Glaubhaftigkeitsgutachten; Zu den Anforderungen an die Glaubhaftigkeitsbegutachten im Sozialen Entschädigungsrecht
Tatbestand
Die im Jahr 1974 geborene Klägerin beantragte im März 2009 die Gewährung von Versorgung nach dem
OEG. Sie gab an, sie sei von ihrem 6. bis zum 16. Lebensjahr von ihrem Stiefvater M B B sexuell missbraucht und geschlagen worden.
Daher beständen bei ihr eine emotionale instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline), Angststörung, Angst vor Männern, die
wie ihr Stiefvater aussehen würden, Essstörung und Depressionen.
Der Beklagte zog die Unterlagen eines Schwerbehindertenverfahrens der Klägerin bei. Nach dem Schwerbehindertenrecht ist durch
Bescheid des Amts für soziale Angelegenheiten Koblenz vom 15.08.2005 ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 wegen einer seelischen
Behinderung (GdB 40) und degenerativer Wirbelsäulenveränderung (GdB 10) festgestellt. Sodann zog der Beklagte Unterlagen eines
Rentenverfahrens von der Deutschen Rentenversicherung Bund bei, holte Auskünfte der Mutter der Klägerin sowie einer ehemaligen
Lehrerin, Frau E R , ein. Die Mutter der Klägerin, S B , teilt mit, sie bestätige den Missbrauch ihrer Tochter durch ihren
geschiedenen Mann, B B . Direkte Einzelheiten könne sie aber nicht nennen, da er es immer in ihrer Abwesenheit getan haben
müsse. Details könne daher nur die Klägerin schildern. Frau R teilte mit, die Klägerin habe ihr während der Schulzeit erzählt,
sie habe Angst vor ihrem Stiefvater. Erst Jahre später habe die Klägerin sich ihr offenbart. Ein Ermittlungsverfahren gegen
den Schädiger wurde durch Verfügung der Staatsanwaltschaft Dresden nach §
170 Abs.
2 StPO eingestellt, da die Taten verjährt seien.
Mit Bescheid vom 20.10.2012 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Die von der Klägerin geschilderten Gewalttaten
hätten sich zwischen 1980 bis 1990 ereignet, so dass §
10a OEG anzuwenden sei. Trotz umfangreicher Sachaufklärung habe der Nachweis nicht erbracht werden können, dass die Klägerin Opfer
eines sexuellen Missbrauchs geworden sei. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.02.2011 zurück.
Im vor dem Sozialgericht Koblenz durchgeführten Klageverfahren hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung eines
Gutachtens des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H . Der Sachverständige hat die Klägerin im Oktober 2011 untersucht
und ist im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin beständen eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig
leichte Episode, komplexe posttraumatische Belastungsstörung mit traumaassoziierter Borderline-Persönlichkeitsstörung und
sonstige somatoforme Störung. Es bestehe eine Identitätsstörung mit einer andauernden und ausgeprägten Instabilität des Selbstbildes.
Der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung lägen nicht nur lange Zeit einwirkende Traumatisierungen, sondern auch ein
Beziehungstrauma zugrunde. Die posttraumatische Belastungsstörung mit den dazu gehörigen traumaassoziierten Störungen sei
wahrscheinlich auf den im Zeitraum 1979 bis 1990 erfolgten sexuellen Missbrauch zurückzuführen. Die Krankheitsbilder führten
zu einer mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeit, da es zwar eheliche Probleme gebe, nicht jedoch Kontaktverlust oder
affektive Nivellierung oder Isolierung oder sozialen Rückzug. Die Gesundheitsstörung sei mit einem GdS von 40 zu bewerten.
Mit Gerichtsbescheid vom 11.04.2013 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt,
der Klägerin stehe kein Anspruch auf Leistungen nach dem
OEG zu. Es sei in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Dr. H davon auszugehen, dass ein sexueller Missbrauch an der Klägerin
zumindest glaubhaft sei. Das könne allerdings dahinstehen. Nach den überzeugenden Darstellungen des Dr. H sei der GdS für
die Folgen der Gewalttat mit 40 anzuerkennen. Dies sei überzeugend. Die Klägerin leide an einer depressiven Störung, die im
Wesentlichen auf schädigungsunabhängige Faktoren zurückzuführen sei, etwa die Eheproblematik und die finanzielle Situation.
Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung bedinge isoliert einen GdS von 40. Ein GdS von 50, wie er nach §
10a Abs.
1 S. 2
OEG im Fall der Härteversorgung erforderlich sei, werde nicht erreicht.
Am 22.04.2013 hat die Klägerin gegen den ihr am 15.04.2013 zugestellten Gerichtsbescheid Berufung eingelegt.
Die Klägerin trägt vor,
für die komplexe posttraumatische Belastungsstörung sei ein GdS von mindestens 50 gerechtfertigt. Es bestehe eine Einschränkung
der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, die mit einer Zwangskrankheit vergleichbar sei. Die rezidivierende Depression sei
mittelgradig bis schwer, wie sich auch aus der bisherigen Behandlungsdauer mit stationärer Behandlungsbedürftigkeit zeige.
Im Mittelpunkt stehe nicht ein reaktives Geschehen aufgrund der ehelichen Situation, sondern die Lebens- und Missbrauchsgeschichte.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Koblenz vom 11.04.2013 sowie den Bescheid des Beklagten vom 10.10.2010 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 07.02.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, als Schädigungsfolgen nach dem
OEG eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung mit einem GdS von mindestens 50 anzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen
und nimmt zur Begründung Bezug auf den angefochtenen Gerichtsbescheid.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Befundberichts der Psychiatrischen Institutsambulanz K sowie eines Gutachtens
des Arztes für Psychiatrie und Neurologie, Forensische Psychiatrie Dr. B nebst aussagepsychologischem Gutachten der Dipl.
Psych. B D .
Dr. B hat die Klägerin im Januar und Februar 2014 untersucht und ist in seinem Gutachten im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt,
aktuell bestehe bei der Klägerin eine Dysthymia, eine depressive Stimmungslage ohne Konzentrationsstörungen. Eine Depression
im Sinne einer Major Depression sei nicht aufweisbar, ebenso keine schwere depressive Störung oder eine rezidivierende depressive
Störung. Es beständen bei der Klägerin dissoziative Probleme und histrionische Elemente, wobei noch nicht die Qualität einer
Persönlichkeitsstörung im Sinne einer histrionischen Persönlichkeitsstörung erreicht werde. Ob oder wieweit eine posttraumatische
Belastungsstörung bestehe, könne erst nach Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens beantwortet werden.
Dem Gutachten des Dr. H könne nicht gefolgt werden, da sich Dr. H auf ältere aussagepsychologische Literatur stütze, die mittlerweile
methodisch für forensische Beurteilungen in keiner Weise mehr als haltbar anzusehen sei. Die Begründung dafür liege darin,
dass nach diesem Ansatz gleichsam die fragmentierten Erinnerungen vollkommen ungeprüft schlussendlich zusammengesetzt würden
mit der Konsequenz, dass ohne Erwägung alternativer Hypothesen oder ohne Erwägung anderer Möglichkeiten für die Aussageentstehung
dies ungeprüft als hochspezifisches Kriterium für einen sexuellen Missbrauch oder Erlebnistrauma angewandt werde. Dr. H habe
in keiner Weise Aspekte wie mögliche Fremdbeeinflussungen, Autosuggestionen oder sonstige Wahrnehmungen beachtet. Er sei vollkommen
unwissenschaftlich, d. h. intuitiv ohne alternative Erklärungsmöglichkeiten vorgegangen und habe auch nicht dargelegt, dass
gerade Probanden mit einer Borderline-Störung dazu tendieren könnten, einen nicht erlebten sexuellen Missbrauch zu schildern.
Dr. H habe keine Validitätsprüfung im Rahmen einer Sozialanalyse vorgenommen. Auch die Suggestionshypothese sei unberücksichtigt
geblieben. Die in der Literatur verwendeten Merkmale im Rahmen einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung habe Dr. H in keiner Weise
ausgelotet.
