Grundsicherung für Arbeitsuchende
Streit um die einstweilige Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
Zum Vorliegen einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft
Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten (hier insbes. im Hinblick auf das Ausfüllen der Nr. 2 und Nr. 3 der Anlage
"VE")
Umfang der Ermittlungspflichten der Behörde
Zusprechen von Leistungen im Wege der Folgenabwägung
Fehlen von Feststellungen zur Ausschließlichkeit der Beziehung
1. Hat der Leistungsempfänger in der Anlage "VE" die Zeile "Gründe gegen eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft"
nicht ausgefüllt, aber eine Bescheinigung eines Dritten vorgelegt, in der dieser mitteilt, mit dem Leistungsempfänger eine
Wohngemeinschaft zu bilden und reicht diese Erklärung nach Meinung der Behörde nicht aus, hat die Behörde weiter zu ermitteln,
nicht aber eine Leistungsversagung wegen fehlender Mitwirkung auszusprechen.
2. Auch wenn in der Anlage "VE" die Zeile "Ich lebe länger als ein Jahr mit der oben genannten Person in einem gemeinsamen
Haushalt" nicht angekreuzt wurde, ist dies unbeachtlich, wenn beide Beteiligten wussten, dass dieser Umstand sich zweifelsfrei
und mit Unterlagen belegt aus der Verwaltungsakte ergibt.
3. Allein ein gemeinsames Wirtschaften ist nicht ausreichend, um eine Partnerschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II zu bejahen. Von dem Bestehen einer Partnerschaft ist erst auszugehen, wenn eine gewisse Ausschließlichkeit der Beziehung
gegeben ist, die keine vergleichbare Lebensgemeinschaft daneben zulässt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die einstweilige Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Die am 00.00.1964 geborene Antragstellerin ist geschieden. Sie lebt seit 2007 mit der am 00.00.1964 geborenen B in einer gemeinsamen
Wohnung. Zum 01.07.2013 haben die Antragstellerin und Frau B eine Wohnung in der N-Straße 00in I angemietet. Die Wohnung ist
92 qm groß, insgesamt sind eine Grundmiete iHv 380 EUR, Betriebskosten iHv 100 EUR und Heizkosten iHv 100 EUR zu entrichten.
Den Mietvertrag haben die Antragstellerin und Frau B gemeinsam abgeschlossen. Am 07.10.2014 führte der Antragsgegner einen
Hausbesuch in der Wohnung durch und kam zusammengefasst zu dem Ergebnis, die Wohnung werde "paartypisch" genutzt. Die Wäsche
werde gemeinsam gewaschen, eine Trennung von Lebensmitteln erfolge nicht. Einkäufe würden gemeinsam erledigt und es werde
gemeinsam gewirtschaftet. Offensichtlich bestehe eine gleichgeschlechtliche Lebens- und Einstehensgemeinschaft. Frau B teilte
beim Hausbesuch mit, einer Arbeitstätigkeit nachzugehen.
Nach dem Bezug von Kranken- und Arbeitslosengeld beantragte die Antragstellerin am 06.11.2015 Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts ab 01.12.2015. Seit dem 02.01.2016 geht die Antragstellerin einer bis zum 23.12.2017 befristeten Beschäftigung
als Fahrerin nach. Die Antragstellerin arbeitet wöchentlich fünf Stunden zu einem Stundenlohn von 8,85 EUR. Aus den vorgelegten
Kontoauszügen ergibt sich, dass von dem Konto der Antragstellerin auch Zahlungen von Frau B vorgenommen werden.
Mit Schreiben vom 24.11.2015 forderte der Antragsgegner von der Antragstellerin verschiedene Unterlagen, ua das "Zusatzblatt
VE ausgefüllt und unterschrieben". Die Antragstellerin wurde auf die Mitwirkungspflichten nach §
60 SGB I und die Möglichkeit einer Leistungsversagung nach §
66 SGB I hingewiesen. Die Antragstellerin legte verschiede Unterlagen vor, ua ein Schreiben von Frau B mit dem Inhalt "Ich wohne mit
Frau C in einer Wohngemeinschaft". Die Antragstellerin fügte die "Anlage VE" bei, die nur die persönlichen Daten der Antragstellerin
und von Frau B enthielt.
