Parallelentscheidung zu LSG Nordrhein-Westfalen - L 6 AS 2341/16 B - v. 02.03.2017
Gründe
I.
Im Ausgangsverfahren S 35 AS 4368/13 war den Klägern Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Beschwerdeführers bewilligt worden. Nach Abschluss des Verfahrens
beantragte die Q RA GmbH unter Vorlage einer Vereinbarung über Forderungsabtretungen vom 25.11.2010 die Festsetzung nach dem
RVG. Gegen den Festsetzungsbeschluss des Urkundsbeamten vom 09.06.2015 hat der Beschwerdeführer Erinnerung eingelegt, die das
Sozialgericht durch Beschluss vom 12.09.2016 mit der Begründung zurückgewiesen hat, der Beschwerdeführer sei nicht Inhaber
der Forderung; diese sei auf die Q RA GmBH übergangen.
Gegen den ihm am 27.09.2016 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 09.11.2016 Beschwerde beim SG eingelegt. Auf die Überschreitung der Beschwerdefrist gemäß §§ 56, 33 RVG hingewiesen und zu den Umständen der Verfristung befragt hat der Beschwerdeführer vorgetragen, in der Kanzlei sei durch eine
technische Störung am 29.09.2016, ca. 10.00 Uhr, die EDV-Anlage mit den elektronisch geführten Akten und dem automatisierten
Fristenkalender ausgefallen. Die technische Rekonstruktion durch externe Dienstleister habe sich hingezogen, das System sei
erst am 13.10.2016 gegen 16.00 Uhr wieder hochgefahren worden. Die Datenbestände habe man dann nach kanzleiintern bestimmter
Wichtigkeit für die Mandanten, beginnend mit Strafverfahren und Zivilrechtsstreitigkeiten, gefolgt von materiellen Sozialrechtsfällen
und zuletzt auch sozialrechtlichen Kostenstreitigkeiten gesichtet und die (elektronischen) Akten entsprechend weiterbearbeitet.
Nach der Wiederherstellung des Zugangs zu den elektronischen Akten habe sich herausgestellt, dass Einträge vor der Störung
ab dem 26.08.2016 besonders problembehaftet gewesen seien. Das gelte auch für die Datei zu dem am 27.09.2016 zugestellten
angefochtenen Beschluss. Hier habe man die Posteingänge beginnend ab dem 26.08.2016 nach- bzw. abgearbeitet. Dateien wie die
vom 27.09.2016, die erst kurz vor der Störung erstellt worden seien, seien demgemäß zuletzt weiterbearbeitet worden. Hier
habe man den infolge der EDV-Störung als Datei sichtbaren, aber elektronisch nicht weiter bearbeitbaren Beschluss als Papier-Eingang
aus einem von 16 Aktenordnern der Kanzlei herausgenommen und wieder eingescannt. Der angefochtene Beschluss sei am 04.11.2016
in diesem Sinne wiederhergestellt worden. Deshalb sei es ihm erst ab dem 04.11.2016 möglich gewesen, die versäumte Handlung
nachzuholen. Mit der am 09.11.2016 eingegangenen Beschwerde habe er das Rechtsmittel fristwahrend eingelegt. Eine schuldhafte
Versäumnis der Beschwerdefrist scheide angesichts der Auswirkungen der EDV-Störung in der Kanzlei aus.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des dazu geführten PKH-Beiheftes
Bezug genommen
II.
Die aufgrund eines Beschwerdewerts von mehr als 200 Euro gemäß § 1 Abs.3 i.V.m. § 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 S. 1 RVG statthafte Beschwerde ist unzulässig und daher zu verwerfen.
Der Beschwerdeführer hat mit der am 09.11.2016 eingegangenen Beschwerde die Frist von zwei Wochen gemäß §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 3 S. 3 RVG nicht eingehalten. Die Frist begann mit der Zustellung des angefochtenen Beschlusses vom 12.09.2016 am 27.09.2016. Mit diesem
Datum hat der Beschwerdeführer ausweislich des Empfangsbekenntnisses den Empfang/die Kenntnisnahme der mit korrekter Rechtsmittelbelehrung
versehenen Entscheidung bestätigt.
