Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Leistungen entsprechend der Pflegestufe II für die Zeit vom 01. Oktober 2003
bis 30. Juni 2004 zustehen.
Der am 16.07.2002 geborene Kläger leidet unter einer schweren geistigen und körperlichen Behinderung (bei Zustand nach Frühgeburt
in der 31. Schwangerschaftswoche und postnataler Hirnblutung mit posthämorragischem Hydrocephalus und Zustand nach Implantation
einer Rickham-Kapsel) sowie einer generalisierten Epilepsie mit Grand Mal-Anfällen und epileptischem Syndrom in Form von Abscencen.
Er beantragte am 31. Oktober 2003 Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung. Auf Veranlassung der Beklagten erstattete
der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) durch die Pflegefachkraft L. am 04. März 2004 ein Gutachten über den
Kläger. Darin wurde der Hilfebedarf für die Verrichtungen der Grundpflege auf 309 Minuten täglich eingeschätzt. Für den altersgerechten
Hilfebedarf gesunder Kinder wurden 240 Minuten abgezogen, so dass 69 Minuten verblieben. Mit Bescheid vom 11. März 2004 bewilligte
daraufhin die Beklagte dem Kläger Leistungen entsprechend der Pflegestufe I ab 01. Oktober 2003. Er erhob am 24. März 2004
dagegen Widerspruch, den er mit einem Pflegetagebuch sowie ausführlichen Erläuterungen zu dem aus Sicht der Klägerseite erforderlichen
Hilfebedarf begründete. Am 04. November 2004 erstattete der MDK (Pflegefachkraft M.) ein weiteres Gutachten über den Kläger.
Darin wurde der Hilfebedarf für die täglichen Verrichtungen der Grundpflege auf 333 Minuten eingeschätzt, wovon 165 Minuten
für den altersgerechten Hilfebedarf gesunder Kinder abzuziehen waren. Es verblieben 168 Minuten. Mit Bescheid vom 23. November
2004 bewilligte daraufhin die Beklagte dem Kläger Leistungen entsprechend der Pflegestufe II ab 01.07.2004. Am 25. April 2005
begehrte er die Bewilligung höherer Leistungen. Der Kläger war nur bis zum 15. Juli 2005 Mitglied der Beklagten, anschließend
wurde eine Mitgliedschaft bei der Pflegekasse der Betriebskrankenkasse N. begründet.
Am 07. November 2006 beantragte der Kläger die Überprüfung der bislang ergangenen Bescheide wegen der am 01. September 2006
in Kraft getretenen neuen Begutachtungsrichtlinie. Nach dieser Richtlinie seien die Zeiten, welche bei der Feststellung der
Pflegebedürftigkeit von Kindern im Vergleich zu gesunden Kindern abgezogen würden, herabgesetzt worden. Mit Bescheid vom 04.
Januar 2007 lehnte die Beklagte die nachträgliche Aufhebung der ergangenen Bescheide mit folgender Begründung ab: Die Begutachtungsrichtlinie
in der Fassung vom 11. Mai 2006 finde erst ab 01. September 2006 Anwendung und könne daher nicht auf die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit
für Zeiträume angewandt werden, die vor diesem Zeitpunkt lägen. In seinem Widerspruch vom 05. Februar 2007 vertrat er die
Auffassung, es handele sich bei der Richtlinie um ein antizipiertes Sachverständigengutachten.
In einem weiteren Gutachten vom 26. Juni 2006 schätzte der MDK (Pflegefachkraft O.) den auf den Tag entfallenden Hilfebedarf
für die Verrichtungen der Grundpflege auf 379 Minuten ein, wovon 135 Minuten für den altersgerechten Hilfebedarf von gesunden
Kindern abzuziehen seien. Danach verblieben 244 Minuten. Die Pflegekasse der BKK N. bewilligte daraufhin mit Bescheid vom
17. Januar 2007 dem Kläger Leistungen entsprechend der Pflegestufe III vom 16. Juli 2005 (Beginn der Mitgliedschaft) bis 31.