Mit Bescheid vom 21.01.2016 versagte der Antragsgegner gestützt auf §
66 SGB I das Arbeitslosengeld II ab 01.12.2015. Nach Aktenlage lägen Indizien für eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft
mit Frau B vor. Da die Antragstellerin Einkünfte von Frau B auch nach Aufforderung nicht nachgewiesen habe, könne eine evtl.
Hilfebedürftigkeit nicht festgestellt werden. Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch hat der Antragsgegner mittlerweile
mit Bescheid vom 04.04.2016 zurückgewiesen.
Am 27.01.2016 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Gelsenkirchen beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Leistungszahlung - hilfsweise als Darlehen - zu verpflichten. Die
Antragstellerin bestreitet, ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen zu sein.
Mit Beschluss vom 09.02.2016 hat das Sozialgericht den Antrag und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Der Vordruck
"VE" sei nicht vollständig ausgefüllt gewesen, hierdurch habe die Antragstellerin ihre Mitwirkungspflichten verletzt.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 11.02.2016 erhobene Beschwerde der Antragstellerin. Die Antragstellerin betont,
die "Anlage VE" vorgelegt zu haben, die Mitarbeiterin des Antragsgegners habe ihr daraufhin mitgeteilt, es seien nun alle
Unterlagen vorhanden. Die Angelegenheit sei eilbedürftig, weil sie nicht über existenzsichernde Mittel verfüge und nicht krankenversichert
sei.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die beantragte einstweilige Anordnung und die Bewilligung
von Prozesskostenhilfe abgelehnt.
Der Versagungsbescheid vom 21.01.2016, der noch nicht bestandskräftig geworden ist (zur anspruchshindernden Wirkung eines
bestandskräftigen Versagungsbescheides vergl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 04.07.2012 - L 13 AS 124/12 B; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.05.2009 - L 25 AS 770/09 B ER), steht einer Verpflichtung des Antragsgegners nicht entgegen, denn er ist offensichtlich rechtswidrig. Die Voraussetzungen
für eine Versagungsentscheidung nach §§
60 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1,
66 Abs.
1 Satz 1
SGB I liegen nicht vor. Die Antragstellerin hat die mit dem Schreiben vom 24.11.2015 angeforderten Unterlagen, insbesondere das
"Zusatzblatt VE ausgefüllt und unterschrieben" vollständig vorgelegt. Zwar wurde die Zeile "Ich lebe länger als ein Jahr mit
der oben genannten Person in einem gemeinsamen Haushalt" nach dem in der Verwaltungsakte enthaltenen Exemplar der "Anlage
VE" wohl nicht angekreuzt, dies ist aber unbeachtlich, weil beide Beteiligten wussten, dass dieser Umstand sich zweifelsfrei
und mit Unterlagen belegt aus der Verwaltungsakte ergibt. Soweit das Sozialgericht rügt, die Antragstellerin habe die Zeile
"Gründe gegen eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft" nicht genutzt, um derartige Gründe vorzutragen, trifft dies
nicht zu. Die Antragstellerin hat die Bescheinigung von Frau B vorgelegt, in der diese mitteilt, mit der Antragstellerin eine
Wohngemeinschaft zu bilden. Sofern diese Erklärung nach Meinung der Antragsgegnerin nicht ausreichend ist, hat sie weiter
zu ermitteln, nicht aber eine Leistungsversagung wegen fehlender Mitwirkung auszusprechen. Hinzu kommt, dass der Antragsgegner
die Leistungen nicht versagt hat, weil die Antragstellerin die "Anlage VE" nicht vorgelegt oder ausgefüllt habe, sondern weil
die Antragstellerin "Einkünfte der Frau B auch auf Aufforderung nicht nachgewiesen" habe. Zur Vorlage derartiger Einkommensnachweise
ist die Antragstellerin nach Aktenlage aber weder bei der Antragstellung noch mit dem Schreiben vom 24.11.2015 aufgefordert
worden. Insoweit fehlt es auch an der Belehrung über die Rechtsfolgen gem. §
66 Abs.
3 SGB I, die sich auf die konkret geforderte Mitwirkungshandlung beziehen muss (Kampe, in: JurisPK,
SGB I, §
66 Rn 33 mwN). Eine Leistungsversagung wegen einer (angeblichen) Verletzung von Mitwirkungspflichten Dritter berechtigt nicht
zur Versagung von Leistungen (zum Vorgehen bei der Verletzung von Mitwirkungshandlungen Dritter im Wege des § 60 SGB II vergl. Beschluss des Senats vom 22.12.2015 - L 7 AS 1619/15 B ER).
