Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten
Zulassung nach dem Arzneimittelrecht
Krankenversicherungsrechtliche Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit einer Arzneimitteltherapie
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über die Versorgung des Antragstellers mit Medizinal-Cannabisblüten.
Der 1970 geborene Antragsteller erlitt 2005 bei einem Unfall eine Hüftgelenksausrenkung rechts mit begleitendem Hüftkopfbruch
und Bruch des hinteren Hüftpfannenpfeilers. Als Unfallfolgen wurden u.a. neben einer motorischen und sensiblen Peronaeuslähmung
rechts chronischneuropathische Schmerzen rechter Unterschenkel und Fuß sowie belastungsabhängige Schmerzen beschrieben (Gutachten
des Dr. I, St. B Krankenhaus E, vom 02.02.2010). Zur Behandlung der Schmerzen wurden u.a. Pregabalin, Gabapentin, Amitriptylin,
Oxycodon, Oxygesic, Tramadol und Novaminsulfon eingesetzt. Im November 2014 unternahm der behandelnde Arzt Dr. H einen Therapieversuch
mit Sativex. Nach Angeben des Antragstellers traten im Gegensatz zur zuvor erfolgten Anwendung von Cannabisblüten bei dessen
Einnahme Kopfschmerzen auf (Schreiben des Dr. H vom 04.11.2015).
Den Antrag des Antragstellers, die Kosten für die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten zu übernehmen, lehnte die Antragsgegnerin
nach Anhörung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Nordrhein mit Bescheid vom 11.11.2015 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 11.03.2016 ab. Es bestehe kein Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten zu Lasten der gesetzlichen
Krankenversicherung. Es handele sich um eine neue Behandlungsmethode, für die es derzeit an der erforderlichen positiven Empfehlung
des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) fehle. Eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung bzw.
eine zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechenden
Leistung nicht zur Verfügung stehe, die im Einzelfall einen Anspruch auf Kostenübernahme begründen könne, liege nicht vor.
Zudem könne auch mit anderen Medikamenten eine weitere Schmerztherapie vorgenommen werden. Die Kosten für Sativex würden bis
zum 30.11.2016 weiter übernommen
Gegen diese Entscheidung hat der Antragsteller Klage erhoben - S 8 KR 339/16 Sozialgericht (SG) Düsseldorf -. Zudem hat er den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Über den 30.06.2016 hinaus sei er nicht in
der Lage, die Therapie mit Medizinal-Cannabisblüten weiter zu finanzieren. Nur bei Einnahme der Cannabisblüten sei es ihm
möglich, einen geregelten Alltag zu führen und seiner Berufstätigkeit nachzugehen. Die in der Vergangenheit durchgeführte
Behandlung mit Schmerzmedikamenten sei nicht hinnehmbar gewesen, da sie u.a. zu Verlust der Libido und Verdauungsproblemen
geführt hätten. Sativex habe er in die Höchstdosierung übersteigender Menge einnehmen müssen; es hätten sich starke Nebenwirkungen
in Form von unerträglichen Kopfschmerzen eingestellt. Er leide zwar an keiner lebensbedrohlichen oder tödlichen Krankheit,
jedoch sei seine Lage derart existenzbedrohend, dass ein Vergleich nicht ganz abwegig erscheine.
Der Antragsteller hat schriftsätzlich beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller das Arzneimittel Medizinal-Cannabisblüten
zu finanzieren, soweit die behandelnden Ärzte des Antragstellers diese Behandlung verordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,
den Antrag auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz zurückzuweisen.
Bei der Versorgung mit Cannabisblüten handele es sich nicht um eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Schmerztherapie
könne mit anderen Medikamenten vorgenommen werden. Etwaige Nebenwirkungen und auch Überdosierungen von Sativex seien mit dem
behandelnden Arzt abzuklären und ebenfalls zu behandeln.