Mai 2006 und fortlaufend mit (Widerspruchs-) Bescheid vom 09. März 2006 ab 01.06.2006. Am 17. November 2007 erstattete der
MDK (Pflegefachkraft P.) für die Pflegekasse der BKK N. ein weiteres Pflegegutachten über den Kläger. Als zusätzliche Erkrankung
wurde dort eine Harn- und Stuhlinkontinenz aufgeführt. Der tägliche Hilfebedarf für die Verrichtungen der Grundpflege wurde
auf 318 Minuten eingeschätzt, wovon 150 Minuten für den altergerechten Hilfebedarf gesunder Kinder abgezogen wurde, sodass
168 Minuten verblieben.
Im Juni 2007 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen ihren Bescheid vom 04. Januar 2007 unter Hinweis auf die
Gültigkeit der Richtlinie vom 01. September 2006 zurück. Mit weiterem Bescheid vom 25. Mai 2007 bewilligte sie dem Kläger
auch für die Zeit vom 25. April bis 15. Juli 2005 (Ende der Mitgliedschaft) Leistungen entsprechend der Pflegestufe III.
Mit seiner Klage vom 06. Juli 2007 hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Er hat die Auffassung vertreten, dass die
neue Richtlinie nicht nur Gültigkeit ab 01. September 2006 entfalte, sondern auch für davor liegende Zeiträume anzuwenden
sei. Bei der zuvor angewandten Richtlinie handele es sich um eine für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit von Kindern
unzureichende, dh. falsche Tatsachengrundlage. Die ab 01. September 2006 geltende Richtlinie stelle demgegenüber eine sachgerechte
Beurteilung des Hilfebedarfs gesunder Kinder dar. Eine realistische Betrachtungsweise führe zu der Erkenntnis, dass sich der
Pflegebedarf gesunder Kinder selbstverständlich nicht erst seit 01. September 2006 verringert habe, sondern auch zuvor schon
tatsächlich geringer anzusetzen gewesen sei.
Der Kläger hat beantragt, ihm rückwirkend ab 01. Oktober 2003 Leistungen entsprechend der Pflegestufe II zu gewähren. In dem
MDK-Gutachten vom 04. März 2004 sei ein Hilfebedarf von 309 Minuten festgestellt worden, ziehe man den für gesunde Kinder
des entsprechenden Alters in der Richtlinie vom 01. September 2006 vorgesehenen Hilfebedarf davon ab, ergebe sich ein Hilfebedarf
von mehr als 120 Minuten täglich für die Verrichtungen der Grundpflege.
Das Sozialgericht Hildesheim hat mit Gerichtsbescheid vom 16. Juli 2009 die Klage abgewiesen. Es hat die Auffassung vertreten,
dass die vor dem 01. September 2006 anzuwendende Richtlinie nicht rechtswidrig gewesen sei. Es sei nicht ersichtlich, dass
sie nicht mit dem Gesetz vereinbar gewesen sei. Darüber hinaus habe der Kläger ab 01. Oktober 2003 ohnehin keinen Anspruch
auf Gewährung von Leistungen entsprechend der Pflegestufe II, weil er zum Zeitpunkt der Untersuchung durch den MDK am 27.
Januar 2004 erst 1 1/2 Jahre alt gewesen sei. Damit wären bei dem Kläger auch nach der neuen, ab 01. September 2006 gültigen
Richtlinie ca. 208 Minuten abzuziehen gewesen. Die Voraussetzungen für die Gewährung der Pflegestufe II hätten deshalb nicht
vorgelegen.
Gegen den ihm 27. Juli 2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 27. August 2009 Berufung eingelegt. Er vertritt
die Auffassung, dass - entgegen den Ausführungen des SG - im Oktober 2003 lediglich 169 Minuten für den altersgerechten Hilfebedarf
gesunder Kinder abzuziehen seien. Aus dem Gutachten vom 03. November 2004 folge, dass der Hilfebedarf tatsächlich 333 Minuten
- statt 309 Minuten - betragen habe.
Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass die sozialgerichtliche Rechtsprechung die "alte" Begutachtungsrichtlinie im Hinblick
auf die Werte für die Kinder in vielfältiger Hinsicht kritisiert habe und die Werte für völlig überholt und unrealistisch
gehalten habe.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 16. Juli 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 04. Januar 2007
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juni 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 01.
