Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II
Unzulässigkeit der Einlegung eines Widerspruchs gegen eine Aufforderung zur Mitwirkung
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Aufforderung zur Mitwirkung.
Im Zusammenhang mit einem vom Kläger gestellten Weiterbewilligungsantrag für Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit ab 01.03.2020 wies ihn der Beklagte mit einem als "Aufforderung zur Mitwirkung" überschriebenen und mit dem
Datum 04.03.2020 versehenen Anschreiben auf eine noch fehlende "Anlage EKS" (Anlage zur vorläufigen oder abschließenden Erklärung
zum Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit, Gewerbebetrieb oder Land- oder Forstwirtschaft im Bewilligungszeitraum) zum Antrag
hin und forderte ihn auf, diese dem Schreiben beigefügt Anlage ausgefüllt und unterschrieben bis zum 21.03.2020 einzureichen.
Das Schreiben enthält zudem unter Anführung der maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen den Hinweis, dass bei fehlender Mitwirkung
Geldleistungen ganz versagt werden können.
Dagegen hat der Kläger Widerspruch eingelegt (Eingang beim Jobcenter am 24.03.2020) und im Wesentlichen geltend gemacht, die
Anforderung der Unterlagen sei rechtswidrig. Aufgrund der Corona-Pandemie seien seine Umsätze eingebrochen und er habe keine
finanziellen Mittel, einen Steuerberater zu beauftragen oder Kopierkosten zu tragen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27.03.2020 verwarf der Beklagte den Widerspruch als unzulässig. Ein Widerspruchsverfahren sei
nicht eröffnet worden, weil es an einem Verwaltungsakt fehle. Mit dem angefochtenen Schreiben würden keine Rechte des Widerspruchsführers
begründet, geändert, entzogen oder festgestellt. Die Bitte um Vorlage von Unterlagen im Rahmen der Antragsbearbeitung stelle
keine Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme einer Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen
Rechts und damit keine Regelung im Sinne eines Verwaltungsaktes dar.
Gegen diese Entscheidung hat sich der Kläger mit der am 06.04.2020 beim Sozialgericht Aachen erhobenen Klage unter Bezugnahme
auf sein Vorbringen im Widerspruchsverfahren gewandt.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 03.06.2020 abgewiesen. Der angefochtene
Widerspruchsbescheid sei rechtmäßig, denn eine Aufforderung zur Mitwirkung nach §§
60 ff. SGB Erstes Buch (
SGB I) sei kein Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB Zehntes Buch (SGB X). Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung hat das Sozialgericht auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen.
Gegen den ihm am 05.06.2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger mit einem Einschreiben vom 02.07.2020, welches den
Stempel der Deutschen Post AG vom 03.07.2020 trägt, beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Beim Landessozialgericht
ist die Berufung am Mittwoch, dem 08.07.2020, eingegangen. Zur Begründung der Berufung wird von ihm angeführt, er habe aufgrund
extremer Arbeitsüberlastung aufgrund von staatlichen Einschränkungen und erhöhten Auflagen in der Folge der Coronaepidemie
nicht rechtzeitig auf die Anhörung zum Erlass eines Gerichtsbescheids beim Sozialgericht Stellung nehmen können. Er fühle
sich in seinen Grundrechten beeinträchtigt und fordere das Landessozialgericht auf, seiner Berufung stattzugeben und den Gerichtsbescheid
für nichtig zu erklären.
Unter Berücksichtigung seines Vorbringens ist davon auszugehen, dass vom Kläger beantragt wird,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 03.06.2020 und die Aufforderung zur Mitwirkung des Beklagten vom 04.03.2020
sowie dessen Widerspruchsbescheid vom 27.03.2020 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Gerichtsakten des Sozialgerichts Aachen zum Aktenzeichen S 4 AS 259/20 sowie die den Vorgang betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne Teilnahme der Beteiligten an der mündlichen Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil auf diese Möglichkeit
mit der Ladung hingewiesen worden ist
Die Berufung ist zulässig. Die Berufung ist zwar nicht fristgerecht beim Landessozialgericht eingegangen, dem Kläger war aber
wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Der angegriffene Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 05.06.2020 zugestellt worden. Die einmonatige Berufungsfrist gemäß §
151 Abs.
1 SGG lief damit vom 06.06.2020 bis zum 05.07.2020. Da der 05.07.2020 ein Sonntag war, verlängerte sich die Frist gemäß §
64 Abs.
3 SGG bis Montag, den 06.07.2020. Die Berufung ist jedoch erst am Mittwoch, dem 08.07.2020, beim Berufungsgericht eingegangen und
war damit nicht mehr fristgerecht.
