Ansprüche auf Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung bei häuslicher Pflege
Keine "Zäsurwirkung“ eines (beschiedenen) Neuantrags im Sozialversicherungsrecht
Erwerb einer Anspruchsberechtigung auf Leistungen der Pflegeversicherung nach dem zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden
Recht
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um Ansprüche der Klägerin auf Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung bei häuslicher Pflege
seit dem 01. Oktober 2015.
Die am 1964 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich pflegeversichert. Sie leidet u. a. an einer massiven Adipositas
mit einem BMI von über 54, einem chronischen Schmerzsyndrom und einer Depression.
Am 20. Oktober 2015 beantragte sie bei der Beklagten Leistungen der Pflegeversicherung in Form von Pflegegeld und Pflegesachleistungen
als Kombinationsleistung. In einem daraufhin von der Beklagten beauftragten Pflegegutachten des MDK (Pflegefachkraft P) vom
12. November 2015 wurde ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von insgesamt 20 Minuten im wöchentlichen Tagesdurchschnitt
eingeschätzt (Körperpflege 12 Minuten, Mobilität 8 Minuten; 30 Minuten Hauswirtschaft). Von einer Einschränkung der Alltagskompetenz
sei nicht auszugehen.
Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 16. November 2015 ab. Den hiergegen am 11. Dezember 2015 unter Verweis
auf ein Pflegetagebuch erhobenen Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2016 unter
Verweis auf das Gutachten des MDK zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 03. Juni 2016 bei dem Sozialgericht Stralsund mit der Begründung Klage erhoben, ihr Pflegebedarf
sei höher als vom MDK eingeschätzt. Zudem sei sie auch in ihrer Alltagskompetenz erheblich eingeschränkt.
Das Sozialgericht hat angenommen, die Klägerin beantrage,
den Bescheid der Beklagten vom 18. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Mai 2016 aufzuheben und die
Beklagte zu verurteilen, ihr Leistungen aus der Pflegeversicherung der Pflegestufe I bzw. 0 zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Während des Klageverfahrens hat die Beklagte auf einen erneuten Antrag der Klägerin auf Pflegeleistungen vom 15. September
2016 eine weitere Begutachtung durch den MDK (Pflegefachkraft B) vom 14. Oktober 2016 veranlasst, in welchem ein Hilfebedarf
im Bereich der Grundpflege von insgesamt 22 Minuten täglich (13 Minuten Körperpflege, 9 Minuten Mobilität; daneben 45 Minuten
Hauswirtschaft) eingeschätzt wurde. Ein regelmäßiger allgemeiner Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf sei nicht gegeben,
sodass die Alltagskompetenz nicht erheblich eingeschränkt sei. Die Beklagte hat daraufhin auch den erneuten Antrag abgelehnt.
Den entsprechenden Verwaltungsakt vom 17. Oktober 2016, der auf den Rechtsbehelf des Widerspruchs verweist, hat sie (zunächst)
nicht zu den Gerichtsakten gereicht, sondern lediglich mit Schriftsatz/Klageerwiderung vom 17. Oktober 2016 das MDK-Gutachten
übersandt und die Abweisung der Klage beantragt.
Das Sozialgericht hat die Klage nach vorheriger Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 16. Juni 2017 abgewiesen
und zur Begründung ausgeführt, streitig sei ein „Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung der Pflegestufe I bzw. 0“.
Die Klägerin sei jedoch weder erheblich pflegebedürftig im Sinne der Pflegestufe I, da sie bei den in §
14 Absatz
4 Nr.
1 bis
3 SGB XI a. F. aufgezählten Verrichtungen im Bereich der Grundpflege keinen täglichen Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten im wöchentlichen
Durchschnitt habe, noch bestehe im Sinne der sog. Pflegestufe 0 ein Anspruch auf Anerkennung zusätzlicher Betreuungsleistungen
nach §
45a SGB XI a. F. Im Einzelnen:
Nach der Beweisaufnahme stehe fest, dass die – beweisbelastete – Klägerin die Voraussetzungen der erheblichen Pflegebedürftigkeit
nicht erfülle, da der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege lediglich 22 Minuten betrage. Einwendungen gegen das letzte Gutachten
des MDK seien von der Klägerin trotz gerichtlichen Hinweises nicht erhoben worden. Es sei auch nicht ersichtlich, dass das
im Einklang mit der Begutachtungsrichtlinie stehende Gutachten, das die Kammer im Wege des Urkundsbeweises berücksichtigt
habe, wesentliche Aspekte der Hilfebedürftigkeit nicht berücksichtigt oder falsch bewertet habe. Das eingereichte Pflegetagebuch
stehe dem nicht entgegen. Es sei nicht aussagekräftig, da es lediglich den Zeitaufwand wiedergebe, den die Klägerin für die
jeweiligen Verrichtungen benötige, jedoch keinen Hilfebedarf – welcher Art auch immer – aufführe. Die Medikamentengabe unterfalle
dem Bereich des Krankenversicherungsrechts und sei bei der Bewertung des Hilfebedarfs im Bereich der Grundpflege und Hauswirtschaft
nicht zu berücksichtigen. Dem MDK-Gutachten vom 14. Oktober 2016 sei zu entnehmen, dass einmal täglich bei der Körperpflege
und einmal wöchentlich bei der Hauswirtschaft durch einen ambulanten Pflegedienst Hilfestellung geleistet werde, wobei der
Pflegezustand der Klägerin nicht zu beanstanden gewesen sei. Die Klägerin habe die in der Wohnung befindliche Treppe ohne
Hilfe überwinden können. Hilfe sei lediglich bei dem Transfer in die Badewanne, beim Anlegen des Rumpfstützmieders und dem
Aufstehen, Zubettgehen und Anziehen sowie (in Form von Motivation) zur Körperpflege erforderlich. Für die Einstufung in eine
Pflegestufe sei nicht auf die tatsächlich ausgeübte oder subjektiv erforderliche Pflege, sondern darauf abzustellen, was objektiv
erforderlich sei. Dabei sei zu berücksichtigen, dass eigene Ressourcen im Rahmen der Möglichkeiten eingesetzt werden, auch
wenn eine komplette Übernahme durch die Pflegeperson möglicherweise schneller sei.
