Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung sowie die zukünftige Kostenübernahme für das Medikament „Xeljanz“ (Tofacitinib)
zum Zwecke der Behandlung von Alopecia areata totalis.
Der 1990 geborene Kläger leidet seit dem Jahr 2014 an Alopecia areata totalis. Der Kläger beantragte am 18. Juli 2018 über
die Universitätsmedizin der Universität Mainz die Kostenübernahme für eine Behandlung mit dem Medikament „Xeljanz“ (Tofacitinib).
Dieses Medikament ist für die Behandlung von rheumatoider Arthritis und Psoriasis-Arthritis zugelassen.
Dem Antrag war ein Gutachten von Prof. Dr. D. zur gesundheitlichen Situation des Klägers beigefügt. Dieser bescheinigte dem
Kläger, dass die bisherigen Behandlungsversuche mit Lokaltherapeutika erfolglos gewesen seien und verwies auf mehrere positive
Heilungsberichte von Patienten, die unter Alopecia areata totalis gelitten hatten, nach einer Behandlung mit „Xeljanz“. Er
bat die Beklagte um Kostenübernahme für zunächst sechs Monate.
Die Beklagte wandte sich an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), der in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme
vom 3. August 2018 zu dem Ergebnis kam, dass eine Kostenübernahme nicht möglich sei. Die Erkrankung des Klägers sei psychisch
belastend, nicht akut lebensbedrohlich, nicht singulär. Die Behandlungsempfehlung stütze sich auf eine retrospektive Studie
ohne Kontrollgruppe. Eine Zulassungserweiterung könne nicht erwartet werden. Durch die Neuregelungen des §
34 Abs.
1 SGB V ab 1. Januar 2004 mit dem Ausschluss von Arzneimitteln, die überwiegend der Verbesserung des Haarwuchses dienten, sei eine
Kostenübernahme nicht möglich.
Mit Bescheid vom 9. August 2018 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für das Medikament „Xeljanz“ unter Bezugnahme auf
die Begründung des MDK ab.
Hiergegen erhob der Kläger am 16. August 2018 Widerspruch. Seine Erkrankung sei zwar an sich nicht tödlich, jedoch beeinflusse
die Krankheit sein Sozialleben, Berufsleben sowie Studienleben derart negativ, dass sie indirekt zum Tod führen könne. Da
die Krankheit sein äußeres Erscheinungsbild immens verändert habe, habe er sich oftmals benachteiligt gefühlt. Die anerkannten
Therapien hätten bei ihm nicht geholfen. Auch die von ihm als Selbstzahler in der Türkei durchgeführte Ozontherapie sei nicht
erfolgreich gewesen, ebenso alle Naturheilverfahren. Die ebenfalls in der Frankfurter Universitätsklinik durchgeführte Steroidpulstherapie
sei ebenso erfolglos gewesen wie auch die DCC-Therapie. Erst die Behandlung mit dem Medikament „Xeljanz“ habe einen gewaltigen
Fortschritt gebracht.
Die Beklagte schaltete erneut den MDK ein, der in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 23. August 2018 bei seinem
Ergebnis blieb. Es fehlten zulassungsreife Phase III-Studien zu „Xeljanz“ bei Alopecia areate. Es seien nur indiziengestützte
Hinweise auf Behandlungserfolge vorhanden. Eine zulassungsreife Datenlage fehle. Ein Therapieerfolg im Einzelfall sei kein
maßgebliches Kriterium für die Kostenübernahme im Off-Label-Use. Alternativlosigkeit allein reiche nicht aus für eine Kostenübernahme.
Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 20. September 2018 vor dem Sozialgericht Darmstadt (SG) Klage erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass seine Krankheit aufgrund des hohen gesellschaftlichen und sozialen
Leidensdrucks zu einer nicht zu unterschätzenden psychischen Belastung bis hin zur Selbstmordgefahr führe, so dass die Erkrankung
einer lebensbedrohlichen jedenfalls gleichstehe.
Er habe die Kostenübernahme noch vor Beginn der Therapie beantragt. Hinsichtlich der bereits entstandenen Kosten hat der Kläger
auf die vorgelegten Rechnungsbelege verwiesen. Weiterhin hat sich der Kläger auf das Gutachten von Prof. Dr. E./Prof. Dr.
D. sowie auf eine ärztliche Bescheinigung des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie F. berufen.
Die Beklagte hat eingeräumt, dass der Kläger an einer psychisch stark belastenden Erkrankung leide. Die ursächliche Erkrankung
dürfte jedoch unstreitig nicht lebensbedrohlich sein. Zudem schließe die Regelung des § 34 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V
die Kostenübernahme von Arzneimitteln aus, die allein zur Verbesserung des Haarwuchses dienten. Fraglich sei zudem, zu welchem
Zeitpunkt die Therapie begonnen worden sei. Die Beklagte sei davon ausgegangen, dass der Kläger ihre Entscheidung nicht abgewartet
habe. Zudem sei die Studienlage unzureichend, um die Kriterien der Kostenübernahme im Rahmen des Off-Label-Use zu erfüllen.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 24. Juli 2020 als unbegründet abgewiesen. Der Bescheid vom 9. August 2018 in
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Dezember 2018 sei rechtmäßig und verletzte den Kläger nicht in seinen Rechten.