Dem Kläger ist allerdings Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß §
67 SGG zu gewähren. Eine Wiedereinsetzung findet statt, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist
einzuhalten. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Wurde die versäumte Rechtshandlung
nachgeholt, kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§
67 Abs.
2 SGG).
Die Berufung wurde vom Kläger mittels Einschreiben/Rückschein, welches den Poststempel 03.07.2020 trägt, versandt. Die Versendung
des Schriftstücks hat der Kläger damit rechtzeitig unternommen, sodass die Versäumung der Verfahrensfrist nicht von ihm zu
vertreten ist. Wer ein Schriftstück zur Post gibt, darf darauf vertrauen, dass die üblichen Postlaufzeiten eingehalten werden.
Gegen unerwartete Verzögerungen müssen keine Vorkehrungen getroffen werden (BSG, Beschluss vom 28.06.1988 zum Az. 2 BU 157/87). Nach den Veröffentlichungen der Deutschen Post AG werden Briefsendungen in 95 % der Fälle am nächsten Werktag zugestellt,
sodass, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, auf eine Zustellung am nächsten Werktag vertraut werden darf. Dies gilt
auch für Einschreiben mit Rückschein, weil von der Deutschen Post AG dafür keine abweichenden Postlaufzeiten angegeben werden
(so nach den dort durchgeführten Ermittlungen: LSG NRW, Beschluss vom 10.09.2007, L 20 B 85/07 SO ER zur Rn. 20 bei juris; siehe auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 01.06.2017, L 6 SB 3342/16 zur Rn. 23 bei juris).
Die somit zulässige Berufung ist jedoch nicht begründet.
Der angefochtene Gerichtsbescheid ist nicht zu beanstanden. Die formellen Rügen des Klägers gegen die Entscheidung des Sozialgerichts
durch Gerichtsbescheid greifen nicht durch. Gemäß §
105 Abs.
1 SGG kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten
tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen treffen auf das vorliegende
Verfahren zu (siehe dazu im nächsten Absatz). Gemäß §
105 Abs.
1 S. 2
SGG sind die Beteiligten vor einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid zu hören. Der Kläger ist hier vom Sozialgericht ordnungsgemäß
vor Erlass des Gerichtsbescheides angehört und ihm ist mit dieser Anhörung eine Frist zur Stellungnahme von drei Wochen eingeräumt
worden. Die Anhörung ist ihm am 29.04.2020 zugestellt worden. Bis zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid ist sodann noch
mehr als ein Monat vergangen. Während dieser Zeit wäre es dem Kläger möglich gewesen, etwaige Einwendungen gegen das Vorhaben
des Sozialgerichts diesem mitzuteilen. Es hätte für ihn auch die Möglichkeit bestanden, während der Frist mit näherer Begründung
eine Fristverlängerung zu beantragen. Von dieser Möglichkeit hat der Kläger aber keinen Gebrauch gemacht. Es ist zudem darauf
hinzuweisen, dass es im Ermessen des Sozialgerichts steht, ob es beim Vorliegen der Voraussetzungen des §
105 SGG einen Gerichtsbescheid erlässt oder eine mündliche Verhandlung durchführt. Die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch
Gerichtsbescheid ist nicht von der Zustimmung der Beteiligten abhängig.
Der Gerichtsbescheid ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden. Das Sozialgericht hat zutreffend angenommen, dass das Verfahren
keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Es hat die Klage
zu Recht abgewiesen.
Gegen die Aufforderung zur Mitwirkung konnte nicht zulässigerweise Widerspruch eingelegt werden, weil die Aufforderung kein
Verwaltungsakt im Sinne von § 31 SGB X ist und deshalb ein Vorverfahren, welches durch Erhebung eines Widerspruchs eingeleitet wird, nicht zulässigerweise durchgeführt
werden konnte (§
83 SGG i.V.m. §
84 SGG und § 62 SGB X). Verwaltungsakt ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles
auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist (§ 31 SGB X). Die angefochtene Aufforderung zur Mitwirkung beinhaltet keine Regelung im vorgenannten Sinne, denn der Beklagte kann den
Kläger nicht dazu verpflichten, die Mitwirkung zu leisten, er kann ihn nur dazu auffordern. Durch die Aufforderung wird jedoch
noch nicht in Rechte des Betroffenen unmittelbar eingegriffen. Wird der Aufforderung nicht entsprochen, muss der Beklagte
in einem weiteren Schritt des Verwaltungsverfahrens prüfen, ob dies eine Verletzung von Mitwirkungspflichten darstellt, die
gegebenenfalls dazu berechtigt, Leistungen zu versagen oder zu entziehen. Erst die Versagung oder der Entzug der Leistung
erfolgt durch Verwaltungsakt und kann mittels Widerspruchs angefochten werden (vergleiche Mutschler in Kasseler Kommentar,
Stand: September 2018, § 31 SGB X Rn. 16, 20; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 05.06.2015, L 4 AS 242/15 B ER zur Rn. 17 bei juris). Effektive Rechtsschutzmöglichkeiten sind damit auch dann vorhanden, wenn nicht bereits eine "Aufforderung
zur Mitwirkung" einer rechtlichen Überprüfung im Widerspruchs- oder Klageverfahren mittels Anfechtungsklage unterzogen werden
kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
1 und
2 SGG liegen nicht vor.