Zusätzliche Betreuungsleistungen setzten gemäß §
45a SGB XI a. F. einen erheblichen Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung voraus. Ein Anspruch komme bei Pflegebedürftigen
der Pflegestufen I, II und III sowie bei Personen in Betracht, die zwar keinen Hilfebedarf im Ausmaß der Pflegestufe I erreichten,
bei denen jedoch demenzbedingte Fähigkeitsstörungen, geistige Behinderungen oder psychische Erkrankungen vorliegen, die dauerhaft
zu einer erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz geführt haben. Nach §
45a Abs.
2 SGB XI a. F. seien für die Bewertung folgende Schädigungen und Fähigkeitsstörungen maßgebend, von welchen mindestens in zwei Bereichen,
davon mindestens einmal aus einem der Bereiche 1 bis 9, dauerhafte und regelmäßige Schädigungen oder Fähigkeitsstörungen festzustellen
seien:
1. unkontrolliertes Verlassen des Wohnbereiches (Weglauftendenz); 2. Verkennen oder Verursachen gefährdender Situationen;
3. unsachgemäßer Umgang mit gefährlichen Gegenständen oder potenziell gefährdenden Substanzen; 4. tätlich oder verbal aggressives
Verhalten in Verkennung der Situation; 5. im situativen Kontext inadäquates Verhalten; 6. Unfähigkeit, die eigenen körperlichen
und seelischen Gefühle oder Bedürfnisse wahrzunehmen; 7. Unfähigkeit zu einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen
oder schützenden Maßnahmen als Folge einer therapieresistenten Depression oder Angststörung; 8. Störungen der höheren Hirnfunktionen
(Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, herabgesetztes Urteilsvermögen), die zu Problemen bei der Bewältigung von sozialen
Alltagsleistungen geführt haben; 9. Störung des Tag-/Nacht-Rhythmus; 10. Unfähigkeit, eigenständig den Tagesablauf zu planen
und zu strukturieren; 11. Verkennen von Alltagssituationen und inadäquates Reagieren in Alltagssituationen; 12. ausgeprägtes
labiles oder unkontrolliert emotionales Verhalten; 13. zeitlich überwiegend Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit
oder Hoffnungslosigkeit aufgrund einer therapieresistenten Depression.
Vorliegend leide die Klägerin an einer rezidivierenden depressiven Störung, Adipositas und Polyneuropathie. Die Gutachterin
habe festgestellt, dass die Bereiche „Antrieb/Beschäftigung“ und „Stimmung“ auffällig seien, die Einschränkungen aber nicht
so schwerwiegend seien, dass daraus ein regelmäßiger (täglicher) und dauerhafter (voraussichtlich für mindestens sechs Monate
bestehender) allgemeiner Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf resultiere. Damit habe die Gutachterin nicht wenigstens in
zwei Bereichen, davon mindestens einmal aus einem der Bereiche 1 bis 9, dauerhafte und regelmäßige Schädigungen oder Fähigkeitsstörungen
festgestellt. Die gelegentlich notwendige Motivation zum Verlassen des Bettes oder zur Durchführung der Körperpflege sei für
die Annahme einer derart erheblichen Schädigung nicht ausreichend.
Gegen den der Klägerin am 23. Juni 2017 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich ihre Berufung vom 21. Juli 2017, mit der
sie ihr bisheriges Begehren weiterverfolgt. Eine Begründung oder die Formulierung eines Antrags im zweiten Rechtszug sind
bislang nicht erfolgt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß:
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stralsund vom 16. Juni 2017 sowie der Bescheid der Beklagten vom 16. November 2015
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Mai 2016 und der Bescheid der Beklagten vom 17. Oktober 2016 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Kombinationsleistungen bei häuslicher Pflege für den Zeitraum vom 01. Oktober 2015
bis zum 30. April 2017 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung und auf die nach ihrer Auffassung eingetretene Bestandskraft
des Ablehnungsbescheides vom 17. Oktober 2016, welchen sie erstmals mit Schriftsatz vom 24. September 2018 zu den Akten gereicht
hat. Der Streitzeitraum des vorliegenden Verfahrens beschränke sich zudem wegen der Zäsurwirkung des neuen Antrags der Klägerin
auf die Zeit bis September bzw. Oktober 2016. Jedenfalls seien aber keine Ansprüche nach dem neuen, seit dem 1. Januar 2017
maßgeblichen neuen Pflegerecht streitgegenständlich. Insoweit verweist sie insbesondere auf ein Urteil des Hessischen Landessozialgericht
vom 24. Juni 2020 – L 6 P 18/19, wonach ein nach altem Pflegeversicherungsrecht gestellter und bis zum 31. Dezember 2016 unbegründeter Antrag auch dann von
der Verwaltung und den Gerichten nicht als Antrag nach neuem Recht zu behandeln sei, wenn über ihn bei Inkrafttreten des neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriffs noch nicht bestandskräftig entschieden war. Das folge auch aus §
140 Abs.
1 SGB XI.
Nachdem die Klägerin bereits am 11. Mai 2017 einen dritten Antrag auf Gewährung von Pflegeleistungen bei der Beklagten gestellt
und diese erneut den MDK mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt hatte, stellte der MDK (Pflegefachkraft S) mit Gutachten
vom 2. Juni 2017 fest, dass die Voraussetzungen für den Pflegegrad 2 im Sinne des dem seit 01. Januar 2017 maßgeblichen neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriffs seit dem 11. Mai 2017 erfüllt seien. Es sei von insgesamt 45,00 gewichteten Punkten auszugehen,
welche sich wie folgt errechneten:
Modul 1 0 Einzelpunkte 0 gewichtete Punkte Module 2 1 Einzelpunkt 0 gewichtete Punkte Modul 3 5 Einzelpunkte 11,25 gewichtete
Punkte Modul 4 12 Einzelpunkte 20 gewichtete Punkte Modul 5 2 Einzelpunkte 10 gewichtete Punkte Modul 6 1 Einzelpunkt 3,75
gewichtete Punkte
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Gutachtens Bezug genommen.