Oktober 2003 Leistungen entsprechend der Pflegestufe II zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, dass die die Begutachtungsrichtlinie erstellenden Verbände einen Beurteilungsspielraum hätten,
der sich auch auf den Geltungszeitpunkt erstrecke. Schließlich sei auch zu beachten, dass aus Gründen der Rechtssicherheit
die ergangenen Bescheide für die Vergangenheit nicht zurückzunehmen seien.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes sowie der von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze wird auf die Gerichtsakte
und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung
und der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zwar zulässig, aber unbegründet.
Zu Recht hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 16. Juli 2009 abgewiesen. Auf die Darstellung der zutreffenden Rechtsgrundlagen
wird gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verwiesen. Im Ergebnis ist dem SG auch insoweit zu folgen, als hier die
Frage, ob die in der Richtlinie ab 01. September 2006 enthaltenen Werte für den Hilfebedarf gesunder Kinder bereits auf einen
davor liegenden Zeitraum anzuwenden sind, nicht entscheidungsrelevant ist. Dies ergibt sich aus Folgendem: Streitig ist die
Frage, ob der Kläger in dem Zeitraum vom 01. Oktober 2003 bis 30. Juni 2004 Anspruch auf Leistungen entsprechend der Pflegestufe
II - anstelle der Pflegestufe I - hat. Die maßgebliche Beurteilung des Pflegebedarfs in diesem Zeitraum ist dem MDK-Gutachten
vom 04. März 2004 zu entnehmen, entgegen der Auffassung des Klägers nicht aber dem Gutachten vom 04. November 2004. Denn das
letztgenannte Gutachten ist 4 Monate nach dem hier streitigen Zeitraum eingeholt worden. Aus dem Krankheitsbild und dem Verlauf
des Hilfebedarfs wird im vorliegenden Fall deutlich, dass letztgenannter sich stetig erhöhte, so dass das Gutachten vom November
2004 keine zuverlässige Aussage über den Hilfebedarf bis einschließlich Ende Juni 2004 trifft.
In dem Gutachten des MDK vom 04. März 2004 wird der Hilfebedarf für den Kläger auf 309 Minuten eingeschätzt. Im Zeitpunkt
dieser Begutachtung war der Kläger 1 Jahr und 7 1/2 Monate alt. Die Begutachtungsrichtlinie in der Fassung vom 01. September
2006 sieht für gesunde Kinder zwischen dem Alter von 1 1/2 und 2 Jahren bei relevantem Hilfebedarf zum Treppensteigen - der
hier ebenfalls berücksichtigt wurde - einen Hilfebedarf von 175 bis 216 Minuten täglich vor. Da der ermittelte Hilfebedarf
gesunder Kinder hier einen erheblichen Spielraum umfasst, nämlich 93 bis 134 Minuten, und 93 Minuten für die Pflegestufe II
ausreichen, im Unterschied zu 134 Minuten, die jedoch nicht ausreichen, ist der verbleibende Hilfebedarf des Klägers genauer
zu ermitteln.
Unter Geltung der Begutachtungsrichtlinien vor dem 01. September 2006 hatte der damals mit diesen Verfahren betraute Senat
entschieden, dass entsprechend dem genauen Alter des Kindes Zwischenwerte zwischen dem Minimal- und dem Maximalwert des Zeitkorridors
gebildet werden (Urteil vom 20. November 2002, Az. L 16 P 2/01, bestätigt vom BSG, Urteil vom 13. Mai 2004, B 3 P 7/03 R).
Dabei wurde nicht übersehen, dass die Entwicklung von Kindern nicht immer gleichmäßig verläuft, sondern sich Zeiten schnelleren
und größeren Fortschritts mit solchen einer langsameren Entwicklung abwechseln. Zwar umfassten die Zeitkorridore der alten
Richtlinie einen Zeitraum von 3 bis 6 Jahren, mithin also einen größeren Zeitraum als im vorliegenden Fall, wo es sich nur
um 6 Monate handelt, jedoch geht es darum, in beiden Fällen zwischen zwei erheblich voneinander abweichenden Werten, nämlich
dem Minimal- und dem Maximalwert, einen konkreten Wert zu ermitteln. Deshalb erscheint es sachgerecht, die im genannten Urteil
vorgenommene präzise Bildung eines Zwischenwertes ("interpolieren") auch auf den vorliegenden Fall zu übertragen. Dafür spricht
insbesondere die Tatsache, dass die angegebene Zeitspanne für den Hilfebedarf offenbar nicht nur für die jeweilige Altersstufe
gilt, sondern sich nahtlos an die Zeitspannen der geringeren bzw. höheren Altersstufe anschließt. Beträgt also im vorliegenden
Fall der altersgerechte Hilfebedarf für Kinder zwischen 1 1/2 und 2 Jahren 216 bis 175 Minuten, so entsprechen 216 Minuten
dem Maximalwert des Hilfebedarfs 1 - 1 1/2 jähriger Kinder und 175 Minuten dem Minimalwert bei 2- bis 3-jährigen Kindern.
