Vorläufige Leistungen nach dem AsylbLG
Offenes Kirchenasyl kein rechtliches oder tatsächliches Abschiebungshindernis
Keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung einer Aufenthaltsdauer
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren vom Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen nach §
2 Asylbewerberleistungsgesetz (
AsylbLG) in Verbindung mit dem SGB XII anstelle von Grundleistungen nach §
3 AsylbLG.
Der 1966 geborene Antragsteller zu 1, dessen 1973 geborene Ehefrau (Antragstellerin zu 2) und deren gemeinsamer, am 14. Januar
2001 geborener Sohn (Antragsteller zu 3) und die am 12. Dezember 2002 geborene Tochter der Antragsteller zu 1 und 2 sind iranische
Staatsangehörige.
Die Familie reiste am 3. Februar 2018 mit einem in S. ausgestellten Visum in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte
am 8. Februar 2018 Asyl. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 11. April
2018 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung der Antragsteller nach S. an. Die s. Behörden hätten am 10. April 2018
ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge erklärt.
Am 29. Juni 2018 begaben sich die Antragsteller in das offene Kirchenasyl der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde A-Stadt.
Der Gemeindekirchenrat hatte vorher die Aufnahme der Familie ins Kirchenasyl beschlossen und teilte dem BAMF die Adresse der
Antragsteller für die Zeit des Kirchenasyls mit. Der Antragsteller zu 3 war zu diesem Zeitpunkt 17, die Tochter der Antragsteller
zu 1 und 2 15 Jahre alt.
Mit Bescheid vom 28. Januar 2019 hob das BAMF den Bescheid vom 11. April 2018 wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf. Mit
Bescheid vom 4. Juni 2019 lehnte das BAMF die Anträge der Antragsteller auf Asylanerkennung ab. Die Flüchtlingseigenschaft
sowie der subsidiäre Schutzstatus wurden nicht zuerkannt. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes lägen nicht vor. Die Antragsteller wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe
dieser Entscheidung zu verlassen. Seit dem 23. Februar 2020 sind die Antragsteller vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und
im Besitz von Duldungen.
Am 8. Februar 2019 wurden die Antragsteller in den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners umverteilt. Am 11. Februar 2019
beantragten die Antragsteller beim Antragsgegner die Gewährung von Leistungen. Für die Zeit ab dem 8. Februar 2019 bis 31.
Dezember 2019 wurden ihnen Leistungen nach §
3 AsylbLG gewährt (Bescheid vom 22. April 2020).
Mit Bescheid vom 21. April 2020 lehnte der Antragsgegner die Gewährung von Leistungen gemäß §
2 AsylbLG ab. Nach §
2 Abs.
1 AsylbLG sei abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 das SGB XII nur auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 18 Monaten ihren tatsächlichen
nicht wesentlich unterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet gehabt hätten und seit ihrer Einreise zu keinem Zeitpunkt und in
keiner Weise rechtsmissbräuchlich einen verzögernden Einfluss auf ihre Aufenthaltsdauer genommen hätten. Eine wesentliche
Unterbrechung im Sinne der Vorschrift liege bei Kirchenasyl nicht vor, der Aufenthalt werde aber rechtsmissbräuchlich beeinflusst.
Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liege – regelmäßig – vor, wenn sich der Leistungsberechtigte in Kirchenasyl begebe, um
sich dadurch bei einer drohenden Abschiebung dem Zugriff der staatlichen Behörden zu entziehen. Ob die staatlichen Behörden
durch das Kirchenasyl rechtlich oder tatsächlich an einer Abschiebung gehindert seien, sei unerheblich. Der Leistungsberechtigte
wisse, dass er sich durch die Flucht ins Kirchenasyl dem (rechtmäßigen) Zugriff der staatlichen Behörden entziehe und damit
im Widerspruch zur Rechtsordnung handele und dadurch auch die Aufenthaltsdauer verlängere, da dies gerade Ziel seines Handelns
sei. Die Antragsteller hätten ihren Aufenthalt in Deutschland rechtsmissbräuchlich beeinflusst, indem sie sich ins Kirchenasyl
begeben hätten. In das Kirchenasyl hätten sie sich auch erst etwa einen Monat nach Erhalt des Bescheides zur Unzulässigkeit
des Asylverfahrens begeben. Die seinerzeit noch minderjährigen Antragsteller zu 3 und 4 hätten die notwendige Einsichtsfähigkeit
besessen, um das diesbezügliche „Unrecht“ zu begreifen. Nach Aktenlage lägen keine Entwicklungsstörungen oder Erkrankungen
bzw. Behinderungen vor, sodass von dem seinerzeit geistig normal entwickelten siebzehneinhalbjährigen Antragsteller zu 3 das
Verständnis dafür vorausgesetzt werde, dass die bewusste Inanspruchnahme des Kirchenasyls die Konsequenz habe, dass eine Ausreise
bzw. Abschiebung nach S. umgangen werde. Gleiches gelte für die seinerzeit fünfzehneinhalbjährige Tochter der Antragsteller
zu 1 und 2. Auch einer normal entwickelten 15 Jahre alten Person sei durch Gespräche mit Eltern und der Kirche sowie anderen
Personen und/oder dem Zuhören bewusst, dass das Kirchenasyl verhindere, dass Deutschland verlassen werden müsse. Die Tochter
der Antragsteller zu 1 und 2 habe damals die Schule besucht. Das Empfinden von richtig und falsch könne unter diesen Voraussetzungen
gerade im Hinblick darauf, dass ein Schulbesuch das Verständnis der deutschen Sprache deutlich verbessere und vereinfache,
als gegeben angesehen werden. In dem Wissen, dass eine zwangsweise Durchsetzung eine Abschiebung durch die staatlichen Behörden
aus Respekt gegenüber den kirchlichen Einrichtungen generell nicht erfolge, hätten beide Kinder sogar die Schule besucht,
obwohl die Abschiebung angeordnet gewesen sei. Daher seien auch ihnen Leistungen nach §
2 AsylbLG zu versagen.
Mit Bescheid vom 22. April 2020 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen gemäß §
3 AsylbLG in Höhe von monatlich 1.728,- € ab Januar 2020 bis auf weiteres.
Gegen die Ablehnung von Leistungen nach §
2 AsylbLG erhoben die Antragsteller am 7. Mai 2020 Widerspruch. Diesen wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 25. Juni
2020 zurück. Die Rechtsbehelfsbelehrung enthielt den Hinweis, dass gegen den Widerspruchsbescheid innerhalb eines Monats nach
Zustellung Klage beim Verwaltungsgericht Schwerin erhoben werden könne.
Am 7. Mai 2020 haben die Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Schwerin einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Sie hätten sich nicht rechtsmissbräuchlich verhalten, da der zuständigen
Ausländerbehörde die Anschrift der Antragsteller bekannt gewesen sei und somit ihre Ausreisepflicht in der Zeit hätten umsetzen
können. Sofern die zuständige Ausländerbehörde das Kirchenasyl anerkenne und keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vornehme,
könne darin kein Rechtsmissbrauch gesehen werden, denn der Staat verzichte dann selbst zeitweise auf die Durchsetzung aufenthaltsbeendender
Maßnahmen (so SG Stade, Beschluss vom 17. März 2016 – S 19 AY 1/16 ER; SG Kassel, Beschluss vom 11. September 2017 – S 11
AY 4/17 ER). Auch liege in der Nutzung des Kirchenasyls kein sittenwidriges Verhalten. Dass die Kirchen Ausländern, denen
die Abschiebung drohe, Kirchenasyl anböten, entspreche den christlich geprägten Werten der Gesellschaft. Die kirchliche Maßnahme
werde von den Behörden respektiert. Die Antragsteller seien auch nicht in das Kirchenasyl „geflüchtet“, da die diesbezügliche
Entscheidung nicht ihnen, sondern dem Gemeindekirchenrat oblegen habe. Den Antragstellern sei nicht bewusst gewesen, dass
sie die Hilfe der Kirche nicht hätten annehmen dürfen, ohne gegen die Rechtsordnung zu verstoßen. Zu beachten sei weiter,
dass nach der obergerichtlichen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ein Ausländer nicht flüchtig sei, wenn er sich ins
Kirchenasyl begebe (OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. Oktober 2019 – 2 M 698/19). Sähe man das in der sozialgerichtlichen Praxis anders, käme es zu einem Wertungswiderspruch. Zumindest den Antragstellern
zu 3 und 4 seien Leistungen gemäß §
2 AsylbLG zu gewähren, da sie bei Eintritt in das Kirchenasyl noch minderjährig gewesen seien. Da es sich um höchstpersönliche Ansprüche
handele, sei ihnen ein etwaiges Fehlverhalten ihrer Eltern nicht zuzurechnen (Hinweis auf Oppermann in Schlegel/Völzke, jurisPK
– SGB XII, 2. Aufl. 2014, §
2 AsylbLG, 1. Überarbeitung, §
2 Rn. 175). Auch sei die Ablehnung von Leistungen gemäß §
2 AsylbLG mit der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu §
3 AsylbLG nicht vereinbar (Urteile vom 18. Juli 2012, Aktenzeichen: 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11). Denn mit der Zuerkennung eines Anspruchs gemäß §
2 AsylbLG seien Leistungen nach dem Normalmaß, also analog dem SGB XII, zu gewähren. Das Bundesverfassungsgericht habe eine Differenzierung der von diesem „Normalmaß“ abweichenden menschenwürdigen
Leistungen nach §
3 AsylbLG nur dann als zulässig erachtet, wenn der Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant
abweiche und dies in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt
werden könne. Eine Beschränkung auf ein durch etwaige Minderbedarfe für Kurzaufenthalte geprägtes Existenzminimum sei dagegen
nach der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsstatus und ohne Rücksicht auf die Berechtigung
einer ursprünglich gegenteiligen Prognose jedenfalls dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn der tatsächliche Aufenthalt die
Spanne eines Kurzaufenthaltes deutlich überschritten habe. Leistungen nach §
2 AsylbLG könnten unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedenfalls nicht auf Dauer ausgeschlossen werden. Tatbestände
für Anspruchskürzungen, zum Beispiel wegen Verhinderung aufenthaltsbeendender Maßnahmen seien dagegen in §
1a AsylbLG vorgesehen. Hier habe es der Betroffene in der Hand, durch Aufgabe seines pflichtwidrigen Verhaltens wieder in den Genuss
der ihm zustehenden Leistungen zu kommen. Zudem habe der Gesetzgeber inzwischen anerkannt, dass ein Fehlverhalten nicht unbegrenzt
sanktioniert werden könne, indem er die Befristung einer Anspruchskürzung in §
14 AsylbLG vorgesehen habe. Die Vorschrift sei auf §
2 AsylbLG analog anzuwenden. Die Eilbedürftigkeit ergebe sich aus dem Vorenthalten notwendiger existenzsichernder Leistungen.
Die Antragsteller haben beantragt:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens
bis zum Ende des Leistungsbezuges nach dem
AsylbLG, dazu verpflichtet, den Antragstellern ab dem 7. Mai 2020 Leistungen nach §
2 AsylbLG zu gewähren.
Der Antragsgegner hat beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Es sei bereits keine Eilbedürftigkeit gegeben, da mit Bescheid vom 22. April 2020 ab Januar 2020 bis auf weiteres Leistungen
gemäß §
3 AsylbLG bewilligt und gezahlt worden seien. Die Antragsteller seien seit dem 23. Februar 2020 vollziehbar ausreisepflichtig. Ein
Anspruch gemäß §
2 AsylbLG bestehe nicht, da die Antragsteller ihren Aufenthalt rechtsmissbräuchlich beeinflusst hätten. Dies sei der Fall, wenn Kirchenasyl
in Anspruch genommen werde, um den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen zu verhindern (Hinweis auf SG Lüneburg, Urteil
vom 22. Februar 2018 – S 26 AY 26/17; SG Regensburg, Urteil vom 30. Mai 2018 – 7 AY 4/17). Die Inanspruchnahme von Kirchenasyl
sei ein selbst zu vertretendes Vollzugshindernis für aufenthaltsbeendende Maßnahmen gemäß §
1a Abs.
3 AsylbLG. Auch wenn keine rechtlichen Hindernisse für den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen gegeben seien, so bestehe aufgrund
der politischen Entscheidung zur Respektierung von Kirchenasyl ein faktisches Vollzugshindernis (Bayerisches LSG, Beschluss
vom 11. November 2016 – L 8 AY 28/16 B ER sowie L 8 AY 29/16 B ER –). Damit gehe der dauerhafte Ausschluss des Bezugs von
Analogleistungen einher (SG Regensburg, Urteil vom 30. Mai 2018 – S 7 AY 4/17; SG Halle, Urteil vom 23. Oktober 2018 – S 17
AY 3/17).
