Anerkennung des Merkzeichens RF im Schwerbehindertenrecht bei Kommunikations- und Konzentrationsstörungen
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) streitig.
Bei dem im Jahre 1933 geborenen Kläger hatte der Beklagte mit Bescheid vom 22. Januar 1997 bei dem Kläger ab 1. März 1995
einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen "G" und "B" festgestellt. Als Funktionsbeeinträchtigung wurden
die psychische Behinderung (Einzel-GdB 100), ein Diabetes mellitus (Einzel-GdB 10) sowie eine Sehbehinderung (Einzel-GdB 30)
bezeichnet. Dem lag das Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. I. vom 6. November 1996, welches im Rahmen
eines Verfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erstellt worden war, zugrunde. Dr. I. hatte beschrieben, dass kein vernünftiger Zweifel an einer schwersten Persönlichkeitsveränderung
bestehe, die jede auch nur ansatzweise Entfaltung von Lebensqualität unmöglich mache. Der Kläger führe nur noch rudimentäre
Interaktionen mit seinem sozialen Umfeld aus.
Am 7. Februar 2006 beantragte der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" und legte das Gutachten des Dr. I. aus November
1996 und einen Arztbrief der Ärztin für Neurologie und Psychologie J. vom 30 Juni 2004 vor. Der Beklagte holte die Befundberichte
des Arztes für Innere Medizin Dr. K. vom 29. Mai 2006 und des Facharztes für Urologie Dr. L. vom 29. Mai 2006 ein und lehnte
nach versorgungsärztlicher Stellungnahme mit Bescheid vom 11. Juli 2006 und Widerspruchsbescheid vom 31. Oktober 2006 die
Zuerkennung des Merkzeichens "RF" ab, da der Kläger trotz der schweren, gesundheitlichen Einschränkungen und vorliegenden
Behinderungen noch in der Lage sei (ggf. auch unter Verwendung eines Rollstuhls und unter Mithilfe von Begleitpersonen) öffentliche
Veranstaltungen zu besuchen.
Dagegen hat der Kläger am 15. November 2006 Klage vor dem SG Hannover erhoben und ausgeführt, dass er wegen seiner Leiden
ständig daran gehindert sei, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Das Problem bestehe nicht darin, eine öffentliche
Veranstaltung zu erreichen. Die Schwierigkeiten lägen vielmehr auf psychischer Ebene. Der Kläger könne sich nicht über einen
längeren Zeitraum konzentrieren. Er könne sich insbesondere nicht auf mehrere Personen zugleich konzentrieren. Spätestens
nach 5 bis 10 Minuten ereilten den Kläger unerträgliche Kopfschmerzen.
Der Beklagte hat vorgetragen, dass der Kläger aufgrund der bei ihm vorliegenden Leiden nicht ständig von öffentlichen Veranstaltungen
jedweder Art ausgeschlossen sei. Die Funktionseinschränkungen hat der Beklagte in der versorgungsärztlichen Stellungnahme
vom 14. Mai 2007 mit einem Einzel-GdB von 100 für die psychische Beeinträchtigung, einem Einzel-GdB von 30 für den Diabetes
mellitus, einem Einzel-GdB von 30 für die Sehbehinderung sowie einem Einzel-GdB von 10 wegen einer chronischen Nasen-Nebenhöhlen-Entzündung
beschrieben. Unter Veranstaltungen seien nicht nur mehrere Stunden dauernde Aufführungen zu subsumieren, sondern es seien
auch beispielsweise die Teilnahme an Gottesdiensten, Volksfesten, Sportveranstaltungen, Kundgebungen im Freien sowie der Besuch
von Fußballspielen oder bei Kindern beispielsweise auch der Zoobesuch zu berücksichtigen.
