SGB-XII-Leistungen
Einstweiliger Rechtsschutz
Vorliegen eines Anordnungsgrunds
Konkrete Gefahr einer Wohnungslosigkeit
Anhängigkeit einer Räumungsklage
Gründe
1. Die gem. §§
172,
173 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist teilweise begründet. Das Sozialgericht hat die
Antragsgegnerin in der Sache zutreffend verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen des Regelbedarfs nach dem Dritten
Kapitel des SGB XII zu gewähren. Zu Unrecht hat es die Antragsgegnerin jedoch verpflichtet, auch die Kosten der Unterkunft und Heizung vorläufig
zu zahlen.
Nach §
86b Abs.
2 S. 2
SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf
ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).
Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt voraus, dass der Antragsteller sowohl das Bestehen eines materiell-rechtlichen
Anspruchs auf die begehrte Leistung (Anordnungsanspruch) als auch die Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund)
glaubhaft, d.h. überwiegend wahrscheinlich (vgl. u.a. BVerfG vom 29.07.2003 - 2 BvR 311/03) macht (§
86b Abs.
2 S. 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 ZPO). Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund allerdings nicht isoliert nebeneinander. Es besteht vielmehr zwischen
beiden eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw.
Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt.
Darüber hinaus können sich aus Art.
19 Abs.
4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht
mehr zu beseitigen wären. Die Gerichte müssen in solchen Fällen bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache,
also dem Bestehen eines Anordnungsanspruchs, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Das
gilt insbesondere, wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt
und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Ist dem Gericht eine vollständige
Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch
in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen (vgl. ausführlich
zum Ganzen: BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05).
a. Ausgehend von diesen Grundsätzen teilt der Senat die Auffassung des Sozialgerichts, dass der Antragsteller glaubhaft gemacht
hat, seinen notwendigen Lebensunterhalt i.S.d. §§ 19 Abs. 1, 27 ff. SGB XII nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus seinem Einkommen und Vermögen, bestreiten
zu können (= Anordnungsanspruch).
aa. Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, scheitert der Anordnungsanspruch nicht bereits daran, dass in der Hauptsache (wohl) ein Versagungsbescheid
gem. §
66 SGB I ergangen ist. Auch in solchen Fällen ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung möglich, obwohl im Hauptsacheverfahren
nur eine reine Anfechtungsklage gegen den Versagungsbescheid zulässig ist. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz eines effektiven
gerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Auflage 2014, §
86b Rn. 29b m.w.N.).
bb. Nicht beurteilen musste der Senat, ob der Antragsteller die Schwärzungen in den Kontoauszügen in Ausübung seines Grundrechts
auf informationelle Selbstbestimmung vornehmen durfte oder nicht; diese Frage mag - wenn es entscheidungserheblich darauf
ankommen sollte - im Hauptsacheverfahren geklärt werden. Im Rahmen der im Eilverfahren erforderlichen Prüfungsdichte kommt
es nämlich allein darauf an, ob der Antragsteller unter Würdigung der tatsächlichen Gegebenheiten des vorliegenden Einzelfalles
glaubhaft gemacht hat, dass er seinen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen und Vermögen nicht bestreiten kann.
cc. Dies ist bei der gebotenen summarischen Prüfung aber der Fall. Über Einkommen verfügt der Antragsteller seit dem Ende
des Leistungsbezugs beim Jobcenter nicht. Sein Girokonto wies am 23.02.2015 ein Guthaben von 45,40 EUR auf; im beim Sozialgericht
vorgelegten PKH-Vordruck hat der Antragsteller am 21.04.2015 angegeben, das Guthaben betrage 4,39 EUR.
Durchgreifende Zweifel an der Hilfebedürftigkeit ergeben sich aus den Buchungen, die über das Girokonto erfolgt sind, nicht.
Auf der Ausgabenseite sind vom Antragsteller zwar zahlreiche Schwärzungen hinsichtlich des Verwendungszwecks vorgenommenen
worden, so dass diverse unklare Buchungen vorliegen. So wurden regelmäßig monatliche Beträge von sieben Mal 25,00 EUR sowie
34,00 EUR, 56,00 EUR und 2,50 EUR abgebucht, deren Verwendung unklar bleibt. Darüber hinaus wurden weitere unregelmäßig abgebuchte
Beträge bezüglich ihres Verwendungszwecks geschwärzt. Allein aus diesen Abbuchungen lässt sich aber nicht schlussfolgern,
dass eine Vermögensbildung betrieben wird oder Vermögen existiert. Für diese von der Antragsgegnerin in der Beschwerdeschrift
aufgestellte Vermutung sind den vorliegenden Unterlagen und sonstigen Umständen keine belastbaren Anhaltspunkte zu entnehmen.
Der Antragsteller hat zudem eidesstattlich versichert, kein Vermögen bzw. kapitalbildende Verträge sowie auch kein Sparguthaben
zu besitzen. Durchgreifende Zweifel ergeben sich auch nicht daraus, dass die Miete nicht über das Girokonto gebucht wurde.
Dies hat der Antragsteller damit erklärt, ein Darlehen erhalten und die Miete in bar entrichtet zu haben; hierzu hat er schriftliche
Bestätigungen seiner Mutter als Vermieterin und seines Bruders als Darlehensgeber vorgelegt. Im Hinblick auf die Einnahmeseite
bestehen keine Hinweise darauf, dass der Antragsteller - neben den Leistungen des in den Monaten Dezember, Januar und Februar
noch zuständigen Jobcenters - weitere Einkünfte hatte. Die weiteren Eingänge auf dem Girokonto stammten aus Rückbuchungen
bzw. einer Retoure sowie aus Bareinzahlungen. Deren Gesamtbetrag von 130,00 EUR im Zeitraum vom 01.12.2014 bis 23.02.2015
gibt keinen greifbaren Anhaltspunkt für verschleiertes Einkommen. Zu dem am 02.12.2014 in bar eingezahlten Betrag in Höhe
von 300,00 EUR hat das SG bereits zutreffend darauf hingewiesen, dass die diesbezügliche Erklärung des Antragstellers, es habe sich um den Ausgleich
einer über sein Konto abgewickelten Zahlung gehandelt, angesichts der am 04.12.2015 erfolgten Abbuchung von 303,01 EUR schlüssig
erscheint.
Im Übrigen sind keine Hinweise für bisher vom Antragsteller nicht angegebenes Einkommen oder Vermögen ersichtlich; eine Kontoabfrage
über das Bundeszentralamt für Steuern hat die Antragsgegnerin bisher nicht veranlasst. Auch das Jobcenter hatte dem Antragsteller
Leistungen nach dem SGB II bis einschließlich Juli 2015 bewilligt und dabei keine Veranlassung gesehen, Einkommen oder Vermögen zu berücksichtigen (Bescheid
vom 16.01.2015).
dd. Ist der Antragsteller nach summarischer Prüfung aber nicht in der Lage, seinen notwendigen Lebensunterhalt i.S.d. § 19 Abs. 1, 27 ff. SGB XII aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus seinem Einkommen und Vermögen, bestreiten zu können, so hat er einen Anspruch
auf Hilfe zum Lebensunterhalt gem. §§ 27 SGB XII - mangels festgestellter dauerhafter Erwerbsminderung und seines Alters liegen die Voraussetzungen von Leistungen nach dem
Vierten Kapitel des SGB XII nicht vor - glaubhaft gemacht.
b. Das Vorliegen einer Eilbedürftigkeit (= Anordnungsgrund) hat der Antragsteller jedoch nur im Hinblick auf die Leistungen
des Regelbedarfs (§ 27a SGB XII) glaubhaft gemacht; bezüglich der Kosten der Unterkunft (§ 35 SGB XII) ist eine Eilbedürftigkeit hingegen derzeit nicht zu erkennen.
aa. Im Hinblick auf den Regelbedarf ergibt sich die Eilbedürftigkeit bereits aus der Notwendigkeit der Existenzsicherung des
ansonsten nach summarischer Prüfung einkommens- und vermögenslosen Antragstellers.
bb. Im Hinblick auf die Kosten der Unterkunft hat der Antragsteller das Bestehen einer sofort zu beseitigenden Notlage nicht
glaubhaft gemacht. Anders als der früher übereinstimmenden Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende -
SGB II - zuständigen Senate des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (vgl. LSG NRW, Beschlüsse vom 19.05.2014 - L 19 AS 805/14 B ER, vom 24.02.2014 - L 12 AS 2319/13 B ER, vom 27.05.2013 - L 2 AS 1236/13 B ER, vom 08.05.2013 - L 7 AS 1235/13 B ER und 06.06.2013 - L 6 AS 170/13 B ER; jetzt aber differenzierend: Beschlüsse vom 29.01.2015 - L 6 AS 2086/14 B und vom 04.05.2014 - L 7 AS 139/15 B ER) entspricht es nicht der Rechtsprechung des erkennenden Senats, dass ein Anordnungsgrund in aller Regel erst dann vorliegt,
wenn bereits eine Räumungsklage anhängig ist. Der Senat hat vielmehr schon wiederholt entschieden, dass es insoweit zwar der
Glaubhaftmachung der konkreten Gefahr einer Wohnungslosigkeit bedarf. Ob eine solche konkrete Gefahr glaubhaft gemacht ist,
kann jedoch nicht allgemein, insbesondere nicht danach beantwortet werden, ob eine Räumungsklage bereits anhängig ist oder
nicht. Die Glaubhaftmachung ist vielmehr eine Frage des Einzelfalles. In aller Regel fordert der Senat - bei Mietwohnungen
- die Kündigung des Mietverhältnisses und (oder ggf.) weitere Umstände, die die Gefährdung des weiteren Verbleibs des Betroffenen
in seiner Unterkunft plausibel machen (vgl. zum Ganzen: Beschluss des erkennenden Senats vom 06.01.2014 - L 20 SO 471/13 B
ER m.w.N.).
Nach diesen Grundsätzen hat der Antragsteller unter Würdigung der besonderen Umstände des Einzelfalles eine akute Gefährdung
des Verbleibs in seiner Wohnung jedoch nicht plausibel gemacht. Denn eine Kündigung des Mietverhältnisses wurde trotz der
seit März 2015 ausbleibenden Mietzahlungen bisher nicht ausgesprochen; das unmittelbare Drohen einer Kündigung - was grundsätzlich
ein Eilbedürfnis begründen könnte - ist nicht behauptet worden. Ergeben sich schon hieraus belastbare Anhaltspunkte dafür,
dass die vertraglichen Pflichten des Antragstellers jedenfalls während der Nichtzahlung von Leistungen zur Deckung des Unterkunftsbedarfs
gestundet sind, werden diese durch das besondere familiäre Näheverhältnis zwischen dem Antragsteller und der Vermieterin -
seiner Mutter - untermauert. Erkenntnisse, die für eine Zerrüttung dieses Verhältnisses oder des Verhältnisses zum Betreuer
der Mutter - dem Bruder des Antragstellers - sprechen könnten, sind nicht vorgetragen worden. Der Bruder des Antragstellers
ist sogar eingesprungen und hat diesen durch ein Darlehen unterstützt. Der unmittelbar bevorstehende Verlust der Wohnung erscheint
auch unter diesem Gesichtspunkt nicht überwiegend wahrscheinlich (vgl. auch LSG NRW, Beschluss vom 04.05.2014 - L 7 AS 139/15 B ER). Der Antragsteller hat lediglich vorgetragen, seine Mutter - die Vermieterin - sei zur Sicherstellung ihrer eigenen
Unterbringung im Alten-/Pflegeheim dringend auf die Mieteinnahmen angewiesen. Dass bei dieser eine nicht durch andere Mittel
zu deckende Lücke in der monatlichen Deckung ihrer eigenen Unterbringungskosten entstanden ist, hat er jedoch nicht glaubhaft
gemacht; Unterlagen hierzu (etwa Rechnungen oder Mahnungen des Pflegeheims) liegen nicht vor. Es kann daher offen bleiben,
ob dadurch überhaupt eine eigene Notlage des Antragstellers entstehen könnte. Der Vortrag, eine Kündigung mit anschließender
Räumungsklage durch den Bruder könne die familiären Beziehungen in unzumutbarer Weise belasten, begründet schließlich im allein
zu beurteilenden Verhältnis des Antragstellers zur Antragsgegnerin kein Eilbedürfnis.
c. Liegen hiernach die Voraussetzungen für eine einstweilige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Zahlung des
Regelbedarfs vor, ist diese wegen des vorläufigen Charakters des Eilrechtsschutzes zeitlich zu begrenzen. Dies nimmt der Senat
in ständiger Praxis in der Weise vor, dass er die Verpflichtung bis zum Ende des Monats, in dem die gerichtliche Entscheidung
ergeht, begrenzt. Der Senat geht allerdings davon aus, dass die Antragsgegnerin bei unveränderter Sach- und Rechtslage weiterleisten
wird; anderenfalls bliebe es dem Antragsteller unbenommen, einen erneuten Eilantrag zu stellen.
2. Der Antragsteller hat ab Antragstellung am 17.08.2015 einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Durchführung
des Beschwerdeverfahrens aus §
73a Abs.
1 S. 1
SGG i.V.m. §
114 Abs.
1 S. 1
ZPO. Er ist nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung selber
zu tragen. Gem. §
119 Abs.
1 S. 2
ZPO ist eine weitere Prüfung nicht notwendig, da die Antragsgegnerin das Rechtsmittel eingelegt hat.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des §
193 SGG.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).