Frau D hat die Klägerin im August 2014 untersucht und in ihrem Gutachten zusammenfassend ausgeführt, eine spezielle tatbezogene
Aussagetüchtigkeit sei bei der Klägerin noch gewährleistet. Die Aussagestruktur erscheine bei den Angaben zur Sache aus aussagepsychologischer
Sicht überdetailliert, erwartbare Gedächtnisunsicherheiten oder -lücken seien so gut wie nicht zu erkennen. Die Analyse der
Aussagezuverlässigkeit fördere interne, in der Persönlichkeit, im Erleben und Verhalten der Klägerin gelegene Fehlerquellen
zu Tage, wie eine Empfänglichkeit für Suggestionen und Autosuggestionen, ein mit auf demonstrative Tendenzen ausgerichteter
Interaktions- und Kommunikationsstil, ein magisch-mystischer Wahrnehmungs- und Kognitionsmodus. Zudem hätten sich Hinweise
auf manipulative Tendenzen ergeben; weder Simulation noch Aggravation oder Dissimulation ließen sich ausschließen. Die Aussagezuverlässigkeit
scheine beeinträchtigt. Aus der Analyse des Erinnerungsverlaufs, der Aussageentstehung und der weiteren Aussageentwicklung
würden sich Hinweise auf externe Störfaktoren ergeben, die ebenfalls auf die nicht ausreichend gewährleistete Zuverlässigkeit
der Bekundungen verweisen würden. Die in ihrem Umfang kontinuierlich zunehmenden "Erinnerungen" an die dargelegten sexuellen
missbräuchlichen Handlungen in der Kindheit seien zum überwiegenden Teil auf nach Angaben der Klägerin wiederentdeckte Erinnerungen
im Zusammenhang mit therapeutischen Gesprächen, Maltherapie, Flashbacks sowie Albträume zurückzuführen. Es fänden sich hier
Hinweise auf die Wirksamkeit einer Quellenkonfusionsproblematik, wobei Inhalte von Flashbacks und Albtrauminhalte für eine
Eins-zu-Eins-Abbildung der Realität gehalten würden, was wissenschaftlich in keiner Weise gedeckt erscheine. Eine Glaubhaftigkeit
der Bekundungen der Klägerin könne mit aussagepsychologischen Mitteln nicht positiv belegt werden. Es könne mit aussagepsychologischen
Mitteln nicht festgestellt werden, dass die Möglichkeit der Erlebnisfundierung des Vorgetragenen im Vergleich zu den im Gutachten
genannten Alternativhypothesen relativ am wahrscheinlichsten sei.
Im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen und die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten
sowie der Gerichtsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet, da der Klägerin kein Anspruch auf Anerkennung einer Gesundheitsstörung
als Folge einer Gewalttag und Gewährung von Versorgung nach dem
OEG zusteht.
Voraussetzung für die Anerkennung von Schädigungsfolgen gemäß §
1 OEG ist, dass die Klägerin an Gesundheitsstörungen leidet, die rechtlich wesentlich durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen,
tätlichen Angriff verursacht worden sind. Dies setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. SozR 3-3800 §
1 Nr. 23) eine unmittelbare Schädigung des Opfers voraus, was grundsätzlich einen engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang
zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung ohne örtliche und zeitliche Zwischenglieder voraussetzt.