Die Antragstellerin erfüllt die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II und verfügt selbst nicht über bedarfsdeckendes Einkommen oder Vermögen.
Die aktenkundigen Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin mit Frau B in einer gleichgeschlechtlichen Einstehens- und
Verantwortungsgemeinschaft iSd §
7 Abs.
3 Nr.
3 c, Abs.
3a SGB III steht, reichen nicht aus, um die beantragte Anordnung abzulehnen. Denn allein ein gemeinsames Wirtschaften - für das tatsächlich
Anhaltspunkte gegeben sind - ist nicht ausreichend, um eine Partnerschaft iSd § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II zu bejahen. Von dem Bestehen einer Partnerschaft ist erst auszugehen, wenn eine gewisse Ausschließlichkeit der Beziehung
gegeben ist, die keine vergleichbare Lebensgemeinschaft daneben zulässt (BSG, Urteil vom 23.08.2012 - B 4 AS 34/12 R; Beschluss des Senats vom 22.12.2015 - L 7 AS 1619/15 B ER). Es liegen keinerlei Feststellungen zur Ausschließlichkeit der Beziehung zwischen der geschieden Antragstellerin und
Frau B vor.
Bis diese Feststellungen zu einem belastbaren Ergebnis geführt haben, sind der Antragstellerin Leistungen im Wege der Folgenabwägung
zuzusprechen.
Kann die Rechtslage in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilt werden, ist anhand einer Folgenabwägung
zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05; ständige Rechtsprechung des Senats, vergl. nur Beschluss vom 09.11.2015 - L 7 AS 1234/15 B ER). Hierbei sind insbesondere die Bedeutung der beantragten Leistungen für die Antragstellerin gegen das fiskalische Interesse
des Antragsgegners, die vorläufig erbrachten Leistungen im Fall des Obsiegens in der Hauptsache möglicherweise nicht zurückzuerhalten,
abzuwägen.
Das Interesse des Antragsgegners muss im konkreten Fall hinter den Interessen der Antragstellerin zurücktreten. In Anbetracht
dessen, dass die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen, kann der Antragstellerin im Lichte des in Art.
1 i.V.m. Art.
19 Abs.
4 GG verankerten Gebots des effektiven Rechtsschutzes und der Menschenwürde nicht zugemutet werden, ohne jede staatliche Existenzsicherung
eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Ohne die beantragten Leistungen drohen der Antragstellerin Nachteile, die
sie aus eigener Kraft nicht abwenden kann, da der Lebensunterhalt und insbesondere der Krankenversicherungsschutz nicht gesichert
sind. Bei der Abwägung hat der Senat auch berücksichtigt, dass ein erheblicher Teil der Verzögerung in der Feststellung des
Sachverhalts seit dem Leistungsantrag vom 06.11.2015 auf das rechtswidrige Vorgehen des Antragsgegners zurückzuführen ist.
Zugunsten des Antragsgegners ist das Einkommen der Antragstellerin (ausgehend von fünf Wochenstunden zu je 8,85 EUR = 44,25
* 13/3 = 191,75 EUR) ohne die gesetzlichen Frei- und Abzugsbeträge in voller Höhe anzurechnen. Hierdurch ist einstweilen das
Existenzminimum der Antragstellerin nicht bedroht.
Den Leistungszeitraum hat der Senat in Anlehnung an § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II bestimmt.
Der Antragstellerin, die die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt, steht für beide Rechtszüge Prozesskostenhilfe
zu (§§ 73a Abs. 1 Satz 1
SGG, 114
ZPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).