Das SG hat den Befundbericht der Ärztin für Neurologie und Psychotherapie J. vom 15. Juni 2006 sowie eine ergänzende Stellungnahme
vom 13. März 2008 beigezogen. Frau J. hat diverse Arztbriefe aus dem Zeitraum von Mai 1997 bis Januar 2008 eingereicht. Das
Gericht hat weiterhin den Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin und Psychotherapie Dr. M. vom 8. Juli 2007 und eine
ergänzende Stellungnahme vom 12. März 2008 beigezogen und die Klage mit Gerichtsbescheid vom 13. Mai 2008 abgewiesen. Die
Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" seien nicht erfüllt, da der Kläger nicht allgemein und umfassend
von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei. Dr. M. teile in seinem Befundbericht zwar mit, dass der Kläger an öffentlichen
Veranstaltungen nicht teilnehmen könne, liefere dafür aber keine nachvollziehbare Begründung. Er führe lediglich aus, dass
der Kläger über keine familiären Bindungen oder sozialen Kontakte zu Landsleuten verfüge und daher völlig isoliert lebe. Einzige
Bezugspersonen seien die Ärzte. Das SG hat ausgeführt, die Tatsache, dass der Kläger möglicherweise nicht über eine Begleitperson in seinem Umfeld verfüge, die
ihm die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ermögliche, erfülle nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens
"RF". Sowohl Dr. M. als auch Frau Dr. J. hätten auf nochmalige Nachfrage erklärt, dass sich der Kläger für die ärztlichen
Behandlungen in die Praxisräume des jeweiligen Arztes begebe.
Gegen den dem Kläger am 22. Mai 2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser am 23. Juni 2008 Berufung eingelegt. Er stützt
sich auf seine bisherigen Ausführungen, und trägt vor, dass es auf der Hand liege, dass der Kläger sich selbst zu den ärztlichen
Behandlungen begebe, da zum Einen die Krankenkasse entsprechende Fahrten nicht finanzieren und zum Anderen sich die behandelnden
Ärzte nicht zum Kläger begeben würden. Im Übrigen sei ein Arztbesuch keine öffentliche Veranstaltung, sondern der einzige
soziale Kontakt, über welchen der Kläger verfüge. Jegliche Form der Einlassung mit anderen Menschen stelle für den Kläger
eine panikauslösende Exposition dar, so dass dieses unbedingt unterlassen werden solle. Weiterhin hat der Kläger ein ärztliches
Attest des Dr. M. (seit 31. März 2008 im altersbedingten Ruhestand) vom 26. April 2009 vorgelegt.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 13. Mai 2008 sowie den Bescheid des Beklagten vom 11. Juli 2006 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 2006 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die gesundheitlichen
Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "RF" ab 7. Februar 2006 festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält die Anspruchsvoraussetzungen des Nachteilsausgleichs "RF" für nicht erfüllt und nimmt Bezug auf die versorgungsärztliche
Stellungnahme vom 21. Mai 2009. Es gäbe durchaus Veranstaltungen des öffentlichen Lebens, die auch ohne eine Einlassung mit
anderen Menschen möglich seien. Zu denken sei beispielsweise an einen Besuch im Zoo o. ä.
Das Gericht hat mit Verfügung vom 5. Juni 2009 darauf hingewiesen, dass eine Beweisaufnahme von Amts wegen derzeit nicht beabsichtigt
sei.
Wegen des weiteren Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die erst- und zweitinstanzliche Prozessakte
sowie die den Kläger betreffende Schwerbehindertenakte des Beklagten verwiesen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand der
Entscheidung geworden.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 11. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 31. Oktober 2006 erweist sich als rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "RF".
Nach §
69 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (
SGB IX) stellen die für die Durchführung des Gesetzes zuständigen Behörden auf Antrag einen Ausweis entsprechend der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) über das Vorliegen der Behinderung und den Grad der Behinderung aus. Nach § 3 Nr 5 SchwbAwV (in der ab 1. Januar 2005 bis 11. Dezember 2006 und in der ab 12. Dezember 2006 gültigen Fassung) ist der Nachteilsausgleich
"RF" in den Ausweis einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen
für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt. Die Befreiung natürlicher Personen von der Rundfunkgebührenpflicht
im ausschließlich privaten Bereich ist in § 6 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages (RGebStV) in der Fassung des niedersächsischen
Gesetzes vom 31. August 1991 (Nds. GVBl 1991, 311), zuletzt geändert durch den 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 18.
Dezember 2008 in der Fassung des niedersächsischen Gesetzes vom 13. Mai 2009 (Nds. GVBl 2009, 170), geregelt. Gemäß § 6 Abs
1 Nr 7 und 8 RGebStV werden von der Rundfunkgebührenpflicht auf Antrag folgende Personen befreit: Ziff 7a: Blinde oder nicht
nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von 60 vom Hundert allein wegen der Sehbehinderung;
Ziff 7b: hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfe
nicht möglich ist, Ziff 8: Behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 vom Hundert
beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Sehbehinderung, die einen Einzel-GdB
von 60 rechtfertigen würde, bestehen nicht. Weiterhin bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger gehörlos ist
oder einem solchen Menschen gleichzustellen ist. Auch die Voraussetzungen des § 6 Ziff. 8 des Rundfunkstaatsvertrages in der
Fassung des Niedersächsischen Gesetzes liegen nicht vor. Unter dem Begriff "öffentliche Veranstaltung" ist die Gesamtheit
der Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher
Art zu verstehen (BSG, Urteil vom 10. August 1993 - 9/9a RVs 7/91, SozR 3-3870 § 48 Nr 2). Ein ständiger Ausschluss von diesen Veranstaltungen liegt erst vor, wenn der Schwerbehinderte allgemein
und umfassend vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher öffentlichen
Veranstaltungen teilnehmen kann. Es ist eine enge Auslegung dieser Anspruchsvoraussetzungen geboten; praktisch muss eine Bindung
an das Haus bestehen (BSG, Urteil vom 10. August 1993 - 9/9a RVs 7/91, SozR 3-3870 § 48 Nr 2; BSG, Urteil vom 11. September 1991 - 9a/9a RVs 15/89, SozR 3-3870 § 4 Nr 2). Ängste im Verkehr sowie Platzangst bei Menschenansammlungen sind für sich allein noch nicht geeignet,
den Betroffenen dauerhaft von der Teilnahme an Veranstaltungen jeglicher Art auszuschließen. Ebenso hat derjenige keinen Anspruch
auf den Nachteilsausgleich "RF", der allenfalls zeitweise an Veranstaltungen nicht teilnehmen kann (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen,
Urteil vom 21. April 2010 - L 10 SB 22/09). Das BSG (SozR 3-3870 § 4 Nr 2) hat ausgeführt, dass derjenige, der an öffentlichen Veranstaltungen zwar noch körperlich
teilnehmen kann, aber infolge einer Beeinträchtigung seiner geistigen Aufnahmefähigkeit solchen Veranstaltungen nicht bis
zum Ende folgen kann, keinen Anspruch auf Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht hat. In Abgrenzung dazu hat das Landessozialgericht
für das Saarland (LSG Saarland, Urteil vom 27. Januar 2008 - L 5 B SB 68/98) ausgeführt, dass auch geistig-seelische Teilnahmehindernisse
die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "RF" erfüllen können. Der dortigen Klägerin war es aufgrund ihrer psychischen
Behinderung (neurotisch-phobischen Störung) unmöglich, an irgendwelchen Veranstaltungen teilzunehmen.
Der Senat verkennt nicht, dass der Kläger aufgrund seiner psychischen Leiden außergewöhnlich stark eingeschränkt ist. Dr.
I. hat in seinem 1996 für das Sozialgericht Hannover erstellten Gutachten zur Überzeugung des Senats zutreffend ausgeführt,
dass der Kläger an einer schwersten Persönlichkeitsveränderung leidet, die jede auch nur ansatzweise Entfaltung von Lebensqualität
unmöglich macht. Allerdings sind auch unter Berücksichtigung dieses tragischen Schicksals die Voraussetzungen für die Zuerkennung
des Merkzeichens "RF" nicht gegeben. Zu berücksichtigen ist zum Einen, dass aufgrund der vorgenannten Rechtsprechung des BSG
es nicht ausreichend für die Erfüllung der Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" ist, dass der Kläger unter erheblichen Konzentrationsstörungen
leidet. Dies ist eine Einschränkung, die sich sowohl bei öffentlichen Veranstaltungen als auch vor den Rundfunk- und Fernsehgeräten
in der eigenen Wohnung wirksam wird. Aufgrund der medizinischen Unterlagen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren steht für
den Senat fest, dass der Kläger auch wegen seines psychischen Leidens nicht ständig gehindert ist, an öffentlichen Veranstaltungen
teilzunehmen. Zum Einen ist zu berücksichtigen, dass der Arzt für Innere Medizin Dr. K. am 29. Mai 2006 im Rahmen seines Befundberichtes
gegenüber dem Beklagten mitgeteilt hat, dass der Kläger aus seiner Sicht dauerhaft in der Lage ist, öffentliche Veranstaltungen
zu besuchen. Er nutze schon seit Jahren einen Gehstock und brauche weder einen Rollstuhl noch eine Begleitperson. Hinsichtlich
einer möglichen Inkontinenz sei ein Urologe zu befragen. Im Rahmen des Gerichtsverfahrens hat Dr. M. in seinem Befundbericht
vom 8. Juli 2007 mitgeteilt, dass der Kläger nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne, da er keinerlei familiäre
Bindungen oder soziale Kontakte habe. Er lebe völlig isoliert, was aufgrund einer persönlichkeitsbedingten Grundhaltung unveränderbar
sei. Die einzigen Bezugpersonen seien die Ärzte. Wenn dieser dann in seinem Attest vom 26. April 2009 ausführt, dass jegliche
Form der Einlassung mit anderen Menschen eine Panik auslösende Exposition darstelle, die unbedingt unterlassen werden solle,
so führt auch dies als tatsächlich vorliegend unterstellte Einschränkung nicht dazu, dass der Kläger im Sinne des Gesetzes
ständig von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist. Wie der Beklagte im Rahmen seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme
ausführt, gibt es durchaus Veranstaltungen des öffentlichen Lebens, an denen der Kläger ohne Einlassung mit anderen Menschen
teilnehmen kann. Dies können z. B. Zoobesuche, Besuche von Sportveranstaltungen oder Messen oder auch von künstlerischen Ausstellungen
sein. Bei solchen Gelegenheiten kann der Kläger seinen Aufenthaltsort frei bestimmen und die Kommunikation mit anderen Menschen
meiden. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Kläger nicht nur, wie das Sozialgericht aufgeführt hat, in
der Lage ist, Ärzte zu besuchen und mit diesen eine, wenn auch mit großen Einschränkungen verbundene Konversation wie auch
Dr. I. es überzeugend beschrieben hat - führen kann. Aus den von der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie J. übersandten
Arztbriefen (Arztbrief der Frau J. an den Internisten K. vom 20. April 2006, 30. März 2006, 15. Juli 2005, 30. Juni 2004)
ergibt sich auch, dass mehrfach Fangopackungen und Massagen verordnet worden sind. D. h. auch die Teilnahme an einer Physiotherapie
war dem Kläger durchaus möglich. Soweit der Kläger gegenüber Frau J. mitgeteilt hat, dass er unter Ängsten leide, wenn er
das Haus verlasse (dies beginne häufig auch mit starken Kopfschmerzen), hat Frau J. aber auch ausweislich des Arztbriefes
vom 17. Januar 2007 an den Internisten K. ausgeführt, dass zusätzlich zum Sulpirid Paroxetin verordnet werde, was nach Angaben
des Klägers gegenüber der Ärztin sehr geholfen habe.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung des §
193 SGG.