Als Schädigungsfolgen sind dabei nur solche nachgewiesenen Gesundheitsstörungen anzuerkennen, die wenigstens mit Wahrscheinlichkeit
durch das schädigende Ereignis verursacht worden sind. Wahrscheinlichkeit in dem genannten Sinn liegt vor, wenn nach geltender
medizinischer Lehrmeinung mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht. Ursache einer Gesundheitsstörung sind in
dem hier erheblichen Sinn diejenigen Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich
mitgewirkt haben. Haben zu dem Eintritt einer Gesundheitsstörung mehrere Bedingungen beigetragen, so sind nur diejenigen Ursache
im Rechtssinn, die von ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Schadens wenigstens den anderen Bedingungen gleichwertig
sind. Kommt dagegen einem der Umstände gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist er allein Ursache im Rechtssinn
(Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung, vgl. Rohr/Strässer/Dahm, Kommentar zum BVG, Anm. 10 zu § 1). Bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs ist die Wahrscheinlichkeit nach der herrschenden wissenschaftlichen medizinischen
Lehrmeinung zu ermitteln. Als Grundlage für die Beurteilung der erheblichen medizinischen Sachverhalte dienten der Praxis
die jeweils vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht", die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als vorweggenommene
Sachverständigengutachten eine normähnliche Wirkung hatten (vgl. BSG, SozR 4-3800, § 1 Nr. 3 Rdnr. 12, m.w.N.). Auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) erlassen. Nach ihrem § 1 regelt diese unter anderem die Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung ihres
Schweregrades im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG. Nach § 2 VersMedV sind die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien in der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" festgelegt. Die in den Anhaltspunkten
(letzte Ausgabe von 2008) enthaltenen Texte und Tabellen, nach denen sich die Bewertung des GdB bzw. GdS bisher richtete,
sind in diese Anlage übernommen worden (vgl. die Begründung BR-Drucks. 767/08, S. 3 f.). Anders als die Anhaltspunkte 1983
bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern, so dass insoweit entweder auf die letzte
Fassung der Anhaltspunkte (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand
der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten, genutzt
werden müssen (BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R -, [...]; Urteil des Senats vom 12.12.2012, Az.: L 4 VG 5/10).
Die anspruchsbegründenden Voraussetzungen für eine soziale Entschädigung nach dem
OEG, zu denen das Vorliegen eines rechtswidrigen Angriffs zählt, müssen nachgewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Mensch hieran noch zweifelt
(vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R m.w.N., in SozR 3-3900 § 15 Nr. 3). Fehlt es daran, geht dies zu Lasten der Klägerin (objektive Beweis- oder Feststellungslast).
Die im Verfahren nach dem
OEG häufig auftretenden Beweisschwierigkeiten rechtfertigen keine generelle Beweiserleichterung oder gar eine Beweislastumkehr.
Vielmehr gelten auch hier die allgemein anerkannten Beweisgrundsätze. Zu diesen zählen freilich auch die Grundsätze des Beweises
des ersten Anscheins sowie die für Kriegsopfer geschaffene besondere Beweiserleichterung nach § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren
der Kriegsopferversorgung - KOV-VfG -, die auch für Gewaltopfer gilt (BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R; Urteil des Senats vom 18.05.2011, Az.: L 4 VG 14/09 mwN)
Die von der Klägerin geschilderten Gewalttaten sind nicht nachgewiesen, da keinerlei Beweismittel vorliegen, die die Angaben
der Klägerin stützen. Die Mutter der Klägerin hat ebenso wie die ehemalige Lehrerin der Klägerin aus eigenem Wissen keine
Angaben zu den behaupteten Gewalttaten tätigen können, wie sich aus den schriftlichen Stellungnahmen im Verwaltungsverfahren
ergibt. Weitere Zeugen können hierzu nicht befragt werden, da der Schädiger und die Schwester der Klägerin insoweit Angaben
nicht gemacht haben.
Schließlich geht der Senat davon aus, dass allein aus den bei der Klägerin gestellten Diagnosen keine Ableitungen auf das
Vorliegen einer sexuellen Missbrauchserfahrung in der Kindheit möglich sind. Es mag zwar sein, dass ein sexueller Missbrauch
als Kind in einer großen Anzahl von Fällen zu speziellen psychischen Erkrankungen führt. Die Wahrscheinlichkeit hinsichtlich
des Kausalzusammenhangs vermag jedoch nicht die Notwendigkeit einer vollen richterlichen Überzeugung von der Erfüllung des
objektiven Tatbestandsmerkmals "eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs" gerade im Falle der Klägerin zu ersetzen.
Denn es gibt auch Fälle von emotionalen Störungen bzw. Bindungsstörungen im Kindesalter sowie Entwicklungsstörungen, die nicht
mit einem sexuellen Missbrauch in Zusammenhang stehen. Allein die Möglichkeit, dass ein frühkindlicher Missbrauch zu derartigen
Krankheitsbildern und Verhaltensweisen wie bei der Klägerin führen kann, reicht nicht aus, den Beweis als geführt anzusehen,
der angeschuldigte Angriff habe so tatsächlich stattgefunden (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 05.06.2008, Az. L 13 VG 1/05; Urteil vom 29.01.2015 - L 10 VE 28/11 -, Rn. 33, [...]), wie auch die vom Senat gehörte Sachverständige überzeigend dargelegt
hat.
Das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch den Stiefvater der Klägerin lässt sich auch nicht unter Zugrundelegung
der Beweiserleichterung nach §
6 Abs.
3 OEG i.V.m. § 15 KOV-VfG annehmen. Nach § 15 S. 1 KOV-VfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen
beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden
des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft
erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S. 1 KOV-VfG ist auch anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen
vorhanden sind (vgl. BSG, SozR 1500 § 128 Nr. 39 S 46). Dabei genügt es, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon
relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit sprich (BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R -, [...])
Die Behauptung der Klägerin, sie sei in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden, ist für den Senat jedoch nicht glaubhaft.
Er stützt sich dabei insbesondere auf das von ihm veranlasste Gutachten der Sachverständigen Dr. B und Frau D . Den Maßgaben
in dem Urteil des BSG vom 17.04.2013 (Az. B 9 V 3/12 R) folgend hat der Senat Beweis erhoben auch durch Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens über die Klägerin unter besonderer
Berücksichtigung von § 15 KOV-VfG durch diese Sachverständigen.
Danach ist vor dem Hintergrund des besonders großen Zeitfensters davon auszugehen, dass auch natürliche Erinnerungsverluste
anzunehmen sind. Aus gedächtnispsychologischer Sicht wäre zu erwarten, dass bei derart lang zurückliegenden Vorfällen im normalen
Umfang Vergessensprozesse am Werk gewesen sein dürften, aus gedächtnispsychologischer Sicht wäre zu erwarten, dass die wesentlichen,
das Kerngeschehen bestimmenden Handlungselemente sowie auch die damit einhergehenden Affekte erinnerlich sein dürften, auch
vor dem Hintergrund der guten Begabungsstruktur der Klägerin, dass aber im Hinblick auf Details, die im Sinne der differenzierten
Konstanz zu Inhalten gehören, welche auch von erlebnisbasiert Aussagenden leichter vergessen werden, Erinnerungsunsicherheiten
oder -lücken auftreten. Denn insoweit sind auch die das Verfahren betreffenden großen Zeiträume zu berücksichtigen: zwischen
dem angegebenem Beginn der sexualbezogenen Handlungen im sechsten Lebensjahr und den dokumentierten Aussagen im Rahmen dieses
Verfahrens, insbesondere auch der aussagepsychologischen Begutachtung, liegen 34 bis 35 Jahre. Es wäre somit eine Aussage
zu erwarten, welche auch Lücken und Unsicherheiten aufweist, was Rahmengeschehnisse anbetrifft, was verbale Interaktionen
anbetrifft, was die Zuordnung von Nebenhandlungen zu Haupthandlungen anbetrifft, z.B. was Datierungen anbetrifft.
Dagegen erscheinen Aussagen der Klägerin überdetailliert. Einerseits macht sie sehr genaue Angaben, auch zu Körperpositionen,
zum Ablauf von Teilhandlungen und Haupthandlungen, zu verbalen Interaktionen und benennt kaum Erinnerungsunsicherheiten oder
Lücken, was allerdings vorwiegend ein Ereignis mit ihrem roten Nachthemd betrifft. Anderseits wäre vor dem Hintergrund der
großen Zeitfenster aus gedächtnispsychologischer Sicht nicht erwartbar, dass eine Aussage eine solche Konkretheit und Detaillierung
aufweist und dass es so gut wie keine Hinweise auf Erinnerungsunsicherheiten und Erinnerungslücken im Bericht der Klägerin
gibt. Auf der anderen Seite gibt die Klägerin in der biografischen Anamnese an, an ihre Biografie wenige Erinnerungen zu haben.
In manchen Bereichen habe sie Lücken, anderes könne sie erinnern. Sehr wenig könne sie sich an die Zeit vor der Einschulung
erinnern. Dann sei sie in der Unterstufe gewesen, Klasse 1 bis 4. An die Zeit der Unterstufe könne sie sich sehr wenig erinnern,
mehr an die Zeit der Oberstufe, vom fünften bis zum zehnten Schuljahr. Diese entspricht nach den überzeugenden Darlegungen
der Sachverständigen auch weitgehend dem Erwartbaren, denn aus gedächtnispsychologischer Sicht erscheint es nachvollziehbar,
dass sie an Ereignisse vor 1978, der Zeit des Zusammenlebens mit dem leiblichen Vater, der Kindergartenzeit, kaum Erinnerungen
hat und dass die Erinnerungen mit dem Lebensalter ansteigen, so dass sie für die Zeit der Oberstufe mehr Erinnerungen zur
Verfügung hat. Vor dem Hintergrund dieser Untersuchungsergebnisse ist aus aussagepsychologischer Sicht von einer leistungsbedingt
intakten allgemeinen und insbesondere vor dem Hintergrund der das Verfahren betreffenden sehr großen Zeitfenster von einer
noch ausreichenden speziellen, tatzeitbezogenen Aussagetüchtigkeit auszugehen, was auch Dr. B angenommen hat, während die
Aussage zur Sache aus aussagepsychologischer Sicht mit ihrer Überdetaillierung dabei nicht dem im Hinblick auf die spezielle,
tatzeitbezogene Aussagetüchtigkeit Erwarteten entspricht.
Hinsichtlich der Aussagezuverlässigkeit ist nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, die Frau D dargelegt hat, zu beachten,
dass wenn falsche Kindheitserinnerungen konstruiert werden, es neben autosuggestiven Prozessen häufig äußere Einflüsse sind;
oft seien an der Genese von komplexen autobiografischen Scheinerinnerungen heterosuggestive Anregungen oder Verstärkungen
durch Dritte beteiligt, beispielsweise im Rahmen einer Therapie. Dabei gehe es auch um die Aufnahmebereitschaft für vermeintliche
Ursachenerklärungen. Deutungsangebote in Psychotherapien stellen dabei die aktive Komponente der Suggestion dar. Insoweit
fällt auf, dass die Klägerin erstmals einen sexuellen Missbrauch erwähnt hat, als sie 1994 von der Gynäkologin Frau Dr. G
behandelt worden ist, die den Verdacht des sexuellen Missbrauchs geäußert und den die Klägerin bestätigt habe, ohne Weiteres
dazu zu sagen. Therapien hat sich die Klägerin in der Vergangenheit zahlreich unterzogen, wobei sich insbesondere aus dem
psychologischen Bericht der Frau Dipl. Psych. d l R vom 21.05.2005 ergibt, dass die kindlichen Verhaltensmuster der Klägerin
"in einer geleiteten Reflexion" als Schutzmechanismen erklärt wurden aufgrund von Erlebnissen in der Kindheit wie Herabsetzung,
Demütigung bis zum sexuellen Missbrauch. Erst in der Folgezeit finden sich Angaben der Klägerin in Arztbriefen, wonach die
Klägerin sich nun an sexuelle Übergriffe durch den Stiefvater erinnerte.
Betrachtet man nun die Art und Weise, wie die "Erinnerungen" der Klägerin entstanden sind, so ist der Erinnerungsverlauf dadurch
charakterisiert, dass die Erinnerungen kontinuierlich zugenommen haben und, so wie die Klägerin der Sachverständigen D mitgeteilt
hat, auch immer noch mehr würden. Ausgelöst worden seien neue "Erinnerungen" unter anderem durch Außenreize sowie Gerüche,
dann durch therapeutische Gespräche und durch Albträume. Allerdings besteht bei der Klägerin eine hohe Autosuggestibilität.
