Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtschutzes die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter
und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII.
Die 1942 geborene Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Ihre in Deutschland lebenden Söhne B T, L T und U T besitzen
die deutsche Staatsangehörigkeit. Jedenfalls der Sohn L bezieht Leistungen nach dem SGB II. Die Antragstellerin erhält eine polnische Altersrente i.H.v. monatlich 1.256,50 Zloty (derzeit rund 276 €). Die Antragstellerin
ist in Polen krankenversichert. Ausweislich eines ärztlichen Attestes bestehen bei ihr ein Diabetes mellitus Typ II, eine
Harninkontinenz sowie eine Alzheimer-Krankheit mit Demenz.
Im August 2019 reiste die Antragstellerin in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seither wohnt sie in der Wohnung ihres Sohnes
L in X. Für diese 44 m² große Wohnung fallen nach ihren Angaben monatliche Kosten von 363,78 € an.
Einen Sozialhilfeantrag vom 07.11.2019 lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 09.01.2020 ab. Die Antragstellerin sei
nicht freizügigkeitsberechtigt nach dem FreizügG/EU; nach § 23 Abs. 3 SGB XII sei sie deshalb von Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen. Die Antragstellerin legte dagegen am 10.02.2020 Widerspruch ein.
Am 16.03.2020 beantragte die Antragstellerin zudem beim Sozialgericht Dortmund den Erlass einer einstweiligen Anordnung (Az.
S 62 SO 120/20). Das Sozialgericht verpflichtete die Antragsgegnerin, vorläufig Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten
Kapitel des SGB XII für die Zeit vom 16.03.2020 bis zum 30.09.2020 zu erbringen.
Mit Bescheid vom 08.06.2020 stellte die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU den Verlust der Freizügigkeit der Antragstellerin fest und ordnete die sofortige Vollziehung an. Die Antragstellerin könne
ihren Lebensunterhalt nicht durch ausreichende Existenzmittel sicherstellen. Hiergegen erhob die Antragstellerin am 16.06.2020
vor dem Verwaltungsgericht Arnsberg Klage (Az. 3 K 1673/20). Am 26.06.2020 beantragte sie dort zudem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage, hilfsweise die Wiederherstellung
der aufschiebenden Wirkung, höchst hilfsweise die Feststellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (Az. 3 L 551/20). In beiden Verfahren erging bislang keine Entscheidung. Die Antragstellerin legte dem Verwaltungsgericht ein Attest des
Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. Q vom 09.06.2020 vor. Danach hat sie sich an jenem Tag dort in der Sprechstunde vorgestellt.
Anamnestisch bestehe ein Diabetes mellitus Typ II, eine Harninkontinenz sowie eine Demenz bei Alzheimer-Krankheit. Laut Angaben
des Sohnes leide sie an progredienter Vergesslichkeit. Ein Alleinleben sei ihr nicht mehr möglich; sie sei 24 Stunden täglich
auf Beaufsichtigung und fremde Hilfe angewiesen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 14.07.2020 wies der Landrat des F-Kreises den Widerspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid
vom 09.01.2020 zurück. Ein Anspruch auf Sozialhilfe sei ausgeschlossen, weil die Antragstellerin kein Aufenthaltsrecht in
Deutschland habe (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII) und zudem eingereist sei, um Sozialhilfeleistungen zu erlangen (§ 23 Abs. 3 Nr. 4 SGB XII).
Am 04.09.2020 beantragte die Antragstellerin die Weiterzahlung der Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII. Diesen Antrag hat die Antragsgegnerin bislang nicht beschieden.
Am 15.09.2020 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Dortmund erneut um einstweiligen Rechtschutz nachgesucht. Ihr stehe
ein Aufenthaltsrecht sowohl nach dem FreizügG/EU als auch nach § 36 Abs. 2 AufenthG zu. Hinsichtlich der Unterkunftskosten sei darauf hinzuweisen, dass wegen ihres Einzugs das Jobcenter für ihren Sohn L aktuell
nur die hälftigen Unterkunftskosten berücksichtige. Weitere Nachweise zu ihrem Gesundheitszustand könne sie nicht vorlegen,
weil einzig das bereits eingereichte Attest existiere.
Zum weiteren Nachweis ihrer Erkrankung hat die Antragstellerin eine Erklärung ihres Sohnes L vorgelegt. Danach ist sie nicht
mehr in der Lage, sich Mahlzeiten selbst zuzubereiten. Sie schalte den Herd ein und gehe weg; Mahlzeiten auf ihrem Teller
vergesse sie. Sie könne sich nicht selbst baden und müsse Windeln tragen. Er müsse ihr regelmäßig ihre Medikamente geben.
Eine Rückkehr nach Polen sei nicht möglich; sie hätten nur eine sehr kleine Familie, und es gebe niemanden, der sich in Polen
um die Antragstellerin kümmern könnte. Ein Altenheim sei bei ihrer kleinen Rente nicht zu bezahlen.
Die Antragstellerin hat beantragt,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr für die Zeit ab Eingang dieses Antrags bei Gericht vorläufig bis zum Abschluss des
Hauptsacheverfahrens Leistungen nach dem SGB XII, hilfsweise nach dem
AsylbLG zu bewilligen und zu gewähren.
Die Antragsgegnerin hat beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie hat auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen. Die Antragstellerin habe weder ärztliche Unterlagen aus Polen
zu ihrem Gesundheitszustand vorgelegt noch Angaben zu dortigen Pflegemöglichkeiten gemacht. Eine amtsärztliche Untersuchung
könne wegen der aktuellen Pandemie nicht erfolgen; eine Entscheidung nach Aktenlage sei mangels ärztlicher Unterlagen der
Antragstellerin nicht möglich. Auch ein Anordnungsgrund sei nicht ersichtlich, weil die Antragstellerin eine monatliche Rente
von 336,48 € erhalte und die Unterkunft bei ihrem Sohn gesichert sei.
Durch Beschluss vom 05.11.2020 hat das Sozialgericht Dortmund die Antragsgegnerin verpflichtet, der Antragstellerin für die
Zeit vom 01.10.2020 bis zum 31.01.2021 vorläufig Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII i.H.v. monatlich 283,99 € zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt. Für die Zeit bis zum 30.09.2020 fehle ein
Anordnungsanspruch, weil die Antragstellerin bis dahin auf Grund des Beschlusses vom 05.05.2020 (S 62 SO 120/20 ER) bereits
Leistungen erhalten habe. Für den anschließenden Zeitraum sei im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes keine abschließende
Beurteilung möglich, ob die Antragstellerin nach § 23 Abs. 3 SGB XII vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei. Ein Aufenthaltsrecht i.S.d. § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII bestehe nicht. Ein solches ergebe sich nicht aus § 2 Abs. 1, 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU; denn die Antragstellerin verfüge nicht über ausreichende Existenzmittel. Auch bestehe kein Aufenthaltsrecht gemäß § 3 Abs. 1 FreizügG/EU; denn die Antragstellerin sei wegen der deutschen Staatsbürgerschaft ihrer Kinder keine Familienangehörige eines Unionsbürgers.
Ob ein Aufenthaltsrecht aus § 27 Abs. 1 AufenthG bzw. § 36 Abs. 2 AufenthG folge, könne erst nach weiterer Sachverhaltsaufklärung beurteilt werden. Insbesondere müssten der Pflegebedarf der Antragstellerin
sowie die Möglichkeit einer Deckung des Betreuungsbedarfs im Heimatland näher aufgeklärt werden. Schließlich bleibe auch unklar,
ob ein Leistungsanspruch nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB XII ausgeschlossen sei. Im Wege einer Folgenabwägung seien indes Leistungen im tenorierten Umfang zuzusprechen; denn der Antragstellerin
drohten existenzielle Nachteile, die sie aus eigener Kraft nicht abwenden könne.
Hiergegen hat die Antragsgegnerin am 05.11.2020 Beschwerde eingelegt. Der Antragstellerin sei ein Abwarten der Entscheidung
in der Hauptsache sehr wohl zuzumuten. Denn sie habe schon keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Insbesondere habe
sie keinerlei ärztliche Befunde zu ihrem gesundheitlichen Zustand sowie zu der Frage vorgelegt, warum eine Unterbringung in
einer stationären Einrichtung in Polen nicht möglich sei. Deshalb sei auch nicht nachgewiesen, dass die Antragstellerin der
Pflege durch ihre Kinder in Deutschland bedürfe. Insbesondere sei unzutreffend, dass die Antragstellerin in Polen keine weiteren
Verwandten habe. So sei eine dortige Nichte im Besitz der Bankkarte der Antragstellerin, hebe dort deren Rente ab und überweise
sie nach Deutschland. Auf Grund der Verlustfeststellung nach dem FreizügG/EU durch Bescheid vom 08.06.2020 sei die Antragstellerin nach § 23 Abs. 3 SGB XII vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Ihr sei angesichts ihrer finanziellen Verhältnisse bereits bei Einreise nach Deutschland
bekannt gewesen, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst sicherstellen könne.
Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 05.11.2020 abzuändern und den Antrag abzulehnen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Entscheidung über einen Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt sei noch nicht bestandskräftig. Ihr Gesundheitszustand
sei durch das Attest des Dr. Q sowie durch die Erklärung ihres Sohnes belegt. Trotz entsprechender Anregung habe die Antragsgegnerin
sie bislang nicht amtsärztlich untersuchen lassen. Bis auf die in Deutschland lebenden Söhne habe sie keine Verwandten mehr.
Insbesondere sei der Kontakt zur Nichte in Polen nicht so eng, dass dort eine Betreuung gewährleistet wäre. Auf Grund der
aktuellen Pandemie sei eine Ausreise nach Polen ohnehin nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Keineswegs sei sie nach
Deutschland eingereist, um Sozialhilfe zu erlangen; Hauptzweck sei vielmehr die Sicherstellung ihrer Versorgung durch die
Söhne gewesen.
Eine am 05.01.2021 eingelegte Anschlussbeschwerde hat die Antragstellerin mit Schreiben vom 28.01.2021 für erledigt erklärt.
Die Antragsgegnerin hat erklärt, dass sie Leistungen im vom Sozialgericht tenorierten Umfang erbracht habe. Für Januar 2021
habe sie unter Berücksichtigung des ab 01.01.2021 geltenden Regelsatzes 297,99 € ausgezahlt, vorläufig (zur Vermeidung eines
weiteren gerichtlichen Eilverfahrens) ebenso für Februar 2021.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten, der
beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin, der Ausländerakten sowie der Akten des Verwaltungsgerichts Arnsberg
(Az. 3 L 551/20 und 3 K 1673/20). Der Inhalt ist Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin (§§
172,
173 SGG) ist nicht begründet.
1. Einstweilige Anordnungen sind nach §
86b Abs.
2 S. 2
SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt
grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung.
Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung
(Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 S. 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 ZPO). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung zu ermitteln. Können ohne Eilrechtsschutz
jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist
eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 Rn. 24 f.). Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange
der Antragsteller umfassend zu berücksichtigen hat (BVerfG a.a.O. Rn. 26).
2. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat das Sozialgericht im Ergebnis zu Recht die Antragsgegnerin zur vorläufigen Leistungserbringung
verpflichtet. Denn bei der gebotenen summarischen Prüfung liegen sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund
vor.
a) Der Antragstellerin steht nach summarischer Prüfung derzeit ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII zu (Anordnungsanspruch).
aa) Die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 19 Abs. 2, 41 ff. SGB XII sind erfüllt. Die 78-jährige Antragstellerin hat die Altersgrenze erreicht, hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und
kann ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen decken. Ihr einzig vorhandenes Einkommen ist
ihre polnische Rente von monatlich 1.256,50 Zloty (derzeit rund 276 €); diese deckt ihren grundsicherungsrechtlichen Bedarf
von monatlich 613,89 € bzw. 627,89 € (2020: 432,00 € Regelbedarf, bzw. 2021: 446,00 € Regelbedarf; jeweils zzgl. 181,89 €
Kosten für Unterkunft und Heizung) ersichtlich nicht ab.
bb) Dass die Antragstellerin aktuell gemäß § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII von Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII ausgeschlossen wäre, ist nicht überwiegend wahrscheinlich. Nach dieser Vorschrift erhalten Ausländer und ihre Familienangehörigen
u.a. dann keine Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII oder nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, wenn sie kein Aufenthaltsrecht haben oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (Nr. 2)
oder sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen (Nr. 4).
aaa) Dass die Antragstellerin i.S.d. § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII kein Aufenthaltsrecht in Deutschland hat, steht derzeit nicht mit hinreichender Sicherheit fest.
Ob einem Unionsbürger ein materielles Aufenthaltsrecht zusteht, beurteilt sich in erster Linie nach dem FreizügG/EU. Nach dessen § 7 sind Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht
auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. In dem Bescheid soll die Abschiebung angedroht und eine Ausreisefrist gesetzt werden.
Vom Fehlen eines Aufenthaltsrechts i.S.v. § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII ist erst bei Vorliegen einer vollziehbaren Entscheidung der Ausländerbehörde gemäß § 7 FreizügG/EU auszugehen (Siefert in jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020, § 23 Rn. 83). Allein das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine entsprechende Feststellung reicht deshalb nicht
aus.
Zwar hat die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 08.06.2020 festgestellt, dass für die Antragstellerin das
Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht mehr besteht (Verlustfeststellung). Sie hat auch zugleich die Abschiebung angedroht
und eine Frist zur Ausreise gesetzt. Hiergegen hat die Antragstellerin jedoch am 16.06.2020 vor dem Verwaltungsgericht Arnsberg
Klage erhoben (Az. 3 K 1673/20) und am 29.06.2020 einen Antrag auf einstweiligen Rechtschutz gemäß §
80 Abs.
5 VwGO gestellt.
Einer solchen Klage kommt grundsätzlich aufschiebende Wirkung zu (vgl. LSG Niedersachsen/Bremen, Beschluss vom 06.11.2017
- L 8 SO 262/17 B ER Rn. 28 f.) mit der Folge, dass eine materielle Ausreisepflicht bis zur rechtskräftigen Entscheidung über
die Verlustfeststellung nicht besteht (vgl. dazu auch Siefert, a.a.O.). Etwas anderes gilt auch nicht etwa deshalb, weil die
Ausländerbehörde gemäß §
80 Abs.
2 Nr.
4 VwGO die sofortige Vollziehung angeordnet hat. Denn nach § 7 Abs. 1 S. 4 FreizügG/EU darf, sofern ein Antrag nach §
80 Abs.
5 VwGO gestellt wird, die Abschiebung nicht erfolgen, bevor über den Antrag entschieden wurde. Die Regelung sieht damit eine Aussetzung
der Vollziehung kraft Gesetzes vor (Geyer in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 7 FreizügG/EU Rn. 7; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 7 FreizügG/EU Rn. 38). Das Verwaltungsgericht hat jedoch über den Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung
ihrer Klage gegen die Verlustfeststellung im Bescheid vom 08.06.2020 bislang nicht entschieden. Die Vollziehung der Verlustfeststellung
ist damit kraft Gesetzes ausgesetzt, bis eine Entscheidung im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren ergeht; jedenfalls bis
zu einer solchen Entscheidung besteht eine Ausreisepflicht der Antragstellerin gerade nicht.
Dementsprechend kann bis zu einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts die Verlustfeststellung von vornherein auch keine entsprechende
Tatbestandswirkung im Rahmen von § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII entfalten. Da der Verlust des Freizügigkeitsrechts der Antragstellerin einstweilen nicht bindend festgestellt ist, kann vielmehr
nicht angenommen werden, dass die Antragstellerin im Sinne der Vorschrift kein Aufenthaltsrecht habe. Ist sie derzeit auch
ausländerrechtlich nicht zu Ausreise verpflichtet, kann zugleich auch keine entsprechende sozialrechtliche Obliegenheit zur
Ausreise bestehen (vgl. Siefert a.a.O.). Ob der Antragstellerin endgültig ein (eigenes oder abgeleitetes) Freizügigkeitsrecht
nach dem FreizügG/EU oder nach dem AufenthG (i.V.m. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU) zukommen wird, kann der Senat im vorliegenden Verfahren offenlassen; dies wird vielmehr im verwaltungsgerichtlichen Verfahren
zu klären sein.
bbb) Nach derzeitigem Ermittlungsstand spricht zudem mehr dagegen als dafür, dass die Antragstellerin i.S.d. § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB XII in die Bundesrepublik eingereist ist, um Sozialhilfe zu erlangen. Für einen solchen Leistungsausschluss müsste die Antragstellerin
aus dem alleinigen bzw. ganz überwiegenden Motiv nach Deutschland eingereist sein, Sozialhilfe zu erlangen; der Wille, Sozialhilfeleistungen
zu beziehen, muss im Zeitpunkt der Einreise nicht nur vorhanden, sondern für den Einreiseentschluss prägend gewesen sein.
Wird ein Sozialhilfebezug hingegen nur beiläufig verfolgt oder anderen Einreisezwecken untergeordnet und in diesem Sinne (nur)
billigend in Kauf genommen, führt dies nicht zu einem Leistungsausschluss (Siefert a.a.O., Rn. 94).
Ein derartiger zielgerichteter Wille der Antragstellerin ist bisher jedenfalls nicht nachgewiesen. Die Antragstellerin trägt
vielmehr vor, vor allem deshalb eingereist zu sein, weil sie nicht mehr allein leben könne und der ständigen Pflege und Beaufsichtigung
durch ihre Kinder bedürfe. Ist dies angesichts ihres bisher ersichtlichen Gesundheitszustands sowie ihrer bisher ermittelten
familiären Anbindungen nach Polen jedenfalls plausibel, so müssen etwaige weitere Ermittlungen hierzu dem Hauptsacheverfahren
überlassen bleiben. Das allein vorgelegte Attest des Dr. Q sowie die Erklärung des Sohnes der Antragstellerin - bei der es
sich entgegen dem Vortrag ihres Bevollmächtigten im Übrigen nicht einmal um eine eidesstattliche Versicherung handelt - weisen
zwar eine Pflegebedürftigkeit in relevantem Umfang nicht mit hinreichender Gewissheit nach. Gleichwohl stellen sie gewichtige
Indizien dar; im Rahmen der im einstweiligen Rechtschutz nur möglichen, eingeschränkten Ermittlungsdichte erscheint es deshalb
zumindest überwiegend wahrscheinlich, dass vor allem der gesundheitliche Zustand der Antragstellerin zumindest auch für ihre
Einreise ausschlaggebend war. Insofern mag es daher nach derzeitigem Erkenntnisstand zwar zutreffen, dass ihr bereits bei
Einreise bewusst war, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht allein werde finanzieren können, sondern ergänzender staatlicher
Leistungen bedürfen werde. Dass ein solcher Leistungsbezug indes prägendes Motiv für die Einreise gewesen wäre, ist zumindest
derzeit nicht ersichtlich.
b) Besteht damit ein Anordnungsanspruch, so liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Denn die Antragstellerin kann mit ihrer monatlichen
Rente von umgerechnet rund 276 € nicht einmal ihren grundsicherungsrechtlichen Regelbedarf (2021: monatlich 446,00 €) decken.
Hinsichtlich der Unterkunftskosten sind nach bisherigem Vortrag zwar keine Mietrückstände entstanden. Ist jedoch ein Anordnungsanspruch
derzeit überwiegend wahrscheinlich (s.o. zu a), so kann es der Antragstellerin nicht zugemutet werden, die ungedeckten Wohnungskosten
bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache dauerhaft aus ihrem Regelbedarf (bzw. aus Mittel ihres derzeit auf Leistungen
nach dem SGB II angewiesenen Sohnes) zu decken.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
4. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).