Durch Beschluss vom 5. Juni 2020 hat das SG Schwerin den Antragsgegner vorläufig und vorbehaltlich einer bestandskräftigen
Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 21. April 2020 verpflichtet, der Tochter der Antragsteller zu 1 und
2 für die Zeit vom 7. Mai bis einschließlich 6. November 2020 Leistungen gemäß §
2 Abs.
1 AsylbLG zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt. Eine Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile für die Antragsteller
zu 1 bis 3 sei nicht nötig. In Vornahmesachen komme eine einstweilige Anordnung nur in Betracht, wenn sowohl ein Anordnungsanspruch,
d. h. ein materieller Anspruch für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt werde, als auch ein Anordnungsgrund, d. h. die Unzumutbarkeit
bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, gegeben sei. Ein Anordnungsanspruch
sei nur für die Tochter der Antragsteller zu 1 und 2 gegeben. Gemäß §
2 Abs.
1 Satz 1
AsylbLG seien abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 das SGB XII und Teil 2 des
SGB IX auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im
Bundesgebiet aufhielten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hätten. Die Antragsteller
hielten sich bereits länger als 18 Monaten in der Bundesrepublik Deutschland auf; durch das Kirchenasyl sei insoweit keine
Unterbrechung eingetreten, denn sie hätten die Bundesrepublik Deutschland nicht verlassen. Der Begriff des Rechtsmissbrauchs
beinhalte eine objektive (den Missbrauchstatbestand) und eine subjektive Komponente (das Verschulden). In objektiver Hinsicht
setze der Missbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus; der Ausländer solle von Analogleistungen
ausgeschlossen sein, wenn die von §
2 Abs.
1 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung auf gesetzeswidrige oder sittenwidrige Weise erworben worden sei. Vorliegend sei von einer rechtsmissbräuchlichen
Beeinflussung der Aufenthaltsdauer auszugehen. Hierfür spreche bereits die Einreise der Antragsteller aus S.. Denn gemäß §
29 Abs. 1 Nr. 1 Asylgesetz sei ein Asylantrag bereits unzulässig, wenn aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen
Vertrags ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Vorliegend sei nach den Zuständigkeitskriterien
der Verordnung (EU) Nummer 604/2013 (Dublin III – Verordnung) S. für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig und zur
Übernahme der Antragsteller verpflichtet. Bei derartiger Zuständigkeit eines anderen Staates erweise sich bereits der weitere
Aufenthalt in der Bundesrepublik als rechtsmissbräuchlich, was den Bezug von Analogleistungen ausschließe. Denn nach dem Prinzip
der normativen Vergewisserung bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens gelte die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber
in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspreche. Dementsprechend
sei das Asylverfahren auch nur in dem nach den einschlägigen Vorschriften zuständigen Staat durchzuführen und erweise sich
der Aufenthalt im Bundesgebiet als nicht zuständiger Staat als rechtsmissbräuchlich (SG Lüneburg, Urteil vom 22. Februar 2018
– 26 AY 26/17). Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein könnte, bestünden nicht.
Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liege weiterhin darin, dass die Antragsteller sich dem Zugriff der staatlichen Behörden
entzogen und die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen verhindert hätten. Zwar würden aufenthaltsbeendende Maßnahmen
von den Ausländerbehörden während des Kirchenasyls nicht vollzogen. Dies ändere nichts an dem Umstand, dass Leistungsberechtigte,
die sich freiwillig in das Kirchenasyl begäben, Vollzugsmaßnahmen zur Beendigung ihres Aufenthalts damit bewusst verhinderten,
indem sie sich dem Zugriff durch staatliche Vollzugsbehörden faktisch entzögen. Durch die Schaffung eines solchen faktischen
Abschiebungshindernisses werde die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland durch ein Verhalten des Leistungsberechtigten
aber gezielt beeinflusst, obwohl der Aufenthalt von der Rechtsordnung nicht mehr gedeckt sei bzw. die Verpflichtung zur Aufenthaltsbeendigung
bestehe.
Der für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten erforderliche Vorsatz des Leistungsberechtigten sei im Eilverfahren nur für die
Antragsteller zu 1 bis 3 anzunehmen. Der Leistungsberechtigte wisse, dass er sich durch die Flucht ins Kirchenasyl dem (rechtmäßigen)
Zugriff der staatlichen Behörden entziehe und damit im Widerspruch zur Rechtsordnung handele und dadurch natürlich auch die
Aufenthaltsdauer verlängere, da dies gerade Ziel seines Handelns sei (Hinweis auf Cantzler,
AsylbLG, §
2 Rn. 41). Umstände, die zu einer abweichenden Beurteilung führen könnten, lägen nicht vor. Das Tatbestandsmerkmal der Selbstbeeinflussung
der Aufenthaltsdauer enthalte ein höchstpersönliches Element. Der Leistungsberechtigte müsse das vorgeworfene Verhalten persönlich
zu verantworten haben. Dies sei für die Antragsteller zu 1 und 2 aus den vom Antragsgegner genannten Gründen anzunehmen. Der
Vorwurf des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens dürfe nicht über das Verhalten Dritter zugerechnet werden. Es scheide damit
eine Zurechnung des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens der Eltern als gesetzlicher Vertreter zu Lasten der Kinder aus (Urteil
des BSG vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R). Die Ausführungen des Antragsgegners zur Einsichtsfähigkeit des seinerzeit fast volljährigen
Antragstellers zu 3 würden nach dem Ergebnis des Eilverfahrens für zutreffend gehalten. Für die seinerzeit 15-jährige Tochter
der Antragsteller zu 1 und 2 sei hingegen derzeit eine Rechtsmissbräuchlichkeit bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens
nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Ob diese seinerzeit das nötige Einsichtsvermögen und Unrechtsbewusstsein gehabt habe,
könne nur durch ihre persönliche Anhörung festgestellt werden. Hier werde, worauf der Antragsgegner allgemein zutreffend abstelle
dies aber nicht individuell überprüft habe, neben dem Alter das seinerzeitige Bildungs- und Sprachniveau der Tochter der Antragsteller
zu 1 und 2 zu berücksichtigen sein (Hinweis auf LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. Juni 2009 – L 11 AY 27/09 B ER).
Die Differenzierung zwischen dem Antragsteller zu 3 und der Tochter der Antragsteller zu 1 und 2 ergebe sich im Eilverfahren
daraus, dass mit Vollendung des 16. Lebensjahres von einer zunehmenden Reife und Einsichtsfähigkeit auszugehen sei, die sich
unter anderem beispielhaft in den gesetzlichen Wertungen der §§
1303,
2229 BGB zeige oder zum Beispiel dem Umstand, dass man ab diesem Alter vor Gericht vereidigt werden könne.
Soweit für die Antragsteller zu 1 bis 3 ein ehemals rechtsmissbräuchliches Verhalten unter Umständen aus verfassungsrechtlichen
Gründen möglicherweise nicht ausnahmslos auf Dauer zu Einschränkungen führen sollte, sei dies derzeit bis auf weiteres jedenfalls
im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Übermaßverbot nicht der Fall, da die Antragsteller erst seit
kurzem die Vorbezugszeit erfüllt hätten. Die Differenz der anderen Leistungen nach dem
AsylbLG zu den begehrten Analogleistungen nach §
2 AsylbLG sei zudem seit den Gesetzesänderungen zum 1. März 2015 nur noch gering (Cantzler aaO., §
2 Rn. 38). Eine Befristung des Ausschlusses von Leistungen nach §
2 AsylbLG sei, anders als bei den Anspruchseinschränkungen nach §
1a AsylbLG durch §
14 AsylbLG, durch das Gesetz nicht vorgesehen und komme daher nicht in Betracht (Cantzler, aaO., Rn. 36).
Für die Tochter der Antragsteller zu 1 und 2 sei ein Anordnungsgrund gegeben, denn ihr würden aktuell zu geringe existenzsichernde
Leistungen gewährt. Der Regelungszeitraum der einstweiligen Anordnung werde insoweit, dem Charakter einer vorläufigen Regelung
Rechnung tragend, auf 6 Monate begrenzt.
Gegen den am 9. Juni 2020 zugestellten Beschluss haben die Antragsteller zu 1 bis 3 Beschwerde eingelegt und die Bewilligung
von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren beantragt. Zur Begründung haben sich die Antragsteller auf ihr erstinstanzliches
Vorbringen bezogen. Ergänzend haben sie vorgetragen, dass ein Rechtsmissbrauch in subjektiver Hinsicht ein vorsätzliches Verhalten
des Ausländers verlange. Die Antragsteller hätten aufgrund der Tatsache, dass die Ausländerbehörde keine aufenthaltsbeendenden
Maßnahmen gegen sie durchgeführt habe, davon ausgehen können, dass ihr Verhalten nicht sozialwidrig gewesen sei. Selbst wenn
diese Annahme falsch gewesen wäre, lasse dies den Schuldvorwurf gegen sie entfallen, denn sie hätten sich in einem Irrtum
über die Rechtswidrigkeit ihrer Handlung befunden. Außerdem habe das SG in seiner Entscheidung die Minderjährigkeit des Antragstellers zu 3 nicht ausreichend gewürdigt. Soweit das Gericht auf die
Einsichtsfähigkeit des Antragstellers zu 3 zum Zeitpunkt der Handlung seiner Eltern abstellen möchte, begegne diese Herangehensweise
praktischen Bedenken. Wer solle im Jahr 2020, also mehr als 2 Jahre nachdem sich die Antragsteller ins Kirchenasyl begeben
hätten, feststellen können, ob der Antragsteller zu 3 die notwendige Einsichtsfähigkeit gehabt habe. Die Behauptungen des
Antragsgegners könnten hierfür keine Grundlage bilden, zumal er sich vor seiner Entscheidung keinen persönlichen Eindruck
vom Antragsteller zu 3 gemacht habe. Selbst wenn der Antragsteller zu 3 die notwendige Einsichtsfähigkeit gehabt haben sollte,
könne von ihm unter Beachtung der Schutzwirkungen des Art.