Das SG hat die Antragsgegnerin nach Einholung von Befundberichten verpflichtet, den Antragsteller für die Zeit ab 01.07.2016 bis
zum Ende des Hauptsacheverfahrens, zunächst längstens bis zum 30.06.2017, im Rahmen der Erlaubnis des BfArM vom 24.04.2014,
mit ärztlich verordneten Medizinal-Cannabisblüten zu versorgen (Beschluss vom 01.06.2016). Eine Versorgungslücke zur ausreichenden
Behandlung des ausgeprägten Schmerzsyndroms erscheine naheliegend. Der Antragsteller habe ausreichend wahrscheinlich gemacht,
dass hinsichtlich einer erfolgreichen bzw. ausreichenden Behandlung seines chronischen Schmerzsyndroms keine vertragsärztlichen
bzw. schulmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. Mittlerweile habe sich auch der Gesetzgeber gedrängt
gefühlt, zukünftig die Versorgung mit getrockneten Cannabisblüten zum Leistungsgegenstand der gesetzlichen Krankenversicherung
zu machen, so dass es nicht ausgeschlossen erscheine, dass sich der GBA in entsprechendem Maße zu einer Empfehlung hätte veranlasst
sehen müssen. Jedenfalls führe die Folgenabwägung zum einstweiligen Versorgungsanspruch des Antragstellers. Es seien lediglich
ihm drohende erhebliche Nachteile ersichtlich, dagegen keine (durchgreifenden) Nachteile für die Versichertengemeinschaft,
zumal die streitgegenständliche Therapie kostengünstiger sei als die Therapie mit den Fertigarzneimitteln Sativex und Dronabinol.
Dem Antragsteller drohten ohne Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten der Verlust seiner Arbeitsfähigkeit und seiner konkreten
Beschäftigung und damit der Verlust seiner wirtschaftlichen Existenzgrundlage.
Gegen den am 01.06.2016 zugestellten Beschluss hat sich die Antragsgegnerin mit ihrer Beschwerde vom 21.06.2016 gewandt. Entgegen
den Ausführungen des SG habe der Antragsteller das Fertigarzneimittel Dronabinol nicht erfolglos zu sich genommen, sondern vielmehr dessen Einnahme
von vornherein abgelehnt. Auch ansonsten sei nicht gesichert, dass sämtliche anerkannten Behandlungsmethoden ausgeschöpft
worden seien. Es verwundere nicht, dass der Antragsteller bei einer Verdoppelung der Maximaldosis des Mittels Sativex Kopfschmerzen
als "Nebenwirkung" beklage. Schließlich vermöge auch das Wirtschaftlichkeitsgebot keinen Rechtsanspruch auf eine bestimmte
Leistung zu begründen.
Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 01.06.2016 aufzuheben und den Antrag des Antragstellers zurückzuweisen.
Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückzuweisen.
Er trägt unter anderem vor, er weigere sich nicht, alternative Mittel zu nehmen. Allerdings sei ihm von zwei behandelnden
Ärzten vergesichert worden, dass die Einnahme von Dronabinol zu keinem Erfolg führen könne, da der Tagesbedarf nicht gedeckt
werde. Die Höchstdosis von Sativex genüge nicht. Er wisse nicht, welche anerkannten Methoden verblieben. Im Übrigen sei durch
die anstehende Gesetzesänderung nur eine Überbrückung bis zum Frühjahr 2017 notwendig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge
der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Die statthafte und im Übrigen zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet. Denn der Antragsteller hat gegen die
Antragsgegnerin keinen Anspruch auf Gewährung von Medizinal-Cannabisblüten im Wege der einstweiligen Anordnung.
Nach §
86b Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung nach
Maßgabe der in Absatz 1 bzw. Absatz 2 genannten Voraussetzungen treffen. Danach ist zwischen Sicherungs- (§
86b Abs.
2 Satz 1
SGG) und Regelungsanordnung (§
86b Abs.
