Erbringung von Leistungen der Grundsicherung
Einstweiliger Rechtsschutz
Anwendbarkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II
Lediglich vorübergehende Arbeitsunfähigkeit i.S.v. Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat dem auf vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur
Erbringung von Leistungen der Grundsicherung gerichteten einstweiligen Rechtsschutzgesuch vom 01.09.2015 zu Recht nicht entsprochen.
Gemäß §
86 b Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes im Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig,
wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes setzt
mithin neben einem Anordnungsanspruch - im Sinne eines materiellrechtlichen Anspruches auf die beantragte Leistung - einen
Anordnungsgrund - im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit der vom Gericht zu treffenden Regelung - voraus. Anordnungsanspruch
und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§
86 b Abs.
2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen
entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht
nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren
aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden.
Die grundrechtlichen Belange der Antragsteller sind dabei umfassend in die Abwägung einzustellen (Bundesverfassungsgericht
-BVerfG-, Kammerbeschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, [...] RdNr. 26).
Antrag und Beschwerde haben keinen Erfolg, weil es an einem Anordnungsanspruch fehlt. Gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 des Sozialgesetzbuches 2. Buch (SGB II) gehören Ausländer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
nicht zum leistungsberechtigten Personenkreis des SGB II. Dieser Leistungsausschluss begegnet weder verfassungsrechtlichen noch gemeinschaftsrechtlichen Bedenken.
Nach der zwischenzeitlich (d.h. hier insbesondere nach der letzten gerichtlichen Verpflichtung des Antragsgegners durch Beschluss
des 7. Senats des Landessozialgerichts vom 17.06.2015 zum Az. L 7 AS 704/15 B ER) ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Rechtssache Alimanovic (Urteil vom 15.09.2015 zum
Aktenzeichen C-67/14) steht nunmehr fest, dass Mitgliedstaaten der Europäischen Union ohne Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht zu Regelungen befugt
sind, die beinhalten, dass Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen vom Bezug besonderer
beitragsunabhängige Geldleistungen, zu denen auch das Arbeitslosengeld II gehört, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörigen
des betreffenden Mitgliedstaates, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten. Dies folgt nach
der Entscheidung des europäischen Gerichtshofs aus Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 EG des europäischen Parlaments und
des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten
frei zu bewegen und aufzuhalten. Danach führt der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung von Unionsbürgern
nicht zu einer Pflicht, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen sowie Personen, denen dieser Status erhalten
bleibt, und ihren Familienangehörigen Sozialhilfeleistungen zu gewähren.
Die Antragstellerin, die nach eigenen Angaben im Oktober/November 2011 in die Bundesrepublik einreiste, gehört nicht zum leistungsberechtigten
Personenkreis, denn sie erfüllt nicht die Voraussetzungen, unter denen ausländischen Unionsbürgern Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts zu gewähren sind. Ein Aufenthaltsrecht der seit Juli 2013 nicht mehr berufstätigen Antragstellerin kann
sich nur aus dem Gesichtspunkt der Arbeitssuche ergeben. Diesbezüglich enthält die Richtlinie 2004/38 ein abgestuftes System
für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft zur Sicherung des Aufenthaltsrechts und des Zugangs zu Sozialleistungen.
Gemäß Art. 7 der vorgenannten Richtlinie steht (soweit hier von Bedeutung) das Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate
den im Aufnahmemitgliedstaat tätigen Arbeitnehmern oder Selbstständigen zu. Wurden (wie von der Antragstellerin) bisher nur
Beschäftigungszeiten von weniger als einem Jahr zurückgelegt, bleibt bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit und Zurverfügungstellung
beim zuständigen Arbeitsamt die Erwerbstätigeneigenschaft während eines mindestens sechs Monate umfassenden Zeitraums, der
hier abgelaufen ist, aufrechterhalten. Weiterhin ist in Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie bestimmt, dass die Erwerbstätigeneigenschaft
einem Unionsbürger, der eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger nicht mehr ausübt, erhalten bleibt, wenn
er wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist. Es bedarf keiner Aufklärung, ob die Antragstellerin
derzeit als arbeitsunfähig in diesem Sinne anzusehen ist, denn es liegt jedenfalls keine nur vorübergehende Arbeitsunfähigkeit
vor. Ungeachtet der Frage, ob wegen fehlender Erwerbsfähigkeit gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 SGB II ein Leistungsanspruch ausgeschlossen ist, könnte eine zu Gunsten der Antragstellerin unterstellte Arbeitsunfähigkeit ihr
auch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles kein Aufenthaltsrecht und damit einen Zugang zu Sozialleistungen
im streitgegenständlichen Zeitraum mehr vermitteln. Zur Beschwerdebegründung verweist die Antragstellerin auf ihren gesundheitlichen
Zustand in der Folge eines am 13.01.2012 erlittenen Überfalls und einer daraus resultierenden posttraumatischen Belastungsstörung
mit depressiver Episode. Es bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung darüber, wann eine Arbeitsunfähigkeit im Sinne
der vorgenannten europarechtlichen Richtlinie lediglich vorübergehend ist. Denn selbst wenn zu Gunsten der Antragstellerin
unterstellt würde, dass die Arbeitsunfähigkeit erst nach der letzten Erwerbstätigkeit und eines daran anschließenden sechsmonatigen
Zeitraumes, in dem von einem Fortbestehen der Erwerbstätigeneigenschaft wegen unfreiwilliger Arbeitslosigkeit ausgegangen
würde, eingetreten wäre, bestünde eine zu Gunsten der Antragstellerin unterstellte Arbeitsunfähigkeit jetzt schon seit mehr
als eineinhalb Jahren. Dieser Zeitraum ist jedoch zu lang, um von September 2015 an weiterhin einen Erhalt der Arbeitnehmereigenschaft
und damit Leistungsansprüche zu vermitteln.
Das Verfahren gebietet es nicht, den möglichen Zeitraum, in dem gemäß Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 die Erwerbstätigeneigenschaft
eines Unionsbürgers bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit erhalten bleibt, abschließend zu klären. Eine Dauer von eineinhalb
Jahren stellt jedenfalls keine nur vorübergehende Arbeitsunfähigkeit im Sinne der vorgenannten Vorschrift dar. Der Senat tendiert
dazu, eine Arbeitsunfähigkeit längstens dann als nur vorübergehend anzusehen, wenn sie die Dauer von sechs Monaten nicht überschreitet.
Für die Annahme einer derartigen Zeitspanne sprechen die auf einander abgestimmten Regelungen des § 8 Abs. 1 SGB II und § 43 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches Sechstes Buch, die an eine auf nicht absehbare Zeit (gemeint ist ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten)
andauernde Erkrankung besondere Rechtsfolgen knüpfen. Ein Abstellen auf nationale Vorschriften zur Auslegung von unbestimmten
Zeitbegriffen in europäischen Rechtsvorschriften ist vom Europäischen Gerichtshof (siehe Urteil vom 19.06.2014 zum Aktenzeichen
C-507/12) ausdrücklich gefordert worden. In dieser Entscheidung hatte sich der EuGH ebenfalls mit der Frage zu beschäftigen, wann
eine lediglich vorübergehende Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 vorliegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg (§
73a Abs.
1 S. 1
SGG i.V.m. §
114 S. 1
ZPO) konnte eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren nicht erfolgen.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.