6 GG nicht ernsthaft erwartet werden, dass er sich als Minderjähriger von seiner Familie abgewendet hätte, um seine Eltern und
seine Schwester allein ins Kirchenasyl gehen zu lassen.
Die Antragsteller beantragen:
Der Antragsgegner wird unter teilweiser Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Schwerin vom 5. Juni 2020 im Wege der
einstweiligen Anordnung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens bis zum Ende des Leistungsbezugs
nach dem
AsylbLG, dazu verpflichtet, den Antragstellern ab dem 7. Mai 2020 Leistungen nach §
2 AsylbLG zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält die Ausführungen im Beschluss des SG Schwerin vom 5. Juni 2020, soweit sie die Antragsteller zu 1 bis 3 betreffen,
für zutreffend und verweist auf sein bisheriges Vorbringen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig.
Der Beschwerdeausschluss nach §
172 Abs.
3 Nummer
1 SGG greift nicht ein, weil die Berufung in der Hauptsache nicht nach §
144 Abs.
1 SGG der Zulassung bedürfte. Denn die Wertgrenze von mehr als 750,- € nach §
144 Abs.
1 Satz 1 Nummer
1 SGG wird vorliegend in jedem Fall überschritten. Streitig sind nämlich höhere Leistungen nach §
2 AsylbLG, mithin der Differenzbetrag zwischen diesen Leistungen zu den sogenannten Grundleistungen des §
3 AsylbLG. Da es sich vorliegend um 3 Antragsteller handelt und die Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 22. April 2020 ab 1. Januar
2020 bis auf weiteres, mithin ohne zeitliche Befristung, erfolgte, wären im Hinblick auf die höheren Leistungen nach §
2 AsylbLG ebenfalls keine zeitliche Befristung anzunehmen. Auch wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung in der Sozialgerichtsbarkeit
bei einstweiligen Rechtsschutzverfahren teilweise die Auffassung vertreten, dass bei einem Eilverfahren, das die Gewährung
von laufenden existenzsichernden Leistungen betrifft, grundsätzlich von einem streitigen Zeitraum von (maximal) 12 Monaten
auszugehen sei (vergl. Beschluss des LSG Niedersachsen – Bremen vom 17. August 2017 – L 8 AY 17/17 B ER, juris Rn. 4 mit weiteren
Nachweisen).
Die Beschwerde ist auch begründet. Das SG hat den Eilantrag betreffend die Antragsteller zu 1 bis 3 zu Unrecht abgelehnt.
Einstweilige Anordnungen sind nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass
ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass
der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit
eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §
920 Abs.
2 ZPO).
Die Antragsteller zu 1 bis 3 haben einen Anordnungsanspruch nach §
2 Abs.
1 AsylbLG in Verbindung mit §§ 27 ff. SGB XII glaubhaft gemacht.
Nach §
2 Abs.
1 AsylbLG in der vom 1. März 2015 bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung ist das SGB XII abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung
im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Die Vorschrift
ist zum 21. August 2019 dahingehend geändert worden, dass nunmehr ein Aufenthalt im Bundesgebiet ohne wesentliche Unterbrechung
von 18 Monaten erforderlich ist (Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019, BGBl. I
2019,1294), wobei vorliegend nach §
15 AsylbLG die bisherige Fassung weiter anzuwenden ist.
Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, dass sie zum leistungsberechtigten Personenkreis nach §
1 Abs.
1 Nummer
4, Nummer
5 AsylbLG gehören. Sie haben sich seit 15 bzw. 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufgehalten.
Die Antragsteller sind am 3. Februar 2018 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Der 15 Monatszeitraum endete damit
am 3. Mai 2019, der 18 Monatszeitraum am 3. August 2019 und damit vor Inkrafttreten der Neufassung zum 21. August 2019. Für
eine wesentliche Unterbrechung des Aufenthalts gibt es keine Anhaltspunkte; entsprechendes ist auch vom Antragsgegner nicht
vorgetragen worden. Eine wesentliche Unterbrechung ist auch nicht durch die Inanspruchnahme des Kirchenasyls eingetreten,
da hierdurch die Wartezeit nicht unterbrochen wird (vergl. Oppermann/Filges in Schlegel/Völzke, jurisPK – SGB XII, 3. Aufl., §