Die Beklagte bewilligte der Klägerin hierauf mit Bescheid vom 7. Juni 2017 ab dem 1. Mai 2017 (Sach-)Leistungen aus der Pflegeversicherung
nach Pflegegrad 2 (sowie einen monatlichen Entlastungsbetrag in Höhe von bis zu 125,00 Euro); auf Antrag der Klägerin wurde
die Leistung mit Bescheid vom 15. August 2017 ab dem 1. August 2017 auf Kombinationsleistungen umgestellt. Beide Bescheide
enthielten keine Rechtsbehelfsbelehrung. Die Beklagte hat sie mitsamt dem entsprechenden Verwaltungsvorgang mit Schriftsatz
vom 6. November 2018 zu den Akten gereicht.
Eine Stellungnahme des MDK zu der Frage, ob und von welchem Zeitpunkt an die Voraussetzungen des Pflegegrades 2 unabhängig
vom Antragsdatum im Mai 2017 als erfüllt eingeschätzt werden, hat die Beklagte trotz mehrfacher Aufforderung nicht vorgelegt.
Der Senat hat einen Befundbericht des Hausarztes der Klägerin, Dr. med. D., vom 22. Oktober 2019 eingeholt, wonach die Fähigkeit
der Klägerin, sich selbst zu versorgen und Alltagshandlungen selbständig durchzuführen, zwischen Oktober 2015 und Mai 2017
etwa gleichgeblieben sei. Hinsichtlich der Antriebslage der Klägerin sei etwa Ende 2015 eine Verschlechterung eingetreten.
Ergänzend wird auf den weiteren Inhalt des Befundberichts und des MDK-Gutachtens Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig aber nur teilweise begründet.
I.
Die angegriffenen Bescheide der Beklagten und der die Klage insgesamt abweisende Gerichtsbescheid des Sozialgerichts sind
insoweit rechtmäßig und belasten die Klägerin nicht in ihren Rechten, wie Leistungen bei häuslicher Pflege nach dem Vierten
Kapitel, Dritter Abschnitt, Erster Titel des
SGB XI in der bis Ende 2016 geltenden Fassung des Gesetzes (a. F.), also zumindest nach §
15 Abs.
3 Satz 1 Nr.
1 SGB XI a. F. – Pflegestufe I – betroffen sind, weil die materiell-rechtlichen Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt waren. Zur Begründung
kann auf die insoweit zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in den Entscheidungsgründen seines Gerichtsbescheides Bezug
genommen werden, die sich der Senat nach Prüfung zu eigen macht, §
153 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG). Auch der Senat gelangt gemäß §
128 SGG aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere auf der Grundlage der MDK-Gutachten vom 12. November 2015 und vom 14.
Oktober 2016 zu der vollen Überzeugung, dass die Klägerin bis zum 31. Dezember 2016 für die seinerzeit gemäß §
14 SGB XI a. F. maßgeblichen Katalogverrichtungen im wöchentlichen Tagesdurchschnitt nicht in einem zeitlichen Umfang von mehr als
45 Minuten fremder Hilfe bedurfte. Die Richtigkeit der Feststellungen in den Gutachten des MDK, die im Wege des Urkundenbeweises
Berücksichtigung finden konnten, wird weder durch klägerischen Vortrag noch durch die Ergebnisse der weiteren Ermittlungen
des Senats in Zweifel gezogen; auch sind keine anderweitigen Anhaltspunkte für eine zu geringe Einschätzung des Hilfebedarfs
der Klägerin im Bereich der Grundpflege erkennbar.
Der Senat geht auf der gleichen tatsächlichen Grundlage ferner davon aus, dass der Klägerin auch kein Anspruch auf zusätzliche
Betreuungsleistungen nach den Vorschriften des Vierten Kapitels, Fünfter Abschnitt des
SGB XI a. F. zugestanden hat. Diese in den §§ 45a f.
SGB XI a. F. geregelten Leistungen, welche das Sozialgericht im Rahmen der Auslegung des Klagebegehrens als solche aus der „Pflegestufe
0“ bezeichnet hat, sind allerdings nicht (in zulässiger Weise) Streitgegenstand des gerichtlichen Verfahrens geworden, da
es insoweit bereits an einer Entscheidung der Beklagten durch Verwaltungsakt fehlt, welche gemäß §
54 Abs.
1 SGG im Wege der Anfechtungs- (und Leistungs-) klage gerichtlich überprüfbar wäre. Hat – wie hier – ein Vorverfahren stattgefunden,
so ist gemäß §
95 SGG Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat.
Hier hatte die Klägerin mit ihrem ursprünglichen, von der Beklagten abgelehnten Antrag vom 20. Oktober 2015 „Leistungen der
Pflegeversicherung“ beantragt und diese durch Ankreuzen dahingehend konkretisiert, dass „eine Kombination Pflegesachleistung
/ Pflegegeld“ beantragt werde. Im Ablehnungsbescheid verfügte die Beklagte, dass keine Leistungen bewilligt werden können,
was damit begründet wurde, dass „kein erheblicher Pflegebedarf“ vorliege. Zur Frage einer erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz
im Sinne von §
45a SGB XI a. F. verhielt sich dieser Bescheid in keiner Weise, mithin auch nicht zu einer Ablehnung von Leistungen nach §
45b SGB XI a. F., obschon im zugrundeliegenden MDK-Gutachten eine Einschränkung der Alltagskompetenz ausdrücklich verneint worden war.
Gegen eine solche (gar nicht ausdrücklich verfügte) Ablehnung wandte sich die Klägerin dann zwar mit ihrem Widerspruch; die
Beklagte ist in ihrem Widerspruchsbescheid darauf aber nicht eingegangen, sondern bei der Ablehnung allein der eigentlichen
Pflegeleistungen geblieben.