Dabei besteht das Bedürfnis, die massiven psychischen und körperlichen Beschwerden, welche über die Jahre hinweg aufgetreten
sind, erklären zu können. Über die Missbräuche hat die Klägerin nach ihren Angaben das erste Mal im April 1996 erzählt, die
Sache mit dem roten Nachthemd, aber nicht genau alle Einzelheiten, da sie zurzeit einiges davon verdrängt und vergessen gehabt
habe; nur durch Flashbacks seien die Erinnerungen daran wieder zum Vorschein gekommen. Ein direkter Rückschluss von Trauminhalten
auf eine tatsächlich erlebte Realität ist aber nach den überzeugenden Erläuterungen der Sachverständigen unter aussagepsychologischen
Aspekten nicht zulässig, da dieser an mindestens drei nicht erfüllte Voraussetzungen geknüpft ist: Zum einen ist keineswegs
gesichert, dass Träume immer auch tatsächlich Erfahrenes darstellen, sie können auch Wünsche, Ängste oder anderweitige Vorstellungen
repräsentieren. Zum anderen bestünde, selbst wenn diese erste Voraussetzung erfüllt wäre, keine Gewähr dafür, dass diese Erfahrungen
in ihrem tatsächlichen Ablauf und nicht in verzerrter oder bearbeiteter Form geträumt werden. Darüber hinaus ist der Transfer
von einer im Traum vorgenommenen Personenzuordnung auf die Realitätsebene nicht zwangsläufig gegeben. Es gibt keine empirischen
und nur sehr wenige klinische Anzeichen dafür, dass bestimmte traumatische Erfahrungen unverändert in den Trauminhalt übergehen.
Deshalb ist die Vorstellung, dass ein Traum mit einem traumatischen Erlebnis identisch oder isomorph sein kann, aus wissenschaftlicher
Sicht höchst fragwürdig. Der von der Klägerin geschilderte Prozess (Traumwirklichkeit als Ausgangspunkt für weitere Erinnerungen)
begünstigt im Gegenteil gerade die Entstehung von Pseudoerinnerungen. Gleiches gilt, wenn sogenannte Wiedererinnerungen nach
therapeutischen Gesprächen, im Rahmen der Maltherapie oder während des Schreibens in einem dissoziativen Zustand auftreten,
wie ihn die Klägerin geschildert hat.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist damit von einer Korrektheit und Zuverlässigkeit längerfristig nicht bewusst zugänglicher
Erinnerungsinhalte auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Befunde nicht auszugehen. Damit ist von einer Aussagezuverlässigkeit
der Angaben der Klägerin nicht auszugehen, vielmehr stellen die tatbezogenen Angaben der Klägerin irrtümliche Falschaussagen,
sei es in der Form der Suggestion, sei es in der Form der Autosuggestion, sei es in der Kombination beider, dar.
Dem Gutachten des Dr. H vermag sich der Senat nicht anzuschließen, da dieser, worauf Dr. B und Frau D in ihren Gutachten eingehend
und zutreffend hinweisen, die an eine Glaubhaftigkeitsbeurteilung zu richtende Kriterien hat unberücksichtigt gelassen. Insbesondere
hat Dr. H nach überholten wissenschaftlichen Kriterien geurteilt und in keiner Weise die Entstehungsgeschichte der Angaben
der Klägerin hinterfragt. Deshalb sind von ihm auch die Problematik der Autosuggestion nicht geprüft und Realkennzeichen nicht
kategorisiert worden. Zudem hat Dr. H seine Beurteilung, es bestehe kein Zweifel an den Angaben der Klägerin über den sexuellen
Missbrauch insbesondere auf das Verhalten während der Schilderung der Missbrauchsereignisse der Klägerin gestützt. Bei der
Besprechung der Missbrauchserlebnisse fixiere die Klägerin mit einem Tunnelblick die von einem Baumstamm ausgehende Verzweigung
der Äste, der Blickkontakt zum Gutachter sei weitestgehend aufgegeben worden, sie habe motorisch unruhig gewirkt, es sei zu
ruckartigen Kopfbewegungen, auch zu einem Wackeln des Kopfes und zu einem Zucken der Gesichtsmuskulatur gekommen, wobei sie
maximal angespannt gewirkt habe und auch ihre Hände krampfhaft zusammengehalten habe. Die Schilderung der Missbrauchsereignisse
sei mit starrem Blick und wie aus der Perspektive eines Zuschauers ohne sichtbare affektive Beteiligung erfolgt, was für das
Vorliegen einer Dissoziation spreche.