2 AsylbLG, Rn. 65).
Den Antragstellern kann nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht vorgeworfen werden, dass sie die Dauer ihres
Aufenthalts rechtsmissbräuchlich im Sinne von §
2 Abs.
1 AsylbLG selbst beeinflusst haben.
Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, juris Rn. 32 ff.) setzt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten in diesem Sinne
in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus, das in subjektiver Hinsicht
vorsätzlich im Bewusstsein der objektiv möglichen Aufenthaltsbeeinflussung getragen ist. Der Ausländer soll von Analogleistungen
ausgeschlossen sein, wenn die von §
2 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung anderenfalls auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben wäre. Der Ausländer darf sich
also nicht auf einen Umstand berufen, den er selbst treuwidrig herbeigeführt hat. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters
des §
2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen für den Ausländer
sowie über die Regelung des §
2 Abs.
3 AsylbLG (a. F.) für dessen minderjährige Kinder so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher kann nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalles,
der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des
AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analogleistungen führen. Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer
liegt regelmäßig schon dann vor, wenn bei generell – abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise
die Aufenthaltsdauer verlängern kann. Eine Ausnahme hiervon ist zu machen, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen
Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden
können (BSG, aaO., Rn. 44). Die objektive Beweislast für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten trägt der Leistungsträger (Oppermann/Filges
in jurisPK-SGB XII, aaO., §
2 AsylbLG, Rn. 140).
Nicht in dem Nichtausreisen des Ausländers trotz (formaler) Ausreisepflicht (Duldung) liegt ein Rechtsmissbrauch, sondern
allenfalls in den Gründen, die hierzu geführt haben. Der Aufenthaltsstatus (Duldung) ist für die Beantwortung der Frage, ob
der Ausländer seinen Aufenthalt rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, unerheblich. Hat der Ausländer diese Gründe zu
vertreten, hat er also insoweit selbst Einfluss auf das Geschehen genommen, kann nur deshalb, nicht aber wegen bestehender
Ausreisepflicht, ein Rechtsmissbrauch bejaht werden. Zwischen dem Verhalten des Ausländers und der Beeinflussung der Dauer
des Aufenthalts bedarf es nach dem Gesetzeswortlaut zwar einer kausalen Verknüpfung. Allerdings reicht grundsätzlich eine
typisierende, also generell – abstrakte Betrachtungsweise hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten
und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts aus (vergl. Urteil des BSG vom 17. Juni 2008, aaO., juris Rn. 42), es ist also kein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinne erforderlich (vergl. Beschluss
des Hessischen LSG vom 4. Juni 2020 – L 4 AY 5/20 B ER, juris Rn. 30).
Abzustellen ist jedenfalls allein auf eine Einflussnahme auf die Dauer des Aufenthalts. Die alleinige Einreise nach Deutschland
kann schon begrifflich auch in sog. Dublin-Fällen keine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer darstellen. Die in der Rechtsprechung
offenbar vereinzelt gebliebene Auffassung des SG Lüneburg in der vom Sozialgericht zitierten Entscheidung ist daher abzulehnen,
vgl. auch SG Landshut, Beschluss vom 02. Juli 2019 – S 11 AY 39/19 ER –, Rn. 25, juris).
Unter Berücksichtigung des oben dargelegten Maßstabes ist bei generell-abstrakter Betrachtungsweise das Verhalten der Antragsteller
typischerweise geeignet, die Aufenthaltsdauer zu verlängern, denn das Kirchenasyl wird von den Verwaltungsbehörden ebenso
wie von der Bundesregierung respektiert. Jedenfalls in der Regel wird von Vollzugsmaßnahmen während des Kirchenasyls in den
kirchlichen Räumen abgesehen und auf die Abschiebung faktisch verzichtet (vergl. Beschluss des Hessischen LSG vom 4. Juni
2020, aaO., juris Rn. 31 mit weiteren Nachweisen).