Eine (gerichtlich überprüfbare) Entscheidung der Beklagten über einen Leistungsanspruch aus §
45b SGB XI a. F. liegt mithin noch nicht vor. Der entsprechende Antrag der Klägerin, der erstmals in ihrer Widerspruchsbegründung zu
sehen sein dürfte, ist somit grundsätzlich noch unbeschieden. Die Klägerin sei allerdings darauf hingewiesen, dass selbst
im Fall einer rückwirkenden Feststellung der Voraussetzungen von §
45a SGB XI a. F. allenfalls dann noch Ansprüche (auf Kostenerstattung) geltend gemacht werden könnten, wenn im fraglichen Zeitraum bzw.
spätestens im Folgejahr (vgl. §
45a Abs.
2 Satz 2
SGB XI a. F.) auch tatsächlich entgeltliche Betreuungs- oder Entlastungsleistungen in Anspruch genommen worden wären, wofür ebenfalls
nichts ersichtlich ist.
Die Berufung wäre schließlich auch insoweit unbegründet, als für Zeiträume ab dem 1. Januar 2017 höhere Leistungen als nunmehr
zugesprochen (bzw. ab dem 1. Mai 2017 von der Beklagten mit Bescheid vom 7. Juni 2017 bewilligt) geltend gemacht sein sollten.
Die Klägerin hat während des gesamten Verlaufs des gerichtlichen Verfahrens weder gegenüber dem Sozialgericht noch im zweiten
Rechtszug einen förmlichen Antrag formuliert, weshalb die oben niedergelegte Antragsfassung im zweiten Rechtszug lediglich
auf einer Auslegung des klägerischen Begehrens durch den Senat basiert, §
123 SGG. Das schließt zwar nicht grundsätzlich aus, dass die Klägerin „eigentlich“ höhere Ansprüche als solche nach Pflegegrad 2
geltend machen möchte. Allerdings sind zur Überzeugung des Senats zum einen keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass
die materiellen Voraussetzungen für derartige höhere Leistungsansprüche erfüllte sein könnten. Insoweit stützt sich der Senat
auf die überzeugenden Ausführungen im MDK-Gutachten aus Juni 2017, welches die gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen
der Selbständigkeit und Fähigkeiten der Klägerin nachvollziehbar feststellt, folgerichtig und im Einklang mit den Begutachtungs-Richtlinien
unter den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff subsumiert und zutreffend bewertet. Das Ergebnis der weiteren Ermittlungen des
Senats, wonach es lediglich gegen Ende des Jahres 2015 zu einer pflegerelevanten Änderung (Verschlechterung der Antriebslage)
gekommen ist, stellt diese Bewertung nicht in Frage. Gegenteiliger Vortrag der Klägerin, der ggf. Anlass zu weiteren Ermittlungen
hätte sein können, liegt nicht vor. Da zudem die gewichteten Punkte in jedem einzelnen Modul auf der hierfür jeweils erforderlichen
Mindestzahl an Einzelpunkten beruht, bedürfte es für einen höheren Pflegegrad nicht nur einer geringfügigen, sondern einer
deutlich höheren Bewertung der Einschränkungen in einzelnen Lebensbereichen, wofür aber nichts ersichtlich ist. Vor diesem
Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass trotz der nur knappen Unterschreitung der Mindestzahl an gewichteten Punkten für
den Pflegegrad 3 (wenigstens 47,5 gewichtete Punkte bei hier laut MDK-Gutachten anzunehmenden 45,00 gewichteten Punkten, vgl.
§
15 Abs.
3 SGB XI) in tatsächlicher Hinsicht eine erhebliche Abweichung von den Feststellungen des MDK-Gutachters erforderlich wäre.
Zum anderen sind keinerlei bei der Auslegung des klägerischen Begehrens zu berücksichtigende Anhaltspunkte dafür ersichtlich,
dass die Klägerin derartige höhere Leistungen (nach den Pflegegraden 3, 4 oder 5) überhaupt geltend macht. Insbesondere hat
sie sich in keiner Weise dahingehend eingelassen, dass die Ermittlung der für den Pflegegrad maßgeblichen gewichteten Punkte
durch den MDK zu ihren Lasten vom wahren Wert abweichen würde.
II.
Die Berufung ist hingegen insoweit begründet, als nach der Bescheidlage der Klägerin für den Zeitraum Januar bis April 2017
Leistungen bei häuslicher Pflege versagt werden. Auch dieser, allein nach „neuem“ Recht zu beurteilende Zeitraum ist Streitgegenstand
des vorliegenden Verfahrens (dazu unter 1.); bereits in diesem Zeitraum waren die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Leistungsanspruchs
nach §§
36 ff.
SGB XI erfüllt (dazu unter 2.).
1. Entgegen der Auffassung der Beklagten sind im vorliegenden Verfahren auch Zeiträume seit dem zweiten Antrag der Klägerin
bzw. seit der hierauf ergangenen zweiten Ablehnungsentscheidung der Beklagten vom 17. Oktober 2016 streitgegenständlich; insbesondere
steht einer Entscheidung des Senats über diesen Teilzeitraum nicht entgegen, dass die Beklagte hierüber bestandskräftig abschlägig
entschieden hätte (hierzu unter a)). Ferner beschränkt weder die Überleitungsregelung des §
140 Abs.
1 SGB XI (hierzu unter b)) noch die Änderung der materiellen Leistungsvoraussetzungen durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz vom 21.
Dezember 2015 (PSG II) mit Wirkung vom 01. Januar 2017 den Streitgegenstand in zeitlicher Hinsicht (hierzu unter c)). Schließlich
stellt es kein prozessuales Hindernis für eine Sachentscheidung des Senats dar, dass sich das Sozialgericht in Verkennung
der Rechtslage mit Ansprüchen nach „neuem Recht“ in seiner Entscheidung gar nicht auseinandergesetzt hat (hierzu unter d)).
a) Weder die „Neuanträge“ der Klägerin aus September 2016 und Mai 2017 noch deren Bescheidung seitens der Beklagten führen
im Ergebnis zu einer Zäsurwirkung mit der Folge einer zeitlichen Beschränkung des Streitgegenstandes des gerichtlichen Verfahrens.
