Grundsicherungsleistungen für EU-Ausländer
Freizügigkeitsrecht und Bedarfsdeckung
Höhe der Unterhaltsgewährung
1. Familienangehörige sind gem. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU auch die Verwandten in aufsteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten, denen diese Personen oder ihr Ehegatte Unterhalt gewähren.
2. Das Gesetz fordert im Lichte des in Art.
6 Abs.
1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerten Schutzes der Familie keine ausreichende Unterhaltsgewährung; vielmehr genügt auch eine nicht bedarfsdeckende
Unterhaltszahlung.
3. Der Wortlaut der Norm enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Unterhaltsgewährung nur relevant ist, wenn es sich um
einen bedarfsdeckenden Unterhalt handelt.
4. Anders als im Falle des § 3 Abs. 1 S. 2 FreizügG/EU, der für Familienangehörige nicht erwerbstätiger Unionsbürger im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU gilt, ist eine Bedarfsdeckung gerade nicht Voraussetzung für das Freizügigkeitsrecht.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren über die Verpflichtung der Antragsgegnerin bzw. der Beigeladenen
zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an die Antragstellerin.
Die 1952 geborene, aus Marokko stammende Antragstellerin ist spanische Staatsangehörige. Mitte 2015 reiste sie in die Bundesrepublik
Deutschland ein. Sie wohnt seit November 2015 bei ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn und den beiden Enkeln. Die Tochter und
die beiden Enkel besitzen die spanische, der Schwiegersohn die marokkanische Staatsbürgerschaft. Sie erhalten unter Berücksichtigung
des Einkommens des Schwiegersohns (1.783,46 EUR brutto, 1415,90 EUR netto) und des Kindergeldes ergänzende Leistungen nach
dem SGB II. Seit Dezember 2015 bewilligte der Antragsgegner dabei nur noch 4/5 der Bedarfe für Unterkunft und Heizung, d. h. z. B. ab
April 2016 einen um den Anteil der Antragstellerin i. H. v 137,32 EUR geminderten Betrag. Mietrückstände sind nicht aufgelaufen.
Die Antragstellerin,
die weder Einkommen noch Vermögen hat, stellte am 04.12.2015 einen Antrag auf Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II. Gegen die Ablehnung der Leistungsgewährung (Bescheid vom 05.01.2016 und Widerspruchsbescheid vom 29.01.2016) hat die Antragstellerin
Klage erhoben (S 49 AS 570/16).
Am 25.02.2016 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Duisburg beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Grundsicherung zu gewähren.
Mit Beschluss vom 28.04.2016 (der Antragstellerin zugestellt am 04.05.2016) hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Die
Antragstellerin habe einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Sie lebe bei der Familie, die Unterkunft und Verpflegung
gewähre. Das Familieneinkommen sei ausreichend, um schwere und existentielle Nachteile für die Antragstellerin zu vermeiden.
Unschädlich sei in diesem Zusammenhang der ergänzende Leistungsbezug nach dem SGB II der Familie, da neben dem Einkommen des Schwiegersohnes aus der Erwerbstätigkeit auch ein Erwerbstätigenfreibetrag iHv 300,-
EUR, der nicht angerechnet werde, zur Verfügung stehe.
Am 01.06.2016 hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren
beantragt.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht mit dem angefochtenen Beschluss den Erlass einer
einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund i. S. d. §
86b Abs.
2 S. 2
SGG glaubhaft gemacht.
Die Antragstellerin hat einen Leistungsanspruch dem Grunde nach gem. § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II glaubhaft gemacht. Sie ist nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen, da sie über ein anderweitiges Aufenthaltsrecht verfügen dürfte (hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R). Nach Aktenlage lebt die Antragstellerin seit November 2015 ununterbrochen im Haushalt ihrer Tochter und des Schwiegersohnes.
Diese zahlen, obwohl bei ihnen nur 4/5 der anfallenden Bedarfe für Unterkunft und Heizung zur Berechnung der ergänzenden Leistungen
nach dem SGB II berücksichtigt werden, die Unterkunftskosten in vollem Umfang an den Vermieter. Hieraus kann sich ein Aufenthaltsrecht als
Familienangehörige nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU ergeben. Familienangehörige sind gem. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU auch die Verwandten in aufsteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten, denen diese Personen oder ihr Ehegatte Unterhalt gewähren. Das Gesetz
fordert im Lichte des in Art.
6 Abs.
1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerten Schutzes der Familie keine ausreichende Unterhaltsgewährung. Vielmehr genügt auch eine nicht bedarfsdeckende
Unterhaltszahlung (vgl. Beschlüsse des Senats vom 02.06.2016 - L 7 AS 288/16 B ER, vom 28.05.2015 - L 7 AS 372/15 B ER und vom 15.04.2015 - L 7 AS 428/15 B ER; Dienelt, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl, 3 FreizügG Rn 40). Der Wortlaut der Norm enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Unterhaltsgewährung nur relevant ist, wenn es
sich um einen bedarfsdeckenden Unterhalt handelt. Anders als im Falle des § 3 Abs. 1 S. 2 FreizügG/EU, der für Familienangehörige nicht erwerbstätiger Unionsbürger im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU gilt, ist eine Bedarfsdeckung gerade nicht Voraussetzung für das Freizügigkeitsrecht (in diesem Sinne auch BVerwG vom 20.10.1993
- 11 C 1/93).
Der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs bzw. des Anordnungsgrundes steht nach summarischer Prüfung die Unterstützung
durch die Familie nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des BSG schließt die Hilfe eines Dritten den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII oder SGB II dann nicht aus, wenn dieser gleichsam anstelle des Sozialleistungsträgers und unter Vorbehalt des Erstattungsverlangens nur
deshalb einspringt, weil der Träger die Leistung uU rechtswidrig ablehnt (BSG, Urteil vom 20.12.2011 - B 4 AS 46/11 R Rn. 14 ff., 18 f.). Nach dem Akteninhalt haben die Tochter und der Schwiegersohn, die mit ihren Kindern selbst ergänzend
im Leistungsbezug stehen, im Vertrauen auf einen Anspruch der Antragstellerin zunächst zur Überbrückung einer Notlage eine
Vorleistung erbracht. Entgegen der Rechtsauffassung der Beigeladenen scheitert die vorläufige Leistungsgewährung damit auch
nicht an § 9 Abs. 5 SGB II.
Die Verpflichtung des Antragsgegners lediglich dem Grunde nach folgt aus einer entsprechenden Anwendung von §
130 SGG.
Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe besteht gem. §§ 73a Abs. 1 S. 1
SGG, 114
ZPO.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).