Es fehlt jedoch an der nach §
2 Abs.
1 Satz 1
AsylbLG geforderten Rechtsmissbräuchlichkeit, weil das Kirchenasyl weder ein rechtliches noch ein tatsächliches Abschiebungshindernis
darstellt. Vielmehr beruht die Tatsache, dass im Kirchenasyl befindliche Ausreisepflichtige tatsächlich nicht abgeschoben
werden ausschließlich auf einer politischen und humanitären Entscheidung des Bundesministeriums des Inneren und/oder der jeweils
zuständigen Ausländerbehörden. Das gilt jedenfalls dann, wenn es sich – wie hier – um ein sogenanntes „offenes“ Kirchenasyl
handelt, bei dem die Ausländerbehörde zu jeder Zeit der Dauer des Kirchenasyls und den Aufenthaltsort des Ausländers kennt,
er mithin weder unauffindbar noch flüchtig ist. Das Kirchenasyl ist aufenthaltsrechtlich gerade nicht einem Untertauchen gleichzusetzen.
Der Staatsgewalt ist damit der tatsächliche Zugriff auf die kirchlichen Räume nicht entzogen, sie kann vielmehr die Abschiebung
einer sich im Kirchenasyl befindlichen Person nötigenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchsetzen und damit der
staatlichen Ordnung Geltung verschaffen (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 4. Juni 2020, aaO., juris Rn.
34). Verzichtet der Staat bewusst darauf, die Ausreisepflicht und damit staatliches Recht durchzusetzen, kann das Vollzugsdefizit
nicht dem sich in das Kirchenasyl begebenden Ausländer angelastet werden, denn es wäre widersprüchlich, den Aufenthalt vorübergehend
zu tolerieren und dem Ausländer gleichzeitig den Aufenthalt als Rechtsmissbrauch vorzuwerfen (Hessisches Landessozialgericht,
aaO., juris Rn. 35 mit weiteren Nachweisen).
Auch im vorliegenden Fall hat der Gemeindekirchenrat der evangelisch–lutherischen Kirchengemeinde A-Stadt, nachdem er sich
für die Aufnahme der Familie in das Kirchenasyl entschieden hatte, dem BAMF die Adresse der Antragsteller für die Zeit des
Kirchenasyls mitgeteilt. Der Ausländerbehörde war daher die konkrete Adresse, unter der er die Antragsteller antreffen konnte,
bekannt. Damit lag weder ein rechtliches noch ein tatsächliches Abschiebungshindernis vor, denn es hätte jederzeit die Möglichkeit
bestanden, die ausländerrechtlich angeordnete Abschiebung der Antragsteller nach S. zu vollziehen. Es ist auch von Seiten
des Antragsgegners nichts dazu vorgetragen worden, dass es konkrete Vollstreckungsversuche gegen die Antragsteller gegeben
hätte, die an dem Kirchenasyl gescheitert wären. Dass der Antragsgegner keinen Abschiebeversuch unternommen hat, ist damit
jedenfalls nicht den Antragstellern vorzuwerfen. Der gegenteiligen Auffassung des Bayerischen LSG, Urteil vom 28. Mai 2020
– L 19 AY 38/18, ist daher nicht zu folgen.
Der erforderliche Anordnungsgrund, die besondere Eilbedürftigkeit der Sache, ist ebenfalls gegeben, weil bei einem Streit
um laufende existenzsichernde Leistungen (wie hier nach §
2 AsylbLG) regelmäßig für die Zeit ab Eingang des Eilantrags eine besondere Eilbedürftigkeit anzunehmen ist. Besondere Umstände, die
hier eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten, sind für den Senat nicht ersichtlich. Am Anordnungsgrund fehlt es
nicht schon deshalb, weil die Antragsteller im laufenden Leistungsbezug nach §
3 AsylbLG stehen. Denn sie werden von den höheren Analogleistungen und damit von dem Niveau der Leistungen ausgeschlossen, das nach
der Einschätzung des Gesetzgebers erforderlich ist, um das nach Art.
1 Abs.
1 in Verbindung mit Art.
20 Abs.
1 GG zu gewährende sozio-kulturelle Existenzminimum nach Verstreichen der Wartezeit zu decken.
Der Senat hat die Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Leistungsgewährung auf den 30. Juni 2021 begrenzt, weil
trotz Erlass des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 2020 der Bescheid vom 21. April 2020 nicht bestandskräftig geworden ist,
da der Widerspruchsbescheid eine unzutreffende Rechtbehelfsbelehrung enthielt (als zuständiges Gericht wird das Verwaltungsgericht
Schwerin angegeben), sodass vorliegend die Klagefrist ein Jahr beträgt (vergl. §
66 Abs.
2 Satz 1
SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf §
73a Abs.
1 Satz 1
SGG in Verbindung mit §§
114 Abs.
1 Satz 1,115
ZPO.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.