Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der den Klägern bewilligten Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2005
streitig.
Angefochten sind das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 20. August 2007 sowie der Bescheid der Beklagten vom 17. Dezember
2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2005. Der erkennende Senat hat durch Beschluss vom 29. Oktober 2008
das Verfahren gemäß Art.
100 Absatz
1 des Grundgesetzes (
GG) ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 20 Absatz 1 bis 3 und § 28 Absatz 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II, in der Fassung von Artikel 1 Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen
am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I. Seite 2954, 2955), vereinbar sind mit dem
GG - insbesondere mit Artikel
1 Absatz
1 GG, Art.
3 Absatz
1 GG, Art.
6 Absatz
1 und Absatz
2 GG sowie Art.
20 Absatz
1 und
3 GG (Rechts- und Sozialstaatsprinzip). Wegen der weiteren Einzelheiten des Tatbestandes und des Verfahrensganges wird auf den
Inhalt des Beschlusses Bezug genommen.
Das BVerfG hat durch Urteil vom 9. Februar 2010 in dieser Sache wie folgt entschieden (u.a. 1 BvL 1/09):
1. § 20 Absatz 2 1. Halbsatz und Absatz 3 Satz 1, § 28 Absatz 1 Satz 3 Nr. 1 1. Alternative, jeweils in Verbindung mit § 20
Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom
24. Dezember 2003 (Bundesgesetzblatt I Seite 2954), § 20 Absatz 2 Satz 1 und Absatz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 24. März 2006 (Bundesgesetzblatt I Seite 558), § 28 Absatz 1 Satz 3 Nr. 1 1. Alternative in Verbindung mit § 74 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der Fassung des Gesetzes
zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland vom 2. März 2009 (Bundesgesetzblatt I Seite 416), jeweils in Verbindung mit § 20 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (Bundesgesetzblatt I Seite 1706), sowie die Bekanntmachungen über die Höhe der Regelleistung nach § 20 Absatz 2 und § 20 Absatz 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch
Zweites Buch vom 1. September 2005 (Bundesgesetzblatt I Seite 2718), vom 20. Juli 2006 (Bundesgesetzblatt I Seite 1702), vom 18. Juni 2007 (Bundesgesetzblatt I Seite 1139), vom 26. Juni 2008 (Bundesgesetzblatt I Seite 1102) und vom 17. Juni 2009 (Bundesgesetzblatt I Seite 1342) sind mit Artikel
1 Absatz
1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel
20 Absatz
1 GG unvereinbar.
2. Bis zur Neuregelung, die der Gesetzgeber bis spätestens zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat, sind diese Vorschriften weiter
anwendbar.
3. Der Gesetzgeber hat bei der Neuregelung einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden,
nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs für die nach § 7 Sozialgesetzbuch Zweites Buch Leistungsberechtigten vorzusehen,
der bisher nicht von den Leistungen nach §§ 20 folgende Sozialgesetzbuch Zweites Buch erfasst wird, zur Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums jedoch zwingend zu decken ist. Bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber wird angeordnet,
dass dieser Anspruch nach Maßgabe der Urteilsgründe unmittelbar aus Artikel
1 Absatz
1 GG in Verbindung mit Artikel
20 Absatz
1 GG zu Lasten des Bundes geltend gemacht werden kann.
Das Verfahren wird nach der Entscheidung des BVerfG von dem erkennenden Senat fortgeführt. Die Kläger halten an ihrer Auffassung
fest, dass ihnen höhere Regelleistungen zustehen. Sie tragen ergänzend zu ihrem bisherigen Vortrag vor, die Entscheidung des
BVerfG sei rechtswidrig, weil zwar die Verfassungswidrigkeit der genannten gesetzlichen Vorschriften festgestellt worden sei,
es jedoch lediglich aus fiskalischen Gründen bis zum 31. Dezember 2010 bei der Anwendung dieser verfassungswidrigen Vorschriften
bleibe. Darüber hinaus sei weiterhin die Vorschrift des § 11 Absatz 1 Satz 3 SGB II zu beanstanden, wonach Kindergeld als
Einkommen anzurechnen sei. Die Entscheidung des BVerfG verletze EU-Recht, weshalb sie beabsichtigten, eine Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs und/oder des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte herbeizuführen.
Die Kläger beantragen (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 20. August 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 17.