Wegen der Fristversäumung kann dem Beschwerdeführer keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Anwendbar
sind die. §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 5 S. 1 RVG, die die allgemeinen verfahrensrechtlichen Bestimmungen des
SGG (§
67 SGG) verdrängen (vgl. LSG NRW Beschluss vom 11.12.2009 - L 19 B 281/09 AS -, [...] Rn. 25; Bayerisches LSG Beschluss vom 04.10.2012 - L 15 SF 131/11 B E -, [...] Rn.9; s. auch LSG NRW Beschlüsse vom 17.11.2010 - L 19 B 334/09 AS; vom 13.7.2009 - L 7 B 2/09 SB; vom 13.11.2008 - L 20 B 59/08 SO, [...], vom 09. 09. 2015 - L 16 KR 716/14 B, [...] Rn.12, mwN). Danach ist auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten, er
die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung
begründen, glaubhaft macht.
Ob bereits der Ausfall der IT-Technik in der Kanzlei des Beschwerdeführers am 29.09.2016 und/oder die lange Bearbeitungszeit
bis zur Wiederinbetriebnahme als Verschulden des Beschwerdeführers bei der Fristversäumnis anzusehen ist (s. BGH Beschlüsse
vom 10.10.1996- VII ZB 31/95, [...] Rn. 10 -13 und vom 27.01.2015 - II ZB 23/13), kann offen bleiben. Wäre er ohne sein Verschulden gehindert gewesen, die Beschwerdefrist einzuhalten, gilt dies doch nicht
für die ebenfalls zweiwöchige Nachholungsfrist. Er hat die Beschwerde nicht innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses
erhoben; er war auch nicht ohne sein Verschulden daran gehindert, die Nachholungsfrist einzuhalten (zur Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand bei Versäumung der Nachholungsfrist s. Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte
SGG 2. Aufl. §
67 Rn 43 mwN). Jedenfalls in dieser Phase hat der Beschwerdeführer nicht diejenige Sorgfalt angewandt, die von einem gewissenhaften
Prozessführenden nach den gesamten Umständen und der Verkehrsanschauung vernünftigerweise zu erwarten ist (vgl. zur Fristenkontrolle
auch bei elektronischer Aktenführung: Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11 Aufl.2014 §
67 Rn. 9 b - 9 o; Wolff-Dellen aaO Rn 26 ff). Rechtsanwälte sind verpflichtet, in Fristensachen zuverlässige Vorkehrungen zu
treffen, um den rechtzeitigen Ausgang fristwahrender Schriftsätze sicherzustellen. Dies gilt umso mehr, wenn sich die Kanzlei
der elektronischen Aktenführung einschließlich elektronischer Fristenkalender bedient (vgl. auch Beschluss des BGH vom 27.01.2015
- II ZB 23/13,[...] Rn. 7 ff., 9, 11 = NJW 2015, 2040). Treten Störungen in der Organisation des Büros des Anwalts auf, erhöhen sich seine Sorgfaltspflichten bei der generell
gebotenen Fristenkontrolle. Grundsätzlich muss er sicherstellen, dass seine Angestellten ihre Aufgaben auch dann zuverlässig
erfüllen, wenn das zur Fristenkontrolle eingerichtete System etwa aufgrund eines Computerdefekts vorübergehend nicht zuverlässig
funktioniert (s.auch BGH Beschlüsse vom 26.08.1999 - VII ZB 12/99, NJW 1999, 3783; vom 15.09.2014 - II ZB 12/13, [...] Rn. 13; ebenso BFH, Beschlüsse vom 23.12.2005 - VI R 79/04, BFH/NV 2006, 787, Rn. 12 und vom 17. 07.2006 - VII B 291/05, BFH/NV 2006, 1876, Rn. 7). Wenn auch die parallele Führung eines schriftlichen Kalenders nicht erforderlich ist, so darf doch die elektronische
Kalenderführung keine geringere Sicherheit bieten als ein herkömmlicher Kalender (BGH Beschluss vom 17.04.2012 - VI ZB 55/11 = NJW-RR 2012, 1085, 1086). Durch geeignete Organisationsmaßnahmen muss sichergestellt werden, dass dieselbe Überprüfungssicherheit besteht wie
bei herkömmlicher Kalenderführung (BGH NJW 2010, 1363; OVG Saarlouis NJW 2014, 2602, zustimmend Greger in: Zöller
ZPO 31. Aufl. 2016 §
233 ZPO Rn. 23 , mwN; vgl. auch BFH Beschluss vom 08.12. 2010 - IX R 12/10 -; LSG NRW Beschluss vom 27.01.2010 - L 19 B 29/09 AL -).
Nach diesen Grundsätzen ist nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer hier ausreichende Maßnahmen getroffen hat, um die Einhaltung
der Nachholungsfrist sicherzustellen. Die Frist begann am 13.10.2016. An diesem Tag standen die Dateien für die elektronischen
Akten wieder in der Kanzlei zur Verfügung. Die Entscheidung des Beschwerdeführers, mit Blick auf Haftungsgesichtspunkte und
Wichtigkeit der Bereiche für die Mandanten eine Priorisierung vorzunehmen, erscheint nachvollziehbar, beinhaltet aber das
Risiko, dass Fristsachen, die erst im Rahmen der späteren Nacharbeitung wieder in den Focus geraten, nicht zeitgerecht erledigt
werden können. Die Priorisierung nimmt notwendig die Versäumung tatsächlich oder vermeintlich weniger wichtiger Fristen in
Kauf, mit zunehmender Bearbeitungszeit erhöht sich das Risiko, dass kürzere Fristen, insbesondere die ein- und zweiwöchigen
bereits abgelaufen sind, wenn die konkrete Akte nachbearbeitet wird.
Sind mit dieser Verfahrensweise von vorneherein Fristversäumnisse absehbar, hätte dem durch die Durchsicht der vom Beschwerdeführer
angegebenen 16 Aktenordner auf fristenauslösende Schriftstücke hin entgegengewirkt werden können. Die Sichtung dieser Ordner
wäre zumal unter den außergewöhnlich dringlichen Umständen in einer oberflächlichen Form mit entsprechender Veranlassung innerhalb
weniger Tage möglich gewesen. Ansonsten hätte sich der Beschwerdeführer alle laufenden Handakten in der jeweils erreichbaren
Form vorlegen lassen müssen, um weiterführende Hinweise zur zielführenden Bearbeitung zu geben oder zu erlangen.
Wenn die gewählte Vorgehensweise dem Umstand geschuldet war, dass die Fristenkontrolle und die Möglichkeit vollständig ausgefallen
waren, die (alle) Handakten (in elektronischer Form) zur Fristenkontrolle vorzulegen, ist hier ein Organisationsverschulden
anzunehmen. Wie die elektronische Fristenkalenderführung gegenüber dem herkömmlichen Fristenkalender darf auch die elektronische
Handakte grundsätzlich keine geringere Überprüfungssicherheit bieten als ihr analoges Pendant (vgl. BGH Beschluss vom 17.04.2012
- VI ZB 55/11 - FamRZ 2012, 1133 Rn. 8; dazu auch Jungk AnwBl 2014, 84, BGH, Beschluss vom 09.07. 2014 - XII ZB 709/13 -, [...]:Rn. 13, 14 ).
Das Wiedereinsetzungsbegehren kannte nach alledem keinen Erfolg haben.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§ 56 Abs. 2 S. 3 RVG).
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht ist ausgeschlossen ( vgl. §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 4 S. 3 RVG).