Dem Kläger stehe weder ein Anspruch auf Erstattung der ihm bisher entstandenen Kosten noch ein Anspruch auf die (weitere)
Versorgung mit dem Medikament „Xeljanz“ zu.
Als Rechtsgrundlage für die Erstattung der bisher entstandenen Kosten komme allein §
13 Abs.
3 Satz 1 2. Var.
SGB V in Betracht. Nach dieser Vorschrift seien, wenn die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt habe und dem Versicherten
dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden seien, diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu
erstatten, soweit die Leistung notwendig gewesen sei. Der Kostenerstattungsanspruch reiche allerdings nicht weiter als ein
entsprechender Sachleistungsanspruch und setze voraus, dass die selbstbeschaffte Leistung zu den Leistungen gehöre, die die
Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen hätten (vgl. Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 30/16 R).
Die Beklagte habe die Gewährung des Medikaments „Xeljanz“ zu Recht abgelehnt. Die Versorgung gehöre nicht zu den von der gesetzlichen
Krankenkasse geschuldeten Leistungen. Daher könne dahinstehen, ob der Kläger zumindest hinsichtlich der Rechnungsbelege vom
18. Juli 2018, 15./16. August 2018 und 19. September 2018 den Beschaffungsweg eingehalten habe.
Nach §
27 Abs.
1 Satz 1
SGB V hätten Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig sei, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasse dabei die Behandlung mit
Arzneimitteln (§
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
3 SGB V). Versicherte hätten nach §
31 Abs.
1 Satz 1
SGB V Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach §
34 SGB V oder durch Richtlinien nach §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
6 SGB V ausgeschlossen seien.
Nach §
34 Abs.
1 Satz 7
SGB V seien Arzneimittel von der Versorgung ausgeschlossen, bei deren Anwendung eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund
stehe. Nach §
34 Abs.
1 Satz 8
SGB V seien insbesondere Arzneimittel ausgeschlossen, die überwiegend der Verbesserung des Haarwuchses dienten. Maßgeblich sei
hierbei die überwiegende Zweckbestimmung.
Nach diesen Regelungen sei die Versorgung mit dem Medikament „Xeljanz“ ausgeschlossen. Das Medikament sei bei dem Kläger ausschließlich
mit dem Ziel eingesetzt worden, den bei dem Kläger nicht mehr vorhandenen Haarwuchs zu fördern und gelte damit als Arzneimittel,
bei dessen Anwendung eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund stehe.
Dem Kläger stehe eine Versorgung mit dem Medikament „Xeljanz“ auch nicht im Rahmen des Off-Label-Use zu. Unter Off-Label-Use
sei zu verstehen, dass ein für ein bestimmtes Indikationsgebiet arzneimittelrechtlich zugelassenes Arzneimittel im Einzelfall
auch über seine Zulassung hinaus bei anderen Indikationen zu Lasten der GKV gewährt werden könne.
Die Voraussetzungen der allgemeinen Grundsätze für einen Off-Label-Use zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung seien
nicht erfüllt. Ein Off-Label-Use komme nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen
oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung gehe, 2. keine andere Therapie verfügbar sei und
3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt
werden könne (vgl. BSG, Urteil vom 20. März 2018 - B 1 KR 4/17).
Eine Erkrankung sei lebensbedrohlich, wenn sie in überschaubarer Zeit das Leben beenden könne und dies eine notstandsähnliche
Situation herbeiführe, in der Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssten (vgl. BSG, Urteil vom 20. März 2018 - B 1 KR 4/17 R).
Vorliegend fehle es bereits an der ersten Voraussetzung der schwerwiegenden Erkrankung. Alopecia areata totalis stelle, das
werde auch selbst vom Kläger nicht behauptet, keine schwerwiegende Erkrankung im Sinne einer lebensbedrohlichen Erkrankung
dar. Durch einen kompletten Haarverlust am ganzen Körper drohe keine konkrete Lebensgefahr. Auch eine mit einer lebensbedrohlichen
Erkrankung vergleichbare Erkrankung, die die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtige, sei nicht gegeben.
