Tatbestand
Streitig ist die Versorgung der Klägerin mit einem Blindenführhund.
Die 1957 geborene, bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin ist durch eine kongenitale Opticusatrophie erblindet. Die
durch Gläserkorrektur nicht zu verbessernde Sehschärfe ist auf das Erkennen von Lichtschein bei defekter Lichtprojektion (Ortung
der Lichtquelle) an beiden Augen herabgesetzt, womit die Sehschärfe an beiden Augen nicht mehr als ein Fünftzigstel beträgt;
die Aufnahme eines Gesichtsfelds ist nicht mehr möglich (schriftliche Zeugenaussage der Augenärztin Dr. K im Klageverfahren
vom 02.12.2012). Die Klägerin lebt allein in einer 2 ZKB Eigentumswohnung in L (Größe 58,7 qm); ein Blindenhund darf nach
Auskunft des Verwalters gehalten werden. Seit dem Tod naher Angehöriger und einer schweren Erkrankung ihrer Freundin hat die
Klägerin keine Hilfs- und Betreuungspersonen mehr. Von der Beklagten wurde die Klägerin mit einem Bildschirmlesegerät sowie
einem Dürer Blindenlangstock ausgestattet, für dessen Benutzung sie zu Lasten der Beklagten im August/September 2011 in einem
Mobilitätstraining geschult wurde. Nach dem Bericht des Mobilitätstrainers M R an die Beklagte vom 14.12.2012 fanden die Übungseinheiten
in K und L statt; in L verfügte die Klägerin über gute Ortskenntnisse. Sie zeigte ein gutes Orientierungsvermögen, so dass
nur wenige Übungseinheiten erforderlich wurden.
Gestützt auf eine Bescheinigung der Diplom-Psychologin A R vom 09.11.2011 beantragte die Klägerin im November 2011 die Versorgung
mit einem Blindenführhund. In der Bescheinigung heißt es, um zukünftigen depressiven Episoden vorbeugen zu können, sei es
wichtig, dass die Klägerin weiterhin aktiv am Leben teilnehmen könne, ihre Selbstständigkeit soweit möglich erhalte, ihre
Freizeit aktiv gestalten und soziale Kontakte aufrecht erhalten könne; hierfür wäre ein Blindenhund eine wichtige Unterstützung.
Nach telefonischer Rückfrage beim Mobilitätstrainer R , der einen Blindenführhund nicht für notwendig erachtete, da die Klägerin
in kürzester Zeit den Umgang mit dem Blindenlangstock erlernt habe und sich ausreichend schnell habe orientieren können, lehnte
die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 29.02.2012 ab. Im Widerspruchsverfahren veranlasste sie eine Stellungnahme der Ärztin
im Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Dr. S vom 11.04.2012, die die Versorgung mit einem Blindenführhund,
die primär im Rahmen einer depressiven Störung begehrt werde, sozialmedizinisch nicht für indiziert erachtete. Mit Widerspruchsbescheid
vom 21.06.2012 wies die Beklagte den Widerspruch gestützt auf diese Beurteilung zurück.
Am 12.07.2012 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Koblenz (SG) erhoben und geltend gemacht, sie könne zwar in der Regel bekannte Wege mit Hilfe des Blindenlangstockes selbstständig gehen.
Selbst auf diesen Wegen werde sie aber immer wieder durch unvorhergesehene Hindernisse (rücksichtslose Fußgänger, Radfahrer
auf dem Gehweg, Mülltonnen, Tiere, Baustellen, Äste) behindert und sei deshalb auch mit Hilfe des Blindenlangstockes unsicher
und in ihrem Fortbewegen gefährdet; umso mehr gelte dies für unbekanntes Terrain. Die Klägerin hat hierzu eine Bestätigung
ihrer Augenärztin Dr. K vom 22.08.2012 vorgelegt. Von dieser Ärztin hat das SG einen Befundbericht vom 29.10.2012 und eine schriftliche Zeugenaussage vom 02.12.2012 eingeholt.
Durch Urteil vom 26.02.2013 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 29.02.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.06.2012 aufgehoben und die Beklagte
verurteilt, die Klägerin mit einem Blindenführhund zu versorgen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe gemäß
§§
27 Abs.
1,
33 Abs.
1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) Anspruch auf einen Blindenführhund als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung. Ihre Sehschärfe sei auf weniger
als 1/50 herabgesetzt und damit soweit, dass die Aufnahme eines Gesichtsfeldes nicht mehr möglich sei. Auf Grund der Beschränkung
der Sehfähigkeit auf Lichtschein bestünden nachvollziehbar auch zusätzliche Einschränkungen bei Dämmerung und Dunkelheit.
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf den MDK darauf abstelle, dass die Klägerin zur Orientierung einen noch bestehenden
Sehrest ausnutzen könne, überzeuge dies nicht. Auf Grund ihrer Blindheit sei die Klägerin auf Hilfsmittel angewiesen, was
auch die Beklagte grundsätzlich nicht bestreite. Der Blindenführhund sei ein Hilfsmittel im Sinne des §
33 Abs.
1 Satz 1
SGB V (Hinweis auf BSG 25.02.1981 5a/5 RKn 35/78) und nicht nach §
34 Abs.
4 SGB V ausgeschlossen. Auch sei er nicht mit einem allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens gleichzustellen. Die Versorgung
der Klägerin mit einem Blindenführhund sei auch erforderlich, zweckmäßig und wirtschaftlich. Entgegen der Ansicht der Beklagten
sei der Anspruch der Klägerin insoweit nicht lediglich auf einen Basisausgleich beschränkt. Vielmehr sei ein möglichst weitgehender
Ausgleich geschuldet, da es sich um ein Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich handele. Bei diesem sei nach der
aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Hinweis auf BSG 17.12.2009 B 3 KR 20/08 R) eine Hilfsmittelversorgung grundsätzlich mit dem Ziel eines vollständigen funktionellen Ausgleichs vorzunehmen. Der Blindenführhund
sei unmittelbar auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet (Hinweis auf BSG 25.02.1981, a.a.O.). Er biete Ersatz für die durch Blindheit ausgefallene oder zumindest erschwerte Möglichkeit der Umweltkontrolle,
der Orientierung sowie der auf Grund dessen eingeschränkten Möglichkeit der unbehinderten Fortbewegung. Dieser Funktionsausgleich
betreffe unmittelbar die Behinderung und setze nicht erst bei den Folgen der Behinderung in bestimmten Lebensbereichen ein
(Hinweis auf LSG Baden-Württemberg 10.05.2012 L 11 KR 804/11). Die Versorgung mit einem Blindenführhund sei auch wirtschaftlich. Zwar sei auch im Rahmen des unmittelbaren Behinderungsausgleichs
der Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung beschränkt und umfasse
nicht die Optimalversorgung. Daher bestehe kein Anspruch auf ein teureres Hilfsmittel, soweit die kostengünstigere Versorgung
für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell in gleicher Weise geeignet sei. Im Vergleich zwischen Blindenlangstock
und Blindenführhund stünden jedoch nicht zwei funktionell gleichwertige Hilfsmittel zur Wahl. Durch den Gebrauch des Blindenlangstockes
werde die Klägerin zwar in die Lage versetzt, Hindernisse durch Ertasten des Untergrundes aufzufinden. Jedoch werde sie nicht
davor geschützt, mit Hindernissen zu kollidieren, die sich oberhalb des Radius des Stockes befinden. Auch ermögliche der Stock
das Auffinden der Hindernisse erst zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Blinde bereits unmittelbar vor ihnen befindet. Einen
Ersatz der Fähigkeit, vorausschauend auf Hindernisse zu reