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens S 10 AS 547/14 steht für den Leistungszeitraum Juli bis Dezember 2014 – auch für den Senat bindend – fest, dass ein entsprechender Anspruch
nicht besteht. Aber auch für die Folgezeiträume ist nicht ersichtlich, dass die Bewilligungsbescheide für die jeweiligen Leistungszeiträume
nicht – jedenfalls inzwischen – bestandskräftig und damit nach §
77 SGG bindend geworden wären. Der Umstand, dass die Klägerin weiterhin von einer entsprechenden Leistungsberechtigung ausgeht,
kann vor diesem Hintergrund im hiesigen Verfahren keine Bedeutung erlangen.
2. Der angegriffene Bescheid ist weiter formell nicht zu beanstanden. Namentlich hat der Beklagte die Klägerin, wie in § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) vorgesehen, vor der Entscheidung angehört. Weiter hat er die Aufrechnung, wie von § 42a Abs. 2 Satz 3 SGB II verlangt, durch schriftlichen Verwaltungsakt gegenüber der Klägerin als Darlehensnehmerin erklärt.
3. Der Bescheid ist auch in der Sache nicht zu beanstanden.
a) Dabei kann die Klägerin, wie bereits ausgeführt, nicht damit gehört werden, ihr stehe ein Anspruch auf zuschussweise Gewährung
der Leistungen zu. Die nur darlehensweise Gewährung ist, wie bereits ausgeführt, bindend geworden. Das Vorbringen der Klägerin
war nach Auffassung des Senats, namentlich nachdem sie schon erstinstanzlich anwaltlich vertreten war, auch nicht als Überprüfungsantrag
hinsichtlich dieser Bewilligungen auszulegen. Der Senat sieht vor diesem Hintergrund weder Möglichkeit noch Anlass, die Frage
nach einem Anspruch auf zuschussweise Gewährung von Leistungen unter Berücksichtigung entsprechender Mehrbedarfe im hiesigen
Verfahren inzident als Voraussetzung einer Aufrechnung nochmals zu prüfen.
b) Der Aufrechnung steht weiter nicht entgegen, dass der Beklagte keinen ausdrücklichen Bescheid über die Darlehensrückzahlung
erlassen, sondern der Klägerin – vor Erteilung des streitigen Bescheides – nur eine Zahlungsaufforderung übermittelt hat.
Die Aufrechnung setzt voraus, dass eine Aufrechnungslage besteht, also dem Aufrechnenden eine wirksame, fällige und einredefreie
Forderung zur Seite steht; für das Sozialrecht ist in diesem Zusammenhang allgemein und für die unterschiedlichen Aufrechnungsregelungen
in den verschiedenen Leistungsbereichen regelmäßig umstritten, ob die Forderung zudem auf einem (vorläufig) vollziehbaren
oder bestandskräftigen Bescheid beruhen muss (vgl. dazu Keller, in: Meyer-Ladewig u.a.,
SGG, 13. Aufl. 2020, § 86a Rn. 5; Conradis, in: Münder/Geiger, SGB II, 7. Aufl. 2021, § 43 Rn. 8; Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, SGB II, § 43 Rn. 93 f.; Burkiczak, in: jurisPK-SGB II, § 43 Rn. 19).
Die Einforderung der Darlehensrückgewähr auf der Grundlage von § 42a SGB II setzt jedoch gar nicht zwingend eine vorherige Festsetzung durch Bescheid voraus. Im Falle des § 42a SGB II sind nämlich die Modalitäten der Rückzahlung, sofern der Darlehensnehmer weiter im Leistungsbezug steht, bereits gesetzlich
abschließend vorgegeben; die Regelung ordnet an, ab wann – dem auf die Bewilligung folgenden Monat –, in welcher Höhe – nämlich
von zehn Prozent des Regelbedarfs – und in welcher Form – durch Aufrechnung gegen laufende Leistungsansprüche – die Darlehensrückzahlung
zu erfolgen hat; namentlich ist durch die Neuregelung der Darlehensgewährung durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen
und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 (BGBl. I S. 453) das nach der Vorgängervorschrift (§ 23 Abs. 1 SGB II a.F.) bestehende Auswahlermessen hinsichtlich der Aufrechnungshöhe beseitigt.
Die Darlehensrückforderung ist zudem bei fortdauerndem Leistungsbezug durch die gesetzliche Regelung unmittelbar mit der Aufrechnungserklärung
verbunden, die ihrerseits ausdrücklich einem Formerfordernis unterworfen ist. Der Leistungsträger macht die Darlehensrückzahlung
damit nach der gesetzlichen Konzeption gerade durch die Aufrechnung(serklärung) geltend („erfolgt durch“), wobei dies bei
fortdauerndem Leistungsbezug auch die einzige zulässige Form der Rückforderung ist. Der Senat sieht daher im hiesigen Zusammenhang
kein Erfordernis für eine vorherige, eigenständige Feststellung der Rückzahlungsforderung durch gesonderten Verwaltungsakt
(vgl. zum Zusammenhang auch Bittner, in: juris-PK SGB II, 5. Aufl. 2020, § 42a – Stand der Einzelkommentierung: 23. Februar 2021 – Rn. 47 und Rn. 52).
c) Bedenken hinsichtlich der hinreichenden Bestimmtheit der Aufrechnungserklärung bestehen nicht.
d) Wie bereits ausgeführt, stand dem Beklagten bei der Aufrechnung zur Rückforderung eines Darlehens während des fortdauernden
Leistungsbezugs weder dem Grunde nach, dem sogenannte Ob der Aufrechnung, noch hinsichtlich ihrer Höhe oder den sonstigen
Modalitäten, dem sogenannten Wie der Aufrechnung, ein Ermessen zu. Der Beklagte hat den Aufrechnungsbetrag weiter – gemessen
an der im Jahr 2018 für die Klägerin maßgebenden Höhe des Regelbedarfs – zutreffend und allenfalls – gemessen an der mittlerweile
für die Klägerin maßgeblichen Höhe des Regelbedarfs – zu ihren Gunsten unzutreffend, nämlich (inzwischen) zu niedrig festgesetzt.
Für die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation der Klägerin und die nach ihrer Auffassung ungeachtet der Feststellungen
in den Hauptsacheverfahren S 10 AS 389/12 und S 10 AS 547/14 vor dem Sozialgericht Kassel weiter zu berücksichtigenden Mehrbedarfe ist angesichts dieser zwingenden gesetzlichen Vorgaben
zur Aufrechnungshöhe auch unter diesem Gesichtspunkt kein Raum.
e) Der streitige Bescheid wird auch nicht dadurch rechtswidrig, dass der Beklagte nach der gesetzlichen Konzeption, die eine
Rückforderung von Darlehen schon ab dem Monat nach deren Begebung vorsieht, mit der Aufrechnung schon viel früher hätte beginnen
können. Der Beklagte hat insoweit im Interesse der Klägerin den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abgewartet; eine Verletzung
der Klägerin in ihren Rechten kann vor diesem Hintergrund nicht daraus entstehen, dass die Aufrechnung erst danach einsetzt.
f) Der Senat kann offenlassen, ob die jedenfalls nach dem Wortlaut des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II unbegrenzte Dauer der Aufrechnung zur Realisierung eines Darlehensrückzahlungsanspruchs als verfassungsgemäß anzusehen ist.
Zweifel daran können mit Blick auf die zeitliche Begrenzung der Aufrechnung nach § 43 SGB II – unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten –, vor allem aber mit Blick auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur
durchgängigen verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art.
1 Abs.
1 i.V.m. Art.
20 Abs.
1 Grundgesetz) und den Grenzen für die vorübergehende Absenkung der dazu notwendigen Zahlungen in der sogenannten Sanktionsentscheidung
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, BVerfGE 152, 68) durchaus bestehen.