Es kann insoweit dahinstehen, ob der Rechtsfigur der „Zäsurwirkung“ von Folgeanträgen, wie sie von den für das Fürsorgerecht
zuständigen Senaten des BSG entwickelt wurde, überhaupt die ihr von einigen Instanzgerichten zugemessene Tragweite zukommt (vgl. etwa SG Dortmund, Urteil
vom 12. September 2016 – S 32 AS 4289/15 WA –, Rn. 38). Jedenfalls für Rechtsgebiete außerhalb des SGB II und des SGB XII kann eine solche, den Streitgegenstand der Anfechtungs- und Leistungsklage trotz unbefristeten Leistungsantrags beschränkende
Wirkung nicht angenommen werden, soweit ein zeitlich unbefristetes Dauerrechtsverhältnis im Streit steht. Vielmehr hat es
bei dem Grundsatz zu verbleiben, dass im Falle der Ablehnung einer Leistung ohne zeitliche Begrenzung Gegenstand des gerichtlichen
Verfahrens zulässigerweise die gesamte bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz verstrichene Zeit ist, vgl. etwa BSG, Urteil vom 31. Oktober 2007 – B 14/11b AS 7/07 R –, Rn. 15, juris.
Die Annahme einer derartigen „Zäsurwirkung“ eines (beschiedenen) Neuantrags wird für das Sozialversicherungsrecht daher von
der ganz überwiegenden Rechtsprechung auch zutreffend abgelehnt, vgl. zum Recht der gesetzlichen Rentenversicherung etwa Landessozialgericht
Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 22. Januar 2019 – L 7 R 132/16 –, Rn. 9, juris. Gleiches gilt für das Schwerbehindertenrecht. Auch dort entfaltet ein erneuter Ablehnungsbescheid gerade
keine Sperrwirkung, die das Gericht daran hindern würde, den Gesamtzeitraum von ursprünglicher Antragstellung bis zum Zeitpunkt
seiner Entscheidung zu beurteilen; die Erteilung eines derartigen erneuten Ablehnungsbescheides ist vor diesem Hintergrund
überhaupt entbehrlich (BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 SB 6/12 R –, Rn. 28, juris). Der 3. Senat des BSG nimmt in dieser Entscheidung zwar an, dass der (entbehrliche) erneute Ablehnungsbescheid nicht gemäß §
96 SGG Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens werde, weil er vom Anwendungsbereich dieser Norm seit ihrer Änderung zum 1. April
2008 nicht mehr erfasst werde (a. a. O., Rn. 27). Dabei geht der 3. Senat des BSG davon aus, dass ein erneuter Ablehnungsbescheid den vorangegangenen weder abändere noch ersetze, was zumindest zweifelhaft
erscheint (hierzu nachfolgend). Zutreffend ist jedenfalls, dass es bei laufendem Anfechtungs- und Leistungsklageverfahren
eines „Neuantrages“ keineswegs bedarf, weshalb die sachgerechte Reaktion der Behörde auf einen derartigen Antrag dessen Nichtbehandlung
unter Verweis auf das anhängige gerichtliche Verfahren sein dürfte. Allein diese Vorgehensweise gewährleistet, dass widerstreitende
Entscheidungen zuverlässig vermieden werden. Eine dogmatische Begründung dafür, dass eine gleichwohl ergehende erneute Ablehnungsentscheidung
trotz Nichteinbeziehung nach §
96 SGG nicht der Wirksamkeit gemäß § 39 Abs. 1 SGB X und insbesondere der Bestandskraft gemäß §
77 SGG zugänglich sein sollte, lässt sich dem Urteil des 3. Senat des BSG indes nicht entnehmen. Eine hierfür wohl zu verlangende Nichtigkeit des erneuten Ablehnungsbescheides ließe sich letztlich
nur annehmen, wenn man einen in der vorliegenden Konstellation entbehrlichen Neuantrag bereits als unzulässig und unwirksam
und den hierauf ergehenden Verwaltungsakt mangels (wirksamen) Antrags wegen Verstoßes gegen § 18 Satz 2 Nr. 2 SGB X als so grob fehlerhaft ansähe, dass ihm keinerlei Wirksamkeit zukommen darf (vgl. zur Frage der Wirksamkeit eines ohne Antrag
ergehenden mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsaktes etwa BVerwG, Urteil vom 29. August 1968 – III C 118.67 –, BVerwGE 30, 185-188, Rn. 13; ferner Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl., § 22, Rn. 35).