Dezember 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2005 zu verurteilen, ihnen für die Zeit vom 1. Januar bis
30. Juni 2005 höhere Leistungen nach dem SGB II zu gewähren,
hilfsweise,
das Verfahren auszusetzen und den Rechtstreit dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen,
weiter hilfsweise,
das Verfahren auszusetzen und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beigeladenen stellen keinen Antrag.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte durch die drei Berufsrichter ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richter und ohne mündliche Verhandlung durch
Beschluss gemäß §
153 Absatz
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) entscheiden. Die Beteiligten sind hierzu angehört worden. Die Voraussetzungen des §§
153 Absatz
4 SGG sind erfüllt, weil angesichts der vor dem Senat am 29. Oktober 2008 sowie der vor dem BVerfG am 20. Oktober 2009 durchgeführten
ausführlichen mündlichen Verhandlungen eine (weitere) mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist.
Die Berufung der Kläger ist nach einstimmiger Auffassung des Senats sachlich nicht begründet. Das Sozialgericht Kassel hat
die Klage im Ergebnis zu Recht durch Urteil vom 20. August 2007 abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 17.
Dezember 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2005 ist rechtmäßig. Den Klägern stand während des streitigen
Zeitraumes vom 1. Januar bis 30. Juni 2005 kein Anspruch auf höhere Regelleistungen nach dem SGB II zu.
Der Senat hat bereits im Vorlagebeschluss vom 29. Oktober 2008 eine Prüfung des geltend gemachten Anspruches am Maßstab des
einfachen Rechts vorgenommen und ist insbesondere unter Anwendung von §§ 20 Absatz 2 und 3 und 28 Absatz 1 Satz 3 Nr. 1 SGB
II sowie Berücksichtigung von §§ 21 und 23 Absatz 3 SGB II zu dem Ergebnis gelangt, dass das Leistungsbegehren der Kläger
unbegründet ist. Auf die entsprechenden Ausführungen im Beschluss vom 29. Oktober 2008 (L 6 AS 336/07, Seite 7 ff.) wird Bezug genommen.
Die mit dem Vorlagebeschluss erstrebte Prüfung am Maßstab des Verfassungsrechts ist erfolgt und durch das Urteil des BVerfG
vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09), wonach § 20 Absatz 2 1. Halbsatz und Absatz 3 Satz 1 sowie § 28 Absatz 1 Satz 3 Nr.
1 1. Alternative in den genannten Fassungen mit Artikel
1 Absatz
1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel
20 Absatz
1 GG unvereinbar sind, abgeschlossen. Das BVerfG hat weiter entschieden, dass bis zur Neuregelung, die der Gesetzgeber bis spätestens
zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat, diese Vorschriften weiter anwendbar sind, und hierzu insbesondere auf seine ständige
Rechtsprechung verwiesen, wonach der Gesetzgeber einen mit dem
GG unvereinbaren Rechtszustand nicht rückwirkend beseitigen muss, wenn dies einer geordneten Finanz- und Haushaltsplanung zuwiderlaufen
würde oder die Verfassungsrechtslage bisher nicht hinreichend geklärt gewesen sei (Seite 76 des Urteils). Diese Grundsätze
hat das BVerfG auch auf die im Streit stehenden Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums angewendet
und im Übrigen ausgeführt, es könne nicht festgestellt werden, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident
unzureichend seien, so dass der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet sei, höhere Leistungen (rückwirkend)
festzusetzen; vielmehr liege den beanstandeten Vorschriften allein ein nicht realitätsgerechtes Verfahren der Ermittlung des
Existenzminimums zu Grunde (Seite 74 und 76 des Urteils). Abschließend hat das BVerfG hierzu klargestellt, dass die Ausgangsverfahren
nicht bis zur Neuregelung des Gesetzgebers ausgesetzt bleiben müssen, da insoweit feststehe, dass höhere Leistungen nicht
deshalb erlangt werden könnten, weil die gesetzlichen Vorschriften über die Höhe der Regelleistung mit dem
GG unvereinbar seien (Seite 77 des Urteils). Mit diesen Klarstellungen hat es sein Bewenden mit der Folge, dass für die Höhe
der den Klägern in der streitigen Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2005 zu gewährenden Regelleistungen die beanstandeten Vorschriften
anzuwenden sind.
Soweit sich die Kläger gegen die Anrechnung von Kindergeld als Einkommen gemäß § 11 Absatz 1 Satz 3 SGB II wenden, entfaltet
die Vorschrift ebenfalls weiter Geltung. Insoweit hat der erkennende Senat im Vorlagebeschluss vom 29. Oktober 2008 zwar die
Auffassung vertreten, dass eine Unterdeckung des familiären Existenzminimums zugleich die Feststellung eines ungenügenden
Kindergeldes beinhaltet. Hierzu enthält das Urteil des BVerfG vom 9. Februar 2010 - konsequent - keine Ausführungen, weil
die Verfassungswidrigkeit der genannten Vorschriften des SGB II nicht darauf gestützt worden ist, die Regelleistungsbeträge
seien evident unzureichend, sondern allein darauf, dass ein nicht realitätsgerechtes und transparentes Verfahren der Ermittlung
des Existenzminimums stattgefunden hat. Dementsprechend wird § 11 Absatz 1 Satz 3 SGB II auch nicht von der von dem BVerfG
ausgesprochen Verwerfung erfasst.