Dabei hat Dr. H aber nicht berücksichtigt, dass die Verhaltensbeobachtung zum gleichen Ergebnis bei Scheinerinnerungen führt.
Denn beim Vorliegen einer Scheinerinnerung geht der Berichtende selbst davon aus, von tatsächlich in der Wachwirklichkeit
Erlebtem zu berichten, wiewohl sich das Berichtete wie in diesem Fall im Wesentlichen aus Trauminhalten, Flashbacks, das heißt
auch Worst-Fear-Visionen speist und zum Teil im Rahmen von therapeutischen Sitzungen generiert wurde. Da die Aussageperson
in einem solchen Falle nicht lügt, sondern davon ausgeht, dass Berichtete erlebt zu haben, können sich in gleicher Weise wie
wenn eine Aussageperson erlebnisbasiert berichtet, Verhaltensauffälligkeiten und Symptome zeigen, welche auf eine innere Anspannung
und eine intensive emotionale Beteiligung schließen lassen, so dass es auch zu motorischen Entäußerungen wie z.B. ruckartigen
Kopfbewegungen, unruhigen Händen etc. kommen kann. Die Abwendung von der äußeren Realität und das Horchen nach innen, was
zu einem akommunikativ erscheinenden Verhalten bis hin zu einem dissoziativ erscheinenden Verhalten führen kann, kann sich
somit zum einen dann einstellen, wenn erlebnisbasiert über eine tatsächliche traumatische Erfahrung berichtet wird, sowie
auch dann, wenn eine Pseudoerinnerung generiert und verbalisiert wird. Dies hat Frau D in ihrem Gutachten überzeugend dargelegt.
Daher kann sich der Senat, gestützt auf die Gutachten des Dr. B und der Dipl. Psych. D nicht davon überzeugen, dass die gute
Möglichkeit besteht, dass die Angaben der Klägerin über einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit zutreffen. Die in ihrem
Umfang kontinuierlich zunehmenden "Erinnerungen" an die angegebenen sexuell missbräuchlichen Handlungen in der Kindheit sind
zum überwiegenden Teil sogenannte wiederentdeckte Erinnerungen, die im Zusammenhang mit therapeutischen Gesprächen, Maltherapie,
Flashbacks sowie Albträumen entstanden sein sollen. Es finden sich Hinweise auf die Wirksamkeit der Quellenkonfusionsproblematik,
wobei Inhalte von Flashbacks und Albtrauminhalte für eine Eins-zu-eins-Abbildung der Realität gehalten wurden, was wissenschaftlich
in keiner Weise gedeckt erscheint. Es ergeben sich auch Hinweise auf die Wirksamkeit von Suggestionen und Autosuggestionen,
so dass der Senat die Angaben der Klägerin nicht für am wahrscheinlichsten halten kann.
Aber selbst wenn man dem dennoch folgen wollte, stände der Klägerin keine Versorgung nach dem
OEG zu, wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, da die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem
Gebiet nicht mit einem GdS von wenigstens 50 zu bewerten sind, wovon auch Dr. H ausgegangen ist. Nach den von Dr. B erhobenen
Befunden ist sogar daran zu zweifeln, ob ein solcher GdS erreicht wird.
Die Berufung ist daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf §
193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Revisionszulassungsgründe (§
160 Abs.
2 Nr.
1 und Nr.
2 SGG) nicht vorliegen.