Diese Erwägungen können aber letztlich dahinstehen, da der Bescheid der Beklagten vom 17. Oktober 2016 in unmittelbarer Anwendung
von §
96 SGG Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens (schon vor dem Sozialgericht) geworden ist, denn er hat den ursprünglich angefochtenen
Ablehnungsbescheid vom 18. November 2015 insoweit ersetzt, wie Zeiträume ab seinem Erlass betroffen sind. Dem steht nicht
entgegen, dass Ablehnungsbescheiden grundsätzlich keine Dauerwirkung zukäme, weshalb sie mit Wirkung für die Zukunft weder
abgeändert noch ersetzt werden könnten (so aber bspw. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007 – B 8/9b SO 12/06 R Rn. 8; Bienert, NZS 2015, 844 <848>). Diese Meinung verkennt, dass sich der Begriff der „Dauerwirkung“, wie er insbesondere im Rahmen von § 48 SGB X von Bedeutung ist, nicht zur Bestimmung des Anwendungsbereichs von §
96 SGG eignet. Die Änderung eines Verwaltungsaktes auf der Grundlage von § 48 SGB X setzt in der Tat voraus, dass ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vorliegt, dessen tatsächliche Grundlagen sich nachträglich
geändert haben. Richtig ist ferner, dass einem reinen Ablehnungsbescheid in diesem Sinne keine Dauerwirkung zukommt, da er
einer Änderung auf der Grundlage von § 48 SGB X von vornherein weder zugänglich ist, noch einer „Änderung“ bedarf. Sind die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Anspruch
erst nach der verwaltungsseitigen Ablehnungsentscheidung erfüllt, bedarf es deren Abänderung nicht; vielmehr kann nunmehr
schlicht in einem neuen Verwaltungsverfahren eine bewilligende Entscheidung für den Zeitraum ab Erfüllung der Voraussetzungen
ergehen. Für §
96 SGG kommt es hingegen schon nach dem Wortlaut auf das Vorliegen eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung gar nicht an. Verlangt
ist allein, dass der neue Verwaltungsakt den bereits angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Hierfür reicht es
aus, dass der ursprünglich angefochtene Verwaltungsakt bei Erlass des weiteren noch in irgendeiner Weise fortwirkt, was keineswegs
mit dem Begriff der Dauerwirkung im Sinne von § 48 SGB X gleichzusetzen ist. Auch ein Ablehnungsbescheid wird gemäß § 39 Abs. 1 SGB X mit seinem Erlass wirksam und bleibt dies bis zu einer gegenteiligen Entscheidung auch. Durch einen auf „Neuantrag“ später
ergehenden weiteren Ablehnungsbescheid wird der ursprüngliche Ablehnungsbescheid mithin insoweit ersetzt, als der Zeitraum
ab Erlass des neuen Bescheides betroffen ist. Das entspricht der ganz überwiegenden und ständigen Rechtsprechung des BSG, sowohl zur Sozialversicherung (zuletzt etwa Beschluss vom 21. Oktober 2020 – B 13 R 59/19 B) als auch zum SGB II (Urteil vom 16. Juni 2015 – B 4 AS 37/14 R, Rn. 13; Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 14/06 R – Rn. 30).
Da der Verwaltungsakt vom 17. Oktober 2016 mithin den ursprünglich angefochtenen Ablehnungsbescheid vom 18. November 2015
mit Wirkung ab seiner Bekanntgabe am 20. Oktober 2016 ersetzt hat, ist er gemäß §
96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden, ohne dass es einer Willensbetätigung der Beteiligten oder der Durchführung eines
Vorverfahrens bedurft hätte. Auch der Umstand, dass dem Sozialgericht vor seiner Entscheidung der Verwaltungsakt vom 17. Oktober
2016 entgegen §
96 Abs.
2 SGG von der Beklagten nicht mitgeteilt worden ist, ändert am Eintritt dieser gesetzlichen Rechtsfolge nichts.
b) Aus §
140 Abs.
1 SGB XI folgt nicht, dass „originäre“ Ansprüche der Klägerin nach neuem Recht vorliegend nicht zu prüfen wären. Nach dieser zum 1.
Januar 2017 in Kraft getretenen Norm (Art. 8 Abs. 2 PSG II, BGBl. I 2015, S. 2463) erfolgt die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung
geltenden Rechts. Der Erwerb einer Anspruchsberechtigung auf Leistungen der Pflegeversicherung richtet sich ebenfalls nach
dem zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht.
§
140 SGB XI stellt insgesamt eine bloße Überleitungsnorm dar, der nach ihrem Wortlaut und erst Recht nach der Gesetzesbegründung erkennbar
keine die verfahrensrechtliche Stellung von Antragstellern nach altem Recht verschlechternde Wirkung zukommen sollte. Zweck
der verfahrensrechtlichen Regelung des Abs. 1 der Norm ist es vielmehr, auch solche Antragsteller in den Genuss der rechtlichen
Wohltat der großzügigen Regelungen zur Überleitung von Pflegestufen in Pflegegrade in Abs. 2 der Norm kommen zu lassen, auf
deren rechtzeitig noch in 2016 gestellter Antrag hin eine Begutachtung und Bescheidung aus rein tatsächlichen Gründen erst
im Jahr 2017 möglich war. Durch die Überleitung sollte ausweislich des Gesetzentwurfes zum PSG II sichergestellt werden, dass
„kein bisheriger Leistungsbezieher schlechter [...] aber viele bisherige Leistungsbezieher deutlich besser [...] gestellt“
werden (BR-Drs. 354/15, S. 153; BT-Drs. 18/5926, S. 140). Nach der Gesamtsystematik beschränkt sich der Anwendungsbereich
der Überleitungsnorm des §
140 Abs.
2 SGB XI grundsätzlich auf solche Versicherte, die bereits vor Inkrafttreten der Neuregelungen am 1. Januar 2017 Leistungen nach altem
Recht bezogen haben. Abs. 1 bewirkt, dass das Gleiche auch für diejenigen Versicherte gilt, die solche Leistungen wegen einer
Antragstellung und Erfüllung der seinerzeitigen Tatbestandsvoraussetzungen in 2016 jedenfalls noch hätten beziehen können.
Lag hingegen zwar ein „Altantrag“ vor, war dieser jedoch wegen Nichterfüllung der Leistungsvoraussetzungen „nach altem Recht“
bis zum 31. Dezember 2016 unbegründet, ist für die Anwendung der Überleitungsnorm gar kein Raum, weil es schlicht nichts überzuleiten
gibt. In derartigen Fällen sind Leistungszeiträume ab Januar 2017 allein nach dem nunmehr geltenden neuen Recht zu beurteilen;
ob die Voraussetzungen einer Pflegestufe nach den Kriterien des alten Pflegeversicherungsrechts zu irgendeinem Zeitpunkt nach
Außerkrafttreten dieses Rechts erstmals eintreten, ist daher ohne rechtliche Relevanz, so auch Hessisches Landessozialgericht,
Urteil vom 24. Juni 2020 – L 6 P 18/19 – Leitsatz 1.
