Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII
EU-Ausländer
Verfestigter Aufenthalt
1. Das BSG hat bekräftigt, dass sowohl für Arbeitsuchende, als auch für Personen, die in Ermangelung von Erfolgsaussichten bei der Arbeitssuche
nicht über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügen, zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen sind, wenn
ein verfestigter Aufenthalt (über sechs Monate) vorliegt.
2. Damit haben die zuständigen Senate des höchsten deutschen Sozialgerichts, im Übrigen in Abstimmung mit dem für das Recht
der Sozialhilfe zuständigen 8. Senat, nachhaltig ihre Rechtsmeinung zur Anwendung und Auslegung des § 21 SGB XII und ebenso zu § 23 Abs. 3 und § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII dargelegt.
3. Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, gerade in einem von der Vorläufigkeit geprägten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes,
in dem es um existenzsichernde Leistungen geht, Rechtsschutz zu verweigern.
4. Dabei verkennt der Senat durchaus nicht, dass es mittlerweile in der obergerichtlichen Rechtsprechung Entscheidungen gibt,
die mit beachtlichen Gründen im Widerspruch zu den genannten Entscheidungen des BSG stehen.
Gründe
I.
Die im Jahre 1968 geborene Antragstellerin ist italienische Staatsangehörige. Sie ist geschieden. Ihre beiden 1988 und 1999
geborenen Töchter leben nach wie vor in Italien. Anfang 2015 reiste sie nach Deutschland ein und schloss am 3.1.2015 einen
Untermietvertrag für Wohnräume, nach dem sie zur Zahlung einer pauschalen Monatsmiete inklusive Heizung-Wasser von 150 EUR
verpflichtet ist. In der Zeit vom 15. 3. bis 31.5.2015 arbeitete sie in einer Pizzeria, im Anschluss daran bezog sie bis zum
30.11.2015 Leistungen nach dem SGB II. Das Jobcenter lehnte den Folgeantrag mit Bescheid vom 3.11.2015 ab. Nach ihren eigenen Angaben ist sie Analphabetin, spricht
kein Deutsch und verfügt weder über Einkommen noch Vermögen.
Den Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII lehnte die Antragsgegnerin ab (Bescheid vom 12.2.2016). Auf den am 22.2.2016 gestellten Antrag auf Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes verpflichtete das Sozialgericht die Antragsgegnerin mit dem angefochtenen Beschluss zur vorläufigen Zahlung
von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in Form des Regelsatzes längstens bis zum 31. 8. 2016. Zur Begründung seiner Entscheidung stützte sich das Sozialgericht
im wesentlichen auf ein grundlegendes Urteil des BSG vom 3.12.2015 (B 4 AS 44/15 R), wonach sowohl Arbeitssuchenden als auch Personen, die in Ermangelung von Erfolgsaussichten bei der Arbeitssuche nicht
über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügten, zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen seien, wenn
wie auch hier ein verfestigter Aufenthalt von über sechs Monaten vorliege. Die Verpflichtung der Antragsgegnerin auf Zahlung
auch der Unterkunftskosten lehnte das Sozialgericht ab, da der Antragstellerin unmittelbar kein Verlust der Unterkunft drohe.
Es sei bislang noch keine Kündigung schriftlich ausgesprochen worden.
Die Antragsgegnerin hat gegen diesen Beschluss am 11.4.2016 Beschwerde eingelegt. Sie vertritt nach wie vor die Auffassung,
dass ein Leistungsanspruch gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen sei. Dies habe den Ausschluss einer Leistungsgewährung nach dem SGB XII zur Folge. Die abweichende Auffassung des Bundessozialgerichts widerspreche dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers.
Die Antragstellerin verteidigt den angefochtenen Beschluss und hat am 10.5.2016 zusätzlich Anschlussbeschwerde eingelegt mit
dem Ziel einer Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung der Kosten für Unterkunft und Heizung. Die Vermieterin habe am
1.4.2016 die fristlose Kündigung des Mietverhältnisses ausgesprochen aufgrund des bestehenden Mietrückstandes. Damit sei die
Wohnung der Antragstellerin akut gefährdet.
II.
Beschwerde und Anschlussbeschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts sind zulässig, aber nicht begründet.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung
setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird,
sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die
Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind
glaubhaft zu machen (§
86 Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Bestehens von Anordnungsanspruch und
Anordnungsgrund, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht
zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am Wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände
besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. BSG, Beschl. v. 07.04.2011 - B 9 VG 15/10 B - juris Rn. 6; Senat, Beschl. v. 23.07.2013 - L 9 SO 225/13 B ER, L 9 SO 226/13 B - juris Rn. 8). Allerdings ergeben sich
aus Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz (
GG) und Art.
1 Abs.
1 i.V.m. Art.
20 Abs.
1 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn die Gewährung existenzsichernder Leistungen im Streit
steht. Aus Art.
19 Abs.
4 GG folgen dabei Vorgaben für den Prüfungsmaßstab. Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit
ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes
zu erfolgen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 06.08.2014 - 1 BvR 1453/12 - juris Rn. 10, 12).
1. Anhand dieses Maßstabs ist die Entscheidung des Sozialgerichts nicht zu beanstanden. Das Sozialgericht hat unter Anwendung
der relevanten Rechtsgrundlagen und insbesondere einer Würdigung der zu diesem Fragenkreis ergangenen höchstrichterlichen
Rechtsprechung zutreffend den Anspruch der Antragstellerin auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in Höhe des Regelsatzes bejaht. Den diesbezüglichen Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Prüfung der Sach- und
Rechtslage vollinhaltlich an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf sie Bezug (§
142 Abs.
2 S. 3
SGG).