Soweit der Kläger vorgetragen habe, dass er aufgrund des Haarverlustes unter psychischen Problemen bis hin zur Selbstmordgefahr
leide, die einer lebensbedrohlichen Erkrankung jedenfalls gleichstünden, begründe das ebenfalls keinen Anspruch nach §§
27,
31 SGB V.
Das Medikament „Xeljanz“ stelle keine geeignete Methode zur Behandlung einer psychischen Erkrankung dar. Nach der Rechtsprechung
des BSG seien von den von der Krankenkasse geschuldeten Krankenbehandlungen nur solche Maßnahmen umfasst, die unmittelbar an der
eigentlichen Krankheit ansetzten (vgl. BSG, Urteil vom 9. Juni 1998 - B 1 KR 18/96 R). Bei psychischen Erkrankungen sei daher der Anspruch des Versicherten auf eine Behandlung mit Mitteln der Psychiatrie und
Psychotherapie zu beschränken (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 30. Dezember 2002 – L 4 KR 114/00). Diese Grundsätze seien auf den vorliegenden Fall zu übertragen und schlössen einen Anspruch auf Versorgung mit dem Medikament
„Xeljanz“ zur Behandlung einer psychischen Erkrankung aus.
Ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für das Medikament „Xeljanz“ folge auch nicht aus §
2 Abs.
1a SGB V. Danach könnten Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig
vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur
Verfügung stünde, auch eine von Abs. 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht
auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestünde. Die beim Kläger bestehende Erkrankung
Alopecia areata totalis stelle weder eine lebensbedrohliche noch eine regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung oder eine
vergleichbare Erkrankung dar.
Soweit der Kläger die Kostenübernahme für noch weitere auf ihn zukommende Kosten für die Versorgung mit dem Medikament „Xeljanz“
beantrage, habe die Kammer nicht entscheiden müssen, ob dieser Antrag im vorliegenden Fall überhaupt zulässig gewesen wäre.
Denn er sei jedenfalls aus den oben genannten Gründen unbegründet, da kein Sachleistungsanspruch des Klägers vorliege.
Gegen das ihm am 6. Oktober 2020 zugestellte Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Juli 2020 hat der Kläger unter dem
2. November 2020 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt.
Zur Begründung wiederholt der Kläger seinen Vortrag in erster Instanz, wonach eine Versorgung mit dem Medikament „Xeljanz“
dringend erforderlich sei, um seine psychischen Krankheitsbeschwerden zu lindern. Das Medikament sei sehr teuer, monatlich
habe er 1.087,55 € zu verauslagen und jede Verordnung koste zudem 30,83 €. Er könne sich die Finanzierung des Medikamentes
nicht mehr leisten und habe bereits Schulden aufgenommen. Seit Anfang des Jahres 2021 sei eine Kostentragung durch ihn jedoch
finanziell nicht mehr möglich. Er stelle bereits fest, dass er wieder Haare verliere und reagiere hierauf extrem. Er sehe
bei erneutem Haarverlust, der eintrete, wenn er das Medikament nicht wieder erhalte, keine Perspektive mehr im Leben und werde
absehbar schwer psychisch erkranken bis hin zur Arbeitsunfähigkeit. Er könne dann seinen Beruf als Lehrer nicht mehr ausüben.
Er habe den festen Willen, sich lieber umzubringen, als nochmals derart entstellt ohne Haare zu sein. Er werde sich nicht
wieder zurück in die gesellschaftliche Isolation begeben, die er schmerzvoll durchlebt habe. Ergänzend legt er eine weitere
Bescheinigung des Facharztes für Psychatrie und Psychotherapie Dr. F. vom 8. Mai 2020 vor, wonach beim Kläger eine psychische
Dekompensation mit sozialem Rückzug bei weiterem Haarverlust drohe.
Das Medikament „Xeljanz“ sei entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung eine geeignete Methode zur Behandlung seiner psychischen
Erkrankung. Es sei unstreitig bei ihm wirksam, um den Haarwuchs wieder herbeizuführen, was der Kläger durch Vorlage von Lichtbildern
belegt.
Er benötige nur noch für eine kurze Zeit das Medikament, müsse dies aber solange weiternehmen, bis auch bei Absetzen des Mittels
nicht sofort wieder starker Haarausfall auftrete.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Juli 2020 sowie den Bescheid vom 9. August 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 10. Dezember 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die künftigen Kosten für eine Behandlung mit
dem Medikament Xeljanz zu übernehmen sowie ihm bereits entstandene Kosten in Höhe von 8.498,90 € zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf die erlassenen Bescheide und das erstinstanzliche Urteil.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 24. Juli 2020 die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 9. August
2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Dezember 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Maßgeblich ist hierbei zwar im Normalfall die überwiegende Zweckbestimmung des Medikamentes. Wenn aber schon Medikamente nicht
zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, deren überwiegender Zweck die Verbesserung des Haarwuchses
ist, muss dies erst Recht für solche Medikamente gelten, deren Zweckbestimmung im Rahmen ihrer medizinischen Zulassung gerade
nicht hierauf gerichtet ist, sondern die nur im Wege eines Nebeneffektes („Off-Label-Use“) diesen von der Sozialgesetzgebung
ausdrücklich gerade nicht als erstattungsfähig bewerteten Zweck erreichen.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.