Der geltend gemachte Anspruch auf höhere Leistungen lässt sich auch nicht mit dem von dem BVerfG weiter festgestellten und
unmittelbar aus Art.
1 Absatz
1 GG i.V.m. Art.
20 Absatz
1 GG folgenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs
(Härteklausel, jetzt geregelt in § 21 Absatz 6 SGB II in der seit dem 3. Juni 2010 geltenden Fassung) begründen, denn diese
Anspruchsgrundlage ist nicht auf den Regelbedarf anwendbar, sondern lediglich auf besondere Bedarfslagen. Zudem gilt die Anspruchsgrundlage
nach den Ausführungen des BVerfG ab der Verkündung des Urteils (Seite 78 des Urteils), wie dies durch Nichtannahmebeschluss
vom 24. März 2010 (1 BvR 395/09) nochmals klargestellt worden ist, und damit gerade nicht auch für die hier streitige Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2005.
Im Übrigen war der erkennende Senat nicht gehalten, das Verfahren erneut auszusetzen und den Rechtsstreit dem Europäischen
Gerichtshof (EuGH) und/oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorzulegen. Eine Vorlage an den EGMR kommt von vornherein nicht in Betracht, weil sie in den Verfahrensvorschriften nicht vorgesehen ist (so bereits BSG, Urteil
vom 14. Juni 2010, B 14 AS 17/10 R). Art. 33 und 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. II 2002, Seite 1054-1079) regeln lediglich eine Anrufung des EGMR im Rahmen von Staatenbeschwerden und Individualbeschwerden. Soweit der sog. Lissabon-Vertrag (Art. 267 der konsolidierten Fassung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV) zwar ein Verfahren entsprechend
Art.
100 GG regelt, sieht der Senat dessen Voraussetzungen unter Würdigung des Vorbringens der Kläger jedoch nicht als erfüllt an. Das
Verfahren beschränkt sich auf die Auslegung der Verträge (Art. 267 Satz 1 Buchst. a AEUV) sowie auf die Gültigkeit und die
Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union (Art. 267 Satz 2 Buchst. b AEUV). Der
Vortrag der Kläger beschränkt sich jedoch auf die Ausführung ihrer Unzufriedenheit mit dem Urteil des BVerfG vom 9. Februar
2010, ohne konkret darzulegen, welche Rechtsvorschriften der Union bzw. Verträge entgegenstehen oder der weiteren Auslegung
durch den EuGH bedürften. Im Übrigen ist es - wie das Bundessozialgericht bereits entschieden hat (Urteil vom 17. Juni 2010
aaO.) - nicht Aufgabe des EuGH, Entscheidungen des BVerfG als übergeordnete Instanz zu überprüfen.
Letztlich ist den Klägern, soweit sie mit Schreiben vom 16. März 2010 geltend gemacht haben, sie hätten unter dem 7. Oktober
2008 bei der Beklagten Überprüfungsantrag gemäß § 44 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) im Hinblick auf alle bis dahin ergangenen Bescheide über die Gewährung von Sozialleistungen nach dem SGB II gestellt, der
Hinweis zu erteilen, dass ausweislich der am 29. Oktober 2008 im Termin zur mündlichen Verhandlung zu Protokoll genommenen
Erklärung aller Beteiligten Streitgegenstand allein die Bescheide sind, auf welche sich das erstinstanzliche Urteil bezieht.
Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Hierbei hat der Senat unter Beachtung der Ausführungen des BVerfG im Urteil vom 9. Februar 2010 (Seite 77) berücksichtigt,
dass einerseits die gesetzlichen Vorschriften über die Höhe der Regelleistung mit dem
GG unvereinbar sind und andererseits die festgestellte Verfassungswidrigkeit keine Auswirkungen auf den hier streitigen Zeitraum
vom 1. Januar bis 30. Juni 2005 hat. Angesichts dessen war es angemessen, der Beigeladenen zu 4. (lediglich) die Hälfte der
notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger aufzuerlegen und im Übrigen keine Kostentragungspflicht auszusprechen.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des §
160 Absatz
2 Nrn. 1 und 2
SGG nicht (mehr) vorliegen. Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass das Bundessozialgericht in der genannten Entscheidung
vom 17. Juni 2010 auch zu der Frage einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof bzw. an den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte Stellung genommen hat und insoweit eine höchstrichterliche Klärung bereits erfolgt ist.