Eine so weitreichende Wirkung, wie sie der Regelung des §
140 Abs.
1 SGB XI unausgesprochen vom Sozialgericht und offenbar auch vom LSG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 22. November 2017 – L 1 P 8/15 –, Rn. 35) beigemessen wird, kommt ihr vor diesem Hintergrund hingegen nicht zu. Die dem Schutz der verfahrensrechtlichen
Stellung von Alt-Antragstellern dienende Regelung hätte anderenfalls in allen noch nicht abgeschlossenen Verfahren die Notwendigkeit
eines vorsorglichen Neuantrages noch im Januar 2017 mit sich gebracht (vgl. §
33 Abs.
1 Satz 3
SGB XI), um zu vermeiden, dass originäre Ansprüche nach neuem Recht verlustig gehen. Da mit einer derart einschneidenden Rechtsfolge
sicherlich kein Antragsteller rechnen muss, ginge hiermit wiederum eine entsprechende Beratungs- und Hinweispflicht der Pflegekassen
einher, im Falle deren Verletzung ein Antragsteller wiederum im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches so zu stellen
wäre, als hätte er rechtzeitig einen Antrag nach neuem Recht gestellt. Es verbietet sich aber auch aus verfassungsrechtlichen
Gründen, eine Norm des Verfahrensrechts in derartiger Weise zum Nachteil des Rechtssuchenden auszulegen. Verfahrensrecht ist
grundsätzlich dienendes Recht, das dem materiellen Recht zur Geltung verhelfen soll. Das Rechtsstaatsprinzip verbietet es
deshalb auch, Verfahrensrecht so auszulegen und anzuwenden, dass den Beteiligten der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen
eingeräumten Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelinstanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise
erschwert wird (vgl. BVerfG vom 2. Dezember 1987 – 1 BvR 1291/85). Gleiches muss auch für solche verfahrensrechtliche Regelungen gelten, die sich bereits auf das Antragsverfahren selbst
auswirken.
c) Ansprüche nach „neuem Recht“ sind auch nicht etwa deshalb vom gerichtlichen Verfahren nicht erfasst, weil es sich hierbei
um einen im Verhältnis zu den Ansprüchen nach „altem Recht“ anderen Streitgegenstand handeln würde. Vielmehr handelt es sich
um den identischen Streitgegenstand wie vor der Rechtsänderung, da sowohl die maßgebliche Anspruchsnorm als auch der zugrundeliegende
Lebenssachverhalt im Wesentlichen unverändert sind.
Sowohl bis zum 31. Dezember 2016 als auch danach richtete sich der streitige Anspruch auf Leistungen bei häuslicher Pflege
nach den §§
36 bis
38 SGB XI. Diese Anspruchsnormen haben durch das PSG II zwar gewisse Änderungen erfahren, insbesondere was den Umfang der (Sach- und
Geld-)Leistungen anbetrifft, ferner hinsichtlich der zu verlangenden Schwere der Pflegebedürftigkeit. Während bis zum Jahr
2016 jegliche Pflegebedürftigkeit einen Anspruch auf Pflegesach- oder -geldleistungen bzw. auf eine Kombination beider Leistungen
begründete, ist seit dem Jahr 2017 Pflegebedürftigkeit zumindest nach Pflegegrad 2 zu verlangen. Hierin ist indes keine wesentliche
Änderung zu sehen, da auch ein Hilfebedarf, der nach neuem Recht lediglich Pflegegrad 1 erreichte, nach altem Recht noch keine
Pflegebedürftigkeit begründete, sondern allenfalls einen Anspruch auf zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen begründen
konnte (sog. Pflegestufe 0). Folgerichtig ist der (bei sachgemäßer Auslegung festzustellende) Klageantrag, das Klageziel,
vorliegend durch die Rechtsänderung unbeeinflusst geblieben. Die Klägerin macht nach wie vor Leistungen bei häuslicher Pflege
in Form von Kombinationsleistungen geltend; soweit Sachleistungen in vergangenen Zeiträumen tatsächlich nicht in Anspruch
genommen worden sind, richtet sich der Anspruch ausschließlich auf die Geldleistung Pflegegeld. Entgegen der von der Beklagten
in Bezug genommenen Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts (Urteil vom 24. Juni 2020 – L 6 P 18/19, Rn. 80) ist die Klage keineswegs auf „die Feststellung einer Pflegestufe nach altem Recht“ oder „auf die Feststellung eines
Pflegegrades nach neuem Recht gerichtet“.
Ebenso wie das so ermittelte Klageziel ist auch der diesem zugrundeliegende Lebenssachverhalt, der Klagegrund, in seinem Wesen
unverändert geblieben. Die Tatsache, dass der jeweils bei Anspruchsprüfung anzuwendende Pflegebedürftigkeitsbegriff nunmehr
vom Gesetzgeber abweichend definiert wird, begründet daher keinen neuen, anderen Klagegrund. Nach wie vor macht die Klägerin
geltend, dass sie aus gesundheitlichen bzw. psychischen Gründen im täglichen Leben fremder Hilfe bedürfe. Auch die maßgebliche
Einleitungsnorm im
SGB XI hat insoweit keine wesentliche Änderung erfahren, wie ein Vergleich der jeweiligen Fassungen von §
14 Abs.
1 SGB XI zeigt:
Bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung:
Pflegebedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder
Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich
für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen.
Ab dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung:
Pflegebedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder
der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche,
kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig
kompensieren oder bewältigen können. Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate,
und mit mindestens der in § 15 festgelegten Schwere bestehen.
Auch wenn durch die weiteren Neuregelungen (§
14 Abs.
4 SGB XI a. F., §
14 Abs.
2 SGB XI n. F.) nunmehr in abstrakterer Weise auf die Beeinträchtigungen der Selbständigkeit abgestellt wird und nicht mehr lediglich
auf einen Katalog von Verrichtungen des täglichen Lebens, ist nicht ersichtlich, dass seit 2017 ein im Wesen veränderter Lebenssachverhalt
als anspruchsbegründend verlangt werden würde. Betrachtet man die konkreten, bei der Feststellung von Pflegebedürftigkeit
zu berücksichtigenden Bereiche, wird vielmehr deutlich, dass alle ehemaligen „Verrichtungen“ sämtlich auch nach neuem Recht
in den in §
14 Abs.
2 SGB XI aufgeführten einzelnen „Modulen“ (konkret in den Nrn. 1 Mobilität, und 4 Selbstversorgung) wörtlich oder sinngemäß auch weiterhin
erfasst werden und damit auch weiterhin zu berücksichtigen sind. Es sind daneben lediglich weitere, bislang nicht berücksichtigungsfähige
Bereiche bzw. Module hinzugekommen, insbesondere im geistig/seelischen Bereich. Die Änderung in den gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen
stellt sich im Ergebnis mithin als Erweiterung dar, ohne dass auch nur ein bislang berücksichtigungsfähiger Sachverhalt nach
neuem Recht unbeachtlich wäre.