2 Satz 2
SGG) zu unterscheiden. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der
Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtshelfs
(Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen
(§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung (
ZPO)). Die in tatsächlicher (Glaubhaftmachung) wie in rechtlicher Hinsicht (grundsätzlich summarische Prüfung) herabgesetzten
Anforderungen für die Annahme eines Anordnungsanspruchs korrespondieren mit dem Gericht der glaubhaft zu machenden wesentlichen
Nachteile. Droht dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende
Verletzung in seinen Rechten, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - erforderlichenfalls
unter eingehender tatsächlichen und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs - einstweiliger
Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12.05.1005 - 1 BvR 569/05 -; Senat, Beschluss vom 12.08.2013 - L 11 KA 92/12 B ER -; Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.09.2006 - L 10 B 2/06 KA ER -), es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (BVerfG, Beschluss vom
26.05.1995 - 1 BvR 1087/91 -). Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung
zu entscheiden. Dabei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung einzustellen, da sich
die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte zu stellen haben (vgl. BVerG, Beschlüsse vom 29.11.2007 - 1 BvR 2496/07 - und 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, hierzu auch Senat, Beschlüsse vom 28.06.2013 - L 11 SF 74/13 ER (Morbus Rompe) und 19.11.2012 - L 11 KR 473/12 B ER - (Hyperthermie)). Dabei darf die einstweilige Anordnung grundsätzlich die endgültige Entscheidung in der Hauptsache
nicht vorwegnehmen. Andererseits müssen die Gerichte unter Umständen wegen der Kürze der zur Verfügung stehende Zeit Rechtsfragen
nicht vertiefend behandeln und Ihre Entscheidung maßgeblich auf der Grundlage einer Interessenabwägung treffen können (Senat,
Beschlüsse vom 12.08.2013 - L 11 KA 92/12 B ER - und 12.10.2009 - L 11 B 17/09 KA ER -, LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 15.11.2006 - L 10 B 14/06 KA ER - und 14.12.2006 - L 10 B 21/06 KA ER -). Ferner darf oder muss das Gericht ggf. auch im Sinne einer Folgenbetrachtung bedenken, zu welchen Konsequenzen
für die Beteiligten die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei späterem Misserfolg des Antragstellers im Hauptsacheverfahren
einerseits gegenüber der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes bei nachfolgendem Obsiegen in der Hauptsache andererseits führen
würde (vgl. Senat, Beschlüsse vom 14.01.2015 - L 11 KA 44/14 B ER -, 12.08.2013 - L 11 KA 92/12 B ER - und 21.01.2012 - L 11 KA 77/11 B ER -; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 04.04.2007 - L 5 KR 518/07 ER-B -).
Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Beschwerde begründet; Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung
sind nicht erfüllt; es ist bereits ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
Einen Naturalleistungsanspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten hat der Antragsteller auch vor dem Hintergrund,
dass er Inhaber einer Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ist (Bescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 24.04.2014) nicht, weil dieses Mittel nicht zum
Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehört (s. dazu Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 06.04.2016 - 3 C 10/14 -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.08.2013 - L 5 KR 311/13 B ER -; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.04.2016 - L 4 KR 4368/15 -).
Der Antragsteller kann zwar nach §
27 Abs.
1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) die Behandlung seiner Schmerzen verlangen. Die Krankenbehandlung umfasst neben der ärztlichen Behandlung auch die Versorgung
der Versicherten mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln.
Die Behandlung mit Medizinal-Cannabisblüten wird davon aber nicht erfasst, selbst wenn dieses Erzeugnis als Fertigarzneimittel
i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 Arzneimittelgesetz (AMG), also als ein Arzneimittel, das im Voraus hergestellt und in einer zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Packung in den
Verkehr gebracht wird, qualifiziert wird (BSG, Urteil vom 16.12.2008 - B 1 KN 3/07 KR R -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.08.2013 a.a.O.). Denn es fehlt an
einer euweiten oder auf die Bundesrepublik Deutschland bezogenen Arzneimittelzulassung (vgl. § 21 Abs. 1 AMG). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind die Anforderungen des
SGB V an Pharmakotherapien mit Medikamenten, die nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts der Zulassung bedürfen, nur erfüllt,
wenn sie eine solche Zulassung besitzen. Ohne die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt es an der krankenversicherungsrechtlichen
Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit dieser Arzneimitteltherapie (BSG, Urteil vom 04.04.2006 - B 1 KR 12/04 R - m.w.N.). Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG, Beschluss vom 30.06.2008 - 1 BvR 1665/07 -).
Davon ausgehend kommt eine Verpflichtung der Antragsgegnerin schon deshalb nicht in Betracht, weil es an der erforderlichen
Arzneimittelzulassung für Medizinal-Cannabisblüten fehlt. Eine durch allgemeine Grundsätze gedeckte zulassungsüberschreitende
Anwendung (sog. "Off-Label-Use" (u.v.a. BSG, Urteil vom 08.11.2011 - B 1 KR 19/10 R -)) scheidet aus, weil eine solche jedenfalls die bereits erteilte Zulassung eines Fertigarzneimittels für eine bestimmte
Indikation voraussetzt. Daran fehlt es vorliegend jedoch (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.08.2013 a.a.O.).
