Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
EU-Ausländer
Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege
Verfassungsrechtliche Garantie des Existenzminimums
1. Das BSG hat entschieden, dass sowohl für Arbeitsuchende, als auch für Personen, die in Ermangelung von Erfolgsaussichten bei der
Arbeitsuche nicht über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügen, zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen
sind, wenn ein verfestigter Aufenthalt (über sechs Monate) vorliegt.
2. Das in der Norm vorgesehene Ermessen ist aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum in der
Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten ist.
3. Der Senat folgt der abweichenden Rechtsprechung einiger Instanzgerichte nicht und hält eine Verweigerung der Zahlung durch
die Leistungsträger für offensichtlich rechtswidrig.
4. Die Rechtslage ist durch die ständige Rechtsprechung mehrerer Senate des Bundessozialgerichts geklärt.
5. Mindestens wären aber auch bei Zweifeln an der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgrund der verfassungsrechtlichen Garantie
des Existenzminimums Leistungen im Wege der Folgenabwägung zuzusprechen.
Gründe
Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren über die Verpflichtung des Antragsgegners bzw. der Beigeladenen
zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe des Regelbedarfs an die Antragsteller.
Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch i. S. d §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG glaubhaft gemacht. Die Antragsteller zu 1) und 2) erfüllen die Leistungsvoraussetzungen i. S. d § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II hinsichtlich des Alters, der Erwerbsfähigkeit und des gewöhnlichen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland. Die Antragsteller
zu 3) und 4) erfüllen dem Grunde nach die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Sozialgeld (§ 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II).
Die Antragsteller haben für den o. a Zeitraum auch ihre Hilfebedürftigkeit i. S. d § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 SGB II glaubhaft gemacht. Eine Tatsache ist als glaubhaft gemacht anzusehen, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen,
die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Glaubhaftmachung bedeutet
das Dartun überwiegender Wahrscheinlichkeit, das heißt der guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei
durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (ständige Rechtsprechung des Senats, Beschlüsse vom 06.07.2016 - L 7 AS 1154/16 B und vom 09.11.2015 - L 7 AS 1234/15 B ER). Es genügt für die Glaubhaftmachung einer Tatsache, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten
das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese
Möglichkeit spricht.
Die Antragsteller haben nachvollziehbar vorgetragen, dass ihnen - abgesehen ggfs. von dem nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften
anzurechnenden Kinder- und Elterngeld für den Antragsteller zu 4) bzw. das Kindergeld für den Antragsteller zu 3) - kein Einkommen
zur Verfügung steht. Das Kinder- und das Elterngeld sind nicht bedarfsdeckend, wie sich aus der Bewilligung von Leistungen
bis Februar 2016 ergibt. Der Senat geht nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfungsdichte
davon aus, dass den Antragstellern - wie sie vortragen - bis einschließlich Juli 2016 kein weiteres Einkommen zufließt. Die
Unterstützungsleistungen durch "Landsleute" (Schriftsatz der Antragsteller vom 31.03.2016) wertet der Senat einstweilen als
Hilfeleistung zur Unterstützung in einer Notsituation bis zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die
nicht als Einkommen bedarfsmindernd anzurechnen ist (hierzu BSG, Urteil vom 20.12.2011 - B 4 AS 46/11 R). Einkommen aus einem von den Antragstellern behaupteten Beschäftigungsverhältnis bei der AH GmbH ist nicht anzurechnen,
nachdem diese mit Schreiben vom 14.06.2016 mitgeteilt hat, dass der Antragsteller zu 1) zwar einen Arbeitsvertrag erhalten
hat, dieser aber mangels Arbeitsleistung bereits wieder gekündigt worden ist. Einkommen aus einer Beschäftigung bei der CIGO
Transport GmbH ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren bis einschließlich Juli 2016 nicht anzurechnen, weil der Antragsteller
zu 1) glaubhaft gemacht hat, dass der erste Gehaltszufluss nach Beendigung der "Praktikumsphase" erst am 15.08.2016 erfolgen
wird. Weil die Höhe des dann zufließenden Lohns unklar ist, ist die Hilfebedürftigkeit ab August 2016 unter Berücksichtigung
der Regelung des § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II unklar und nicht glaubhaft gemacht, weshalb die Beschwerde im Übrigen zurückzuweisen war.
Der Senat lässt dahinstehen, ob der Antragsteller zu 1) als rumänischer Staatsangehöriger in einem Arbeitsverhältnis steht,
ihm damit ein anderweitiges Aufenthaltsrecht zusteht und er nicht dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterfällt. Denn der Umstand, dass der Antragsteller zu 1) (und damit auch seine Ehefrau und seine Kinder) möglicherweise
sowohl nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als auch nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII als Person, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus der Arbeitsuche ergibt, von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen
ist, steht der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge einem Anspruch nicht entgegen. Das BSG hat mit Urteilen vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 44/15 R und B 4 AS 43/15 B ER), vom 16.12.2015 (B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R), vom 20.01.2016 (B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R), vom 17.02.2016 (B 4 AS 24/14 R) sowie vom 17.03.2016 (B 4 AS 32/15 R) entschieden, dass sowohl für Arbeitsuchende, als auch für Personen, die in Ermangelung von Erfolgsaussichten bei der Arbeitsuche
nicht über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügen, zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen sind, wenn
- wie bei den Antragstellern - ein verfestigter Aufenthalt (über sechs Monate) vorliegt. Das in der Norm vorgesehene Ermessen
ist aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest
Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten ist. Der Senat folgt der abweichenden Rechtsprechung einiger Instanzgerichte (vergl.
u. a LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.01.2016 - L 29 AS 20/16 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11.02.2016 - L 3 AS 668/15 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 - L 12 SO 79/16 B ER) nicht und hält eine Verweigerung der Zahlung
durch die Leistungsträger für offensichtlich rechtswidrig. Die Rechtslage ist durch die ständige Rechtsprechung mehrerer Senate
des Bundessozialgerichts (zur Sozialhilfe vergl. auch BSG, Urteil vom 18.11.2014 - B 8 SO 9/13) geklärt. Mindestens wären aber auch bei Zweifeln an der höchstrichterlichen Rechtsprechung
aufgrund der verfassungsrechtlichen Garantie des Existenzminimums Leistungen im Wege der Folgenabwägung zuzusprechen (ständige
Rechtsprechung des Senats, vergl. nur Beschlüsse vom 09.07.2014 - L 7 AS 5476/14 B ER und vom 03.06.2013 - L 7 AS 830/13 B ER).
Hierdurch ist zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen ein negativer Kompetenzkonflikt i. S. d §
43 SGB I begründet worden, der erst im Hauptsacheverfahren zu klären ist. Die Frage, ob die Antragsteller dem Leistungsausschluss
nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterfallen, ist seit den o. a Entscheidungen des BSG aus Dezember 2015 nur noch maßgeblich für die Bestimmung des zuständigen Leistungsträgers. Unterliegen die Antragsteller
dem Leistungsausschluss nicht, weil sie über ein anderweitiges Aufenthaltsrecht verfügen (hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R), ist der Antragsgegner für die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zuständig. Unterliegen die Antragsteller
hingegen dem Leistungsausschluss, ist der Träger der Sozialhilfe bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen für die Erbringung
von Hilfe zum Lebensunterhalt zuständig.
Es ist nicht erforderlich, dass der zuerst angegangene Träger ausdrücklich auf die Einstandspflicht eines anderen Trägers
verweist (Lilge,
SGB I, §
43 SGB I Rn. 25). Der Antragsgegner ist demnach zuerst angegangener Leistungsträger i. S. d §
43 SGB I.
Unbeachtlich ist auch, dass der Antragsgegner seine Leistungspflicht aufgrund der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bereits mit Bescheid abgelehnt hat. Eine bereits ergangene Ablehnungsentscheidung steht einer Vorleistungspflicht nach §
43 SGB I jedenfalls solange die Ablehnungsentscheidung (wie hier; Schriftsatz der Antragsteller vom 30.03.2016) noch nicht bestandskräftig
geworden ist, nicht entgegen. Vorläufigen Entscheidungen nach dem Sozialgesetzbuch kommt allein die Funktion zu, eine (Zwischen-)Regelung
bis zur endgültigen Klärung der Sach- und Rechtslage zu treffen. Vorläufig bewilligte Leistungen sind daher als aliud gegenüber
endgültigen Leistungen anzusehen, deren Bewilligung keine Bindungswirkung für die endgültige Leistung entfaltet (BSG, Urteil vom 29.04.2015 - B 14 AS 31/14 R mwN) und die daher unabhängig von der Ablehnung endgültig zustehender Leistungen erbracht werden können.
In dem Leistungsantrag ist im Zweifel auch ein Antrag i. S. d §
43 Abs.
1 Satz 2
SGB I zu sehen, vorläufige Leistungen zu erbringen. Ein Antrag ist jede gegenüber dem erstangegangenen Leistungsträger abgegebene
Willenserklärung, aus der - erforderlichenfalls durch Auslegung - zu entnehmen ist, dass der Berechtigte zumindest vorläufige
Leistungen wünscht (Lilge,
SGB I, §
43 Rn. 40).
Die Rechte des Antragsgegners sind gewahrt, weil er für den Fall, dass die Antragsteller von Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts ausgeschlossen sind, einen Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X gegen den Beigeladenen als Träger der Sozialhilfe geltend machen kann. Der aus der Anwendung von §
43 SGB I folgende Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X erfordert die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der vorläufig erbrachten Leistungen (allg. Meinung, vergl. nur LSG Nordrhein-Westfalen,
Urteil vom 15.04.2013 - L 20 SO 453/11 mwN), die gegeben ist, weil es sich bei der Frage, ob der Ausschlusstatbestand des
§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eingreift, als Folge der Rechtsprechung des BSG aus Dezember 2015 nicht um den Streit um eine materielle Anspruchsvoraussetzung, sondern um die Eröffnung eines Kompetenzkonfliktes
handelt. Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich nach den für den Antragsgegner geltenden Rechtsvorschriften (§ 102 Abs. 2 SGB X).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und berücksichtigt, dass die Rechtsverfolgung lediglich in einem geringen Umfang keinen Erfolg hatte.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).