Es kann daher anlässlich der Änderung des Rechts der sozialen Pflegeversicherung zum 1. Januar 2017 im Ergebnis nichts Anderes
gelten als anlässlich der Reform des Erwerbsminderungsrentenrechts zum 1. Januar 2001. Auch seinerzeit hatte die sozialgerichtliche
Rechtsprechung, letztlich bestätigt durch Urteil des BSG vom 17. Februar 2005 – B 13 RJ 31/04 R –, angenommen, dass mit der Änderung der materiellen Anspruchsvoraussetzungen des Rentenanspruchs keine Änderung des Klagegrundes
einhergeht, da nach wie vor Rente mit der Begründung begehrt wurde, „wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht mehr
(voll) arbeiten zu können“, weshalb sich auch der Streitgegenstand „nicht dadurch ändert, dass sich die den erhobenen Anspruch
regelnden Bestimmungen des materiellen Rechts ändern. Der Wesensgehalt des angefochtenen Bescheids und der begehrten Leistung
[...] ist hierdurch nicht berührt“ (BSG, a. a. O., Rn. 25).
Der Senat hält daher auch in Kenntnis der abweichenden Auffassung des Hessischen Landessozialgerichts an seiner bisherigen
Meinung fest, dass Ansprüche nach dem ab dem 1. Januar 2017 geltenden Recht Gegenstand von Klageverfahren werden, die bis
zum 31. Dezember 2016 gestellte Anträge auf Pflegeleistungen bzw. die hierauf ergangenen abschlägigen Verwaltungsentscheidungen
zum Gegenstand haben, vgl. Beschluss des Senats vom 06. August 2018 – L 6 P 5/18 B PKH –, juris.
d) Unschädlich ist schließlich, dass das Sozialgericht in fehlerhafter Auslegung über das Klagebegehren der Klägerin nur teilweise
entschieden und etwaige Ansprüche nach neuem Recht unbeachtet gelassen hat. Die Klägerin ist deshalb nicht gehindert, den
nicht entschiedenen Anspruch mit der Berufung weiterhin geltend zu machen, vgl. BSG, Urteil vom 21. Januar 1959 – 11/8 RV 181/57.
Das Sozialgericht hat, indem es Ansprüche der Klägerin seit dem 1. Januar 2017 allenfalls aufgrund Überleitungsrecht in den
Blick genommen und Ansprüche aufgrund originärer Anwendung des seither geltenden Rechts schlicht unbeachtet gelassen hat,
nicht etwa einen Teil des Streitgegenstandes „versehentlich aus dem Blick verloren“, sondern ist erkennbar fälschlich davon
ausgegangen, derartige Ansprüche seien dem Gericht gar nicht, jedenfalls nicht wirksam zur Entscheidung angetragen. Der Senat
konnte daher im Wege der eigenen Auslegung des wahren Begehrens der Klägerin den Sachantrag der Klägerin entsprechend weiter
fassen als im ersten Rechtszug, ohne dass es hierfür eines Ergänzungsurteils oder der Rechtsfigur des „Heraufholens von Prozessresten“
bedurft hätte.
2. Zur vollen Überzeugung des Senats waren die Voraussetzungen für Pflegesach- bzw. Geldleistungen nach Pflegegrad 2 gemäß
§§
36 bis
38 SGB XI i.V.m. §
15 Abs.
3 Satz 4 Nr.
2 SGB XI bereits ab dem 1. Januar 2017 erfüllt. Der Senat gewinnt diese Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere
auf der Grundlage der hinsichtlich der pflegefachlichen Bewertung gut nachvollziehbaren und unangefochtenen Ausführungen im
MDK-Gutachten aus Juni 2017 sowie des ärztlichen Befundberichts des Hausarztes der Klägerin vom 22. Oktober 2019, wonach die
wesentliche, für den Pflegebedarf maßgeblichen Änderungen, insbesondere die Einschränkungen der Antriebslage bereits Ende
2015 eingetreten sind, während sich der Zustand im Übrigen im zeitlichen Verlauf weitgehend unverändert dargestellt hat. Der
Senat hat daher keinen Zweifel, dass die überzeugenden Feststellungen des MDK auch bereits für den Zeitraum Januar bis April
2017 vollumfänglich zutreffen und dass das im Gutachten als „Leistungsfall“ angegebene Datum 11. Mai 2017 allein auf der fehlerhaften
Bewertung dieses Tages des erneuten Antrags der Klägerin als rechtlich maßgeblich beruht. Anhaltspunkte dafür, dass gerade
an diesem Datum oder überhaupt im vorgenannten Zeitraum eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse mit Auswirkungen auf
die Pflegebedürftigkeit der Klägerin eingetreten sein könnte, bestehen nicht. Die Beklagte hat trotz mehrfacher Aufforderung
des Senats keine weitere Stellungnahme des MDK zu dieser Frage vorgelegt und sich hierzu auch sonst nicht eingelassen, sodass
der Senat im Ergebnis weder Anlass noch Möglichkeiten zu weitergehenden Ermittlungen zu erkennen vermochte.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
IV.
Die Zulassung der Revision folgt aus §
160 Abs.
2 SGG, wobei der Senat von einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage ausgeht, ob ein nach altem Pflegeversicherungsrecht
gestellter und bis zum 31. Dezember 2016 unbegründeter Antrag auch als Antrag nach neuem Recht zu behandeln ist, wenn über
ihn bis zu diesem Tage noch nicht bestandskräftig entschieden worden ist.