Der Senat hält aber jedenfalls eine engere zeitliche Begrenzung als nach § 43 Abs. 4 Satz 1 SGB II nicht für verfassungsrechtlich geboten. Danach ist die Aufrechnung nur während eines Zeitraums drei Jahren nach Bestandskraft
des Bescheides zulässig, wobei zusätzlich zu überlegen sein mag, ob diesem Fall nicht der der vorläufigen Vollziehung gleichzustellen
ist und damit die tatsächliche Vollziehung der Aufrechnung während dreier Jahre maßgeblich zu sein hat. Beides ist vorliegend
nicht, auch nicht annähernd erreicht: Bestandskraft tritt frühestens auf Grund der hiesigen Entscheidung ein; eine Anordnung
der vorläufigen Vollziehbarkeit der Aufrechnungsentscheidung (oder auch die tatsächliche Durchführung der Aufrechnung) ist
nicht ersichtlich.
Der Senat hält es auch nicht für erforderlich, eine ausdrückliche zeitliche Begrenzung bereits im Rahmen des Aufrechnungsbescheides
zu erklären, so dass der streitige Bescheid auch unter diesem Gesichtspunkt nicht zu beanstanden ist. Ein entsprechendes Erfordernis
besteht nicht einmal im Rahmen von § 43 SGB II, obwohl dort eine Höchstfrist gesetzlich vorgesehen ist, und also umso weniger im Rahmen der allenfalls entsprechenden Anwendung
dieser Höchstfrist im Rahmen von § 42a SGB II (vgl. – zu § 43 SGB II – BSG, Urteil vom 9. März 2016 – B 14 AS 20/15 R –, BSGE 121, 55 Rn. 31). Entscheidender Gesichtspunkt ist insofern, dass regelmäßig bei Erlass des Aufrechnungsbescheides – namentlich wegen
des regelmäßigen Eintritts der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gegen einen derartigen Bescheid – gar nicht
abzusehen ist, wann der Drei-Jahres-Zeitraum tatsächlich ablaufen wird. Vielmehr ist es ausreichend und für den Betroffenen
zumutbar, wenn der Leistungsträger – gegebenenfalls auf entsprechenden Antrag des Betroffenen – die Aufrechnungsentscheidung
aufhebt, wenn sie tatsächlich drei Jahre durchgeführt worden ist. Eine fixe zeitliche Begrenzung im vorhinein würde demgegenüber
häufig – wie auch das hiesige Verfahren beispielhaft zeigt – dazu führen, dass die Aufrechnungserklärung sich auf Grund der
aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage erledigt, bevor sie erstmals vollzogen werden kann.
Der Senat hält es vor diesem Hintergrund und angesichts des Umstandes, dass die Aufrechnung wegen der aufschiebenden Wirkung
der hiesigen Klage und des ihr vorausgegangenen Widerspruchs bisher, soweit ersichtlich, nicht durchgeführt worden ist, weder
für notwendig noch für sachgerecht, sich schon jetzt – durch den hiesigen Rechtsstreit letztlich nicht veranlasst – abschließend
zu einer möglichen analogen Anwendung von § 43 Abs. 4 Satz 1 SGB II zu äußern. Das gilt nur umso mehr, als alternativ eine mögliche Verfassungswidrigkeit der zeitlich unbeschränkten Aufrechnung
zumindest in Erwägung zu ziehen wäre, eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht wegen der fehlenden Entscheidungserheblichkeit
aber nicht in Betracht kommt. Vor diesem Hintergrund ist auch auf die von der Klägerin befürchtete verfassungswidrige Überforderung
durch eine Aufrechnung bis zur vollständigen Tilgung derzeit noch nicht einzugehen.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
V. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der in §
160 Abs.
2 SGG abschließend aufgeführten Gründe hierfür vorliegt.