Versorgung auf ärztliche Verordnung mit Sativex® Spray
Schwerwiegend erkrankte Schmerzpatienten
Behandlung mit Cannabis
Gründe
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 14. Juli 2017 mit dem sinngemäß
gestellten Antrag,
die Antragsgegnerin zu verurteilen, vorläufig die Genehmigung zu seiner Versorgung mit einer Cannabistherapie zu erteilen,
ist im Umfang der Entscheidung des Senats erfolgreich.
Wegen des zugrunde liegenden Sachverhalts und der gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung
wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Kassel in dem angefochtenen Beschluss
vom 14. Juli 2017 Bezug genommen (§
142 Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz -
SGG).
Anders als das Sozialgericht ist der Senat auf der Grundlage des im Beschwerdeverfahren eingeholten Befundberichts des Arztes
B. vom 29. August 2017 mit Ergänzung vom 22. September 2017 aber zu der Überzeugung gekommen, dass sowohl ein Anordnungsanspruch
als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht ist.
Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch dem Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
zusteht; ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn im Interimszeitraum bis zur Hauptsacheentscheidung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
wesentliche Nachteile drohen (Kordel/Feldbaum, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 4. Aufl., Rn. 333).
Nach der im einstweiligen Rechtsschutz ausschließlich möglichen summarischen Prüfung besitzt der Antragsteller einen Versorgungsanspruch
gem. §
31 Abs.
6 SGB V in der Fassung des Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 6. März 2017 (BGBl. S.
403), in Kraft getreten mit Wirkung vom 10. März 2017. Gemäß §
31 Abs.
6 Satz 1
SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten
Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder
Nabilon, wenn
1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter
Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht
zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende
Symptome besteht.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Der Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert und leidet an einer schwerwiegenden Erkrankung. Nach dem Befundbericht
von Dr. B. vom 29. August 2017 leidet er seit Jahren an chronischen Bauchschmerzen mit Darmpassagestörungen bei Verdacht auf
Verwachsungsbauch, Zustand nach Pankreatikojejunostomi, chronisch rezidivierende Pankreatitis, leichte Depression, Diabetes
mellitus Typ 3 (Pankreas bedingt). Dem entsprechen die dem Befundbericht beigefügten Unterlagen: Entlassungsbericht des Asklepios
Klinikum Melsungen vom 4. August 2016, Arztbrief von Dr. C. (Arzt für Anästhesie, Schmerztherapie und Palliativmedizin) vom
5. Mai 2011 und Entlassungsbericht der Werner-Wicker-Klinik vom 9. März 2010, die übereinstimmend von chronischen Abdominalschmerzen
infolge einer chronischen Pankreatitis mit endokriner Pankreatitisinsuffizienz berichten. Bei dem Antragsteller bestehen nach
wiederholter Bauchspeicheldrüsenentzündung und vor Jahren erforderlich gewordener Pankreatikojejunostomi (2005) chronische
ausgeprägte und das tägliche Leben schwer einschränkende Bauchschmerzen. Diese Schmerzen bestehen trotz Morphiumgabe in höheren
Dosen und zusätzlicher Gabe von Buscopan und Novalgin weiter fort bzw. werden nur leicht gemindert. Die Darmtätigkeit bereitet
Schmerzen; wahrscheinlich im Rahmen der Stuhlpassage kommt es täglich mehrfach zu deutlichen Schmerzspitzen.
Zur Behandlung dieser Schmerzen steht eine dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung. Nach dem
Befundbericht des Arztes B. vom 29. August 2017 erhält der Antragsteller schon seit Jahren Morphium oral. Auch eine Vorstellung
beim Schmerztherapeuten führte nicht zu einer deutlichen Besserung des Beschwerdebildes.
Es besteht auch eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf
bzw. auf die schwerwiegenden Symptome der Schmerzerkrankung des Antragstellers durch die in der ergänzenden Stellungnahme
von Dr. B. vom 22. September 2013 angekündigte ärztliche Verordnung von Sativex® Spray. Das Fertigarzneimittel Sativex® ist
in Deutschland zugelassen im Rahmen der Behandlung von MS-Patienten und stellt ein Cannabis-Mundspray dar (http://www.pharmawiki.ch/wiki/index.php?wiki=Cannabis-Mundspray).
Cannabis findet in Deutschland gerade auch für schwerwiegend erkrankte Schmerzpatienten zunehmende medizinische Anwendung;
seit Anfang April 2016 haben 647 Patientinnen und Patienten eine Ausnahmeerlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und
Medizinprodukte (BfArM) nach § 3 Abs. 2 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) zum Erwerb von Cannabis zur medizinischen Anwendung (getrocknete Cannabisblüten und Cannabisextrakte) aus der Apotheke erhalten
(BT-Drs. 18/10902, S. 1).
Zur Überzeugung des Senats ist vorliegend auch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Aufgrund des Umstandes, dass selbst
Morphium oral nicht zu einer Beschwerdebesserung führte, ist dem Antragsteller entsprechend der Begründung des Gesetzesentwurfs
(BT-Drs. 18/8965, S. 24) wegen Versagen der bisheriger Therapien zumindest vorläufig ein individueller Therapieversuch zu
ermöglichen.
Den Grundsätzen des einstweiligen Rechtsschutzes folgend, der nur eine vorläufige Regelung sicherstellen soll, ist die Antragsgegnerin
bis zur Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 11. April 2017 auf der Grundlage von §
31 Abs.
6 Satz 2
SGB V zur Genehmigung der Versorgung des Antragstellers zu verpflichten.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Der Beschluss ist gem. §
177 SGG nicht anfechtbar.