Danach ergäbe sich ein Wert von 103 bis 104 Minuten an konkretem Hilfebedarf im Zeitpunkt der Begutachtung am 04. März 2004.
Demnach würde auch bei Zugrundelegung der Werte für den Abzug gesunder Kinder lt. Richtlinie vom 01. September 2006 die Pflegestufe
II in dem hier streitigen Zeitraum nicht erreicht werden. Es kommt daher für den vorliegenden Fall nicht entscheidend darauf
an, ob diese Werte auch vor dem 01. September 2006 anzuwenden gewesen wären.
Der Senat stimmt jedoch der Auffassung des Klägers zu, dass die Angaben über den Hilfebedarf gesunder Kinder laut der BegRL
vom 11. Mai 2006 nicht erst ab 01. September 2006 für die Beurteilung des Pflegebedarfs heranzuziehen sind, sondern schon
vor diesem Zeitpunkt. Der BegRL kommt die Funktion zu, als Anhaltspunkte bei der Auslegung der in §§ 14, 15 SGB XI enthaltenen
Voraussetzungen für die Annahme von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den Pflegestufen herangezogen zu werden (Udsching:
SGB XI, 3. Auflage 2010 § 17 Rn. 4).
Sie besitzen eine Doppelnatur: Intern, d. h. bei der täglichen Arbeit der Pflegekassen und des die Begutachtung durchführende
Gutachters des MDK wirkt sie wie eine dienstliche Weisung ("Verwaltungsbinnenrecht": Udsching aaO.), worauf die Beklagte zutreffend
hingewiesen hat. Im Rechtsverkehr mit den Pflegebedürftigen und den Gerichten - also: Nach außen - entfaltet die BegRL jedoch
keine normative Wirkung wie etwa eine Verordnung (BSGE 73, 146, 149), dies bedeutet insbesondere, dass die Gerichte nicht
an den Inhalt der BegRL gebunden sind. Der Grund dafür ist insbesondere darin zu sehen, dass die Richtlinie nicht aufgrund
eines rechtsstaatlichen Verfahrens, d. h. durch demokratisch legitimierte Organe entstanden ist, sondern im Zusammenwirken
des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen und des GKV - Spitzenverbandes.
Die in tabellarischer Form zusammengefassten Angaben über den Hilfebedarf gesunder Kinder in verschiedenen Altersstufen entsprechen
dem Stand empirischer Erhebungen. Erst die BegRL vom 11. Mai 2006 enthält sachgerechte und nachvollziehbare Werte, die auch
den persönlichen Erfahrungen mit eigenen Kindern entsprechen. Bei Inkrafttreten der ersten BegRL vom 21. März 1997 standen
nur Erhebungen über den Hilfebedarf gesunder Kinder in der Landwirtschaft aus früheren Zeiten zur Verfügung, deren Repräsentativität
für andere gesellschaftliche Bereiche bezweifelt werden kann. Dem Kläger ist zuzugeben, dass die Anwendung zuverlässiger Daten
nicht auf den Zeitpunkt ihrer Auswertung beschränkt bleiben darf, sondern auch für Sachverhalte relevant ist, die davor bereits
abgeschlossen waren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision zum BSG gemäß § 160 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 SGG zugelassen, weil die Frage, ob die genaue Ermittlung
eines sogenannten Zwischenwertes zwischen dem Minimal- und dem Maximalwert des Hilfebedarf gesunder Kinder in einer bestimmten
Altersstufe auch unter Gültigkeit der Begutachtungsrichtlinie am 11. Mai 2006 (gültig ab 01. September 2006) anzuwenden ist,
bislang - soweit ersichtlich - nicht höchstrichterlich entschieden worden ist.