Handelt es sich indes bei den begehrten Cannabis-Medizinalblüten um zulassungsfreie Rezepturarzneimittel (s. LSG Baden-Württemberg,
Beschluss vom 29.04.2016 a.a.O.), so ist das in §
135 Abs.
1 Satz 1
SGB V festgelegte Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu beachten. Nach Nr. 1 dieser Vorschrift dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der GBA auf Antrag eines Unparteiischen
nach §
91 Abs.
2 Satz 1
SGB V, einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen
in Richtlinien nach §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
5 SGB V Empfehlungen abgegeben hat über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren
medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachten Methoden
- nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung. Die Verordnung als Rezepturarzneimittel
ist wie der Einzelimport nach § 73 Abs. 3 AMG unter Beachtung des BtMG zwar betäubungsmittelrechtlich zulässig. Neuartige Therapien mit einem Rezepturarzneimittel, die vom GBA nicht empfohlen
sind, dürfen die Krankenkassen aber grundsätzlich nicht gewähren, weil sie an das Verbot des §
135 Abs.1 Satz 1
SGB V und die das Verbot konkretisierenden Richtlinien des GBA gebunden sind (BSG, Urteil vom 27.03.2007 - B 1 KR 30/06 R -; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.04.2011 - L 4 KR 4903/10 - und vom 27.02 2012 - L 4 KR 3786/13 -).
Dies zugrundegelegt hat der Antragsteller ebenfalls keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten durch die
Beklagte; denn es fehlt an der nach §
135 Abs.
1 Satz 1
SGB V erforderlichen befürwortenden Entscheidung des GBA.
Dem Kläger steht auch unter dem Gesichtspunkt des sogenannten Seltenheitsfalls oder des sogenannten Systemversagens kein Anspruch
zu. Denn die dafür erforderlichen Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
Der sogenannte Seltenheitsfall ist gegeben bei einer Krankheit, die weltweit nur extrem selten auftritt und die deshalb im
nationalen wie im internationalen Rahmen weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden kann (BSG, Urteile vom 08.09.2009 - B 1 KR 1/09 R - und vom 19.10.2004 - B 1 KR 27/02 R -). Ein Systemversagen ist zu bejahen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode darauf
zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen
Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde. In diesen Fällen ist die in §
135 Abs.
1 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien rechtswidrig unterblieben. Deshalb muss dann die Möglichkeit bestehen, das
Anwendungsverbot erforderlichenfalls auf andere Weise zu überwinden (BSG, Urteile vom 07.05.2013 - B 1 KR 44/12 R - und vom 27.03.2007 - B 1 KR 30/06 R -).
Hier liegen beide Ausnahmefälle nicht vor. Das bei dem Antragsteller bestehende Schmerzsyndrom ist weltweit nicht so selten,
dass es weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden könnte. Dies stellt der Antragsteller auch nicht in
Frage.
Anhaltspunkte dafür schließlich, dass sich die o.a. antragsberechtigten Stellen oder der GBA aus sachfremden oder willkürlichen
Erwägungen mit der Materie nicht oder zögerlich befasst haben, sind nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich. Auch der
Hinweis des SG auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung "Entwurf eines Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften"
(Bundestags-Drucksache 18/8965 vom 28.06.2016) führt nicht weiter. Danach soll u.a. Versicherten mit einer schwerwiegenden
Erkrankung ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität
und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon unter im Einzelnen aufgeführten Voraussetzungen
zustehen (Artikel 4 - Änderung des
Fünften Buches Sozialgesetzbuch, §
31 des
Fünften Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung-). Das bedeutet indes nicht, wie das SG wohl meint, dass sich der GBA in entsprechendem Maße zu einer Empfehlung hätte veranlasst sehen müssen. Erst recht kann von
sachfremden oder willkürlichen Erwägungen keine Rede sein. Vielmehr bestand zu keinem Zeitpunkt Anlass, eine Behandlung mit
Cannabis-Medizinalblüten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse als zweckmäßige
und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten (s. dazu BSG, Urteil vom 07.05.2013 - B 1 KR 44/12 R -) zu empfehlen, bzw. für einen darauf zielenden Antrag. Die Bundesregierung hat noch 2004 ausgeführt (Bundestags-Drucksache
15/2331 vom 12.01.2004):
"Ein medizinischer Nutzen von Cannabinoiden in der Schmerzindikation ist derzeit nicht zu begründen. Plausibel erscheinen
jedoch aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse Überlegungen, cannabinoidhaltige Arzneimittel könnten einen positiven Beitrag
in der Kombinationsbehandlung mit anderen Analgetika entfalten. Diese Anwendung ist jedoch noch nicht ausreichend untersucht.
Ob Cannabinoide ein klinisch sinnvoll zu nutzendes schmerzlinderndes Potenzial haben, muss daher weiter als unzureichend untersucht
angesehen werden."
Nicht wesentlich anders ist die derzeitige Sachlage. Dies folgt bereits aus der in Artikel 4 (s.o.) vorgesehenen Regelung,
dass sich der Versicherte verpflichten muss, an einer laufenden nicht-interventionellen Begleiterhebung zum Einsatz dieser
Arzneimittel teilzunehmen. Den an sich bereits auf der Hand liegenden Hintergrund dieser Regelung, nämlich die Erforderlichkeit
weiterer Kenntnisgewinnung, erläutert dann auch das Bundesministerium für Gesundheit unter "Fragen und Antworten zum Gesetzentwurf
'Cannabis als Medizin'" mit:
" Mit der nicht-interventionellen Begleiterhebung sollen durch den Arzt oder die Ärztin bekannte Daten, zum Beispiel zur Diagnose,
Therapie, Dosis und Nebenwirkungen dokumentiert und an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukten (BfArM) übermittelt
werden. Die Daten werden anonymisiert, das heißt, sie können der behandelten Person nicht zugeordnet werden. Das Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wird gesetzlich mit der Begleiterhebung beauftragt. Die Ergebnisse fasst ein
Studienbericht zusammen, der dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) nach Abschluss der auf fünf Jahre angelegten Begleiterhebung
vorgelegt wird. Er dient dem G-BA als Grundlage für weitere Festlegungen für Kassenleistungen."
(http://www.bmg.bund.de/glossarbegriffe/c/cannabis/faq-cannabis-als-medizin.html).
Ein Leistungsanspruch des Klägers folgt auch nicht aus dem mit Art. 1 Nr. 1 Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen
in der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 22.12.2011 mit Wirkung zum 01.01.2012 eingefügten §
2 Abs.
1a SGB V, mit dem der Gesetzgeber die Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 -) und des BSG (Urteile vom 04.04.2006 - B 1 KR 12/04 R und B 1 KR 7/05 R -) umgesetzt hat. Nach §
2 Abs.
1a Satz 1
SGB V können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig
vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur
Verfügung steht, auch eine von §
2 Abs.
1 Satz 3
SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive
Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
Das bei dem Antragsteller bestehende Schmerzsyndrom und die davon ausgehenden Beschwerden stellen, wie auch der Antragsteller
selber einräumt, keine tödliche oder lebensbedrohliche Erkrankung dar. Sie sind auch keine wertungsmäßig damit vergleichbare
Erkrankung. Es kann vorliegend zu Gunsten des Antragstellers unterstellt werden, dass er durch seine Beschwerden erheblich
beeinträchtigt ist. Eine Notstandssituation wie bei einem tödlichen Krankheitsverlauf, der sich innerhalb eines kürzeren,
überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird, oder der akuten Gefahr eines nicht kompensierbaren
Verlusts eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26.03.2014
- 1 BvR 2415/13 -; BSG, Urteil vom 17.12.2013 - B 1 KR 70/12 R -) resultiert daraus aber nicht. Dabei kommt es nicht einmal darauf an, dass der Antragsteller seine Beschwerden durch das
von der Antragsgegnerin bewilligte Schmerzmittel Sativex auf "lediglich" Kopfschmerzen reduzieren kann und ob letztlich auch
diese Beeinträchtigungen ggf. allein auf eine nicht erforderliche Überdosierung zurückzuführen sind. Die von dem Antragsteller
schließlich in den Vordergrund gestellte Befürchtung, ohne eine Finanzierung der Therapie mit Medizinal-Cannabisblüten sei
es ihm unmöglich, einen geregelten Alltag zu führen und insbesondere seiner Berufstätigkeit weiter nachzugehen, ist vorliegend
irrelevant. Diese Umstände sind keine Erkrankung.
Darauf, dass der Antragsteller ggf. nach Änderung der Gesetzeslage einen Anspruch auf die begehrte Versorgung haben könnte,
kommt es nicht an. Entscheidend ist allein die derzeitige Rechtslage. Im Übrigen scheinen die nach dem derzeitigen Stand des
Gesetzgebungsverfahrens erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen keineswegs unstreitig oder offenkundig erfüllt. Insbesondere
erscheint zweifelhaft, ob bisher überhaupt eine sinnvoll strukturierte Schmerztherapie durchgeführt worden ist (vgl. dazu
u.a. "Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie - Pharmakologisch nicht interventionelle Therapie chronisch
neuropathischer Schmerzen", herausgegeben von der Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
http://www.awmf.org/uploads/tx szleitlinien/030-114l S1 Neuropathischer Schmerzen Therapie 2014-01.pdf
oder "Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen" der Fachgesellschaft Deutsche Schmerzgesellschaft
u.a.
(http://www.awmf.org/uploads/tx szleitlinien/145-003l S3 LONTS 2015-01.pdf)).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).