Ergänzend weist der Senat auf folgendes hin: Das BSG hat nicht nur mit dem genannten Urteil, sondern darüber hinaus mit weiteren Entscheidungen vom 3.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 44/15 R), vom 16.12.2015 (B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R), vom 20.1.2016 (B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R), vom 17.2.2016 (B 4 AS 24/14 R) sowie vom 17.3.2016 (B 4 AS 32/15 R) bekräftigt, dass sowohl für Arbeitsuchende, als auch für Personen, die in Ermangelung von Erfolgsaussichten bei der Arbeitssuche
nicht über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügen, zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen sind, wenn
ein verfestigter Aufenthalt (über sechs Monate) vorliegt. Damit haben die für die Entscheidung der hier maßgeblichen Rechtsfrage
zuständigen Senate des höchsten deutschen Sozialgerichts im Übrigen in Abstimmung mit dem für das Recht der Sozialhilfe zuständigen
8. Senat nachhaltig ihre Rechtsmeinung zur Anwendung und Auslegung des § 21 SGB XII und ebenso zu § 23 Abs. 3 und § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII dargelegt. Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, gerade in einem von der Vorläufigkeit geprägten Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes, in dem es um existenzsichernde Leistungen geht, der Antragstellerin hier diesen Rechtsschutz zu verweigern.
Dabei verkennt der Senat durchaus nicht, dass es mittlerweile in der obergerichtlichen Rechtsprechung Entscheidungen gibt,
die mit beachtlichen Gründen im Widerspruch zu den genannten Entscheidungen des BSG stehen (vergleiche u.a. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.1.2016 - L 29 AS 20/16 B ER; LSG Rheinland- Pfalz, Beschluss vom 11.2.2016 - L 3 AS 668/15 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.2.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7.3.2016 - L 12 SO 79/16 B ER; aA aber LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom
24.3.2016, L 19 AS 289/16 B ER). Gerade im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist es allerdings nicht vertretbar, den Anspruch zu verneinen,
der im Hauptsacheverfahren letztinstanzlich nach jetzigen Rechtsstand erfolgreich erstritten werden dürfte. Darüber hinaus
gebietet es auch der Gesichtspunkt der Folgenabwägung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, in einer derartigen Situation
existenzsichernde Leistungen zuzusprechen (ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.3.2016 - L 7 AS 354/16 B ER; Beschluss vom 23.5.2016 - L 20 SO 139/16 B ER). Letztlich ist die Antragsgegnerin darauf zu verweisen, dass sie von
der rechtlichen Möglichkeit der Verlustfeststellung Gebrauch machen kann, mit der durch die Ausländer- behörde der Verlust
der Freizügigkeitsberechtigung durch Verwaltungsakt festgestellt werden kann, womit dann wiederum der hier den Anspruch letztlich
tragenden Aufenthaltsverfestigung entgegengewirkt wird.
2. Die von der Antragstellerin gegen den ihr am 22.3.2016 zugestellten Beschluss erhobene unselbstständige Anschlussbeschwerde
vom 10.5. 2016 ist zulässig, aber nicht begründet. Der Senat lässt Zweifel an der Ernsthaftigkeit von Untermietvertrag vom
3.1.2015 und fristloser Kündigung durch Schreiben der Hauseigentümerin und Vermieterin vom 1.4.2016 hier auf sich beruhen.
So hat die Antragstellerin vorgetragen, das ganze Jahr 2015 bereits keine Miete gezahlt zu haben, was angesichts der Bewilligung
von Leistungen durch das Jobcenter so nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist. Auch erschließt sich nicht, warum die Hauseigentümerin,
die im Übrigen unter anderen auch als Dolmetscherin für die Antragstellerin fungiert, nunmehr nach entsprechenden Darlegungen
des Sozialgerichts die Kündigung ausspricht, wenn die Antragstellerin schon über einen Zeitraum von mehr als 16 Monaten offenbar
kostenfrei bei ihr in der Wohnung gelebt hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats liegt unabhängig davon nämlich
ein Anordnungsgrund in einem auf die Gewährung von Leistungen für die Unterkunft gerichteten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
erst dann vor, wenn eine Räumungsklage anhängig ist und die Antragstellerin deshalb konkret von der Wohnungslosigkeit bedroht
ist. Der hiervon abweichenden Rechtsprechung des 6. und 7. Senats folgt der Senat nicht (vgl. die Beschlüsse des Senats vom
20.9.2012, L 9 SO 333/12 B ER, juris, Rn. 2 mwN und vom 7.8.2013 - L 9 SO 307/13 B ER, L 9 SO 308/13 B -, juris, Rn. 25; zuletzt
Beschluss vom 3.5.2016 - L 9 SO 130/16 B ER).
3. Der im erstinstanzlichen Verfahren obsiegenden Antragstellerin war für das Beschwerde- verfahren Prozesskostenhilfe zu
bewilligen (§
73a SGG i.V.m. §
119 Abs.
1 Satz 2
ZPO).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG und berücksichtigt, dass die Antragstellerin letztlich auch im Beschwerdeverfahren mit dem von ihr mit der Anschlussbeschwerde
verfolgten Begehren keinen Erfolg gehabt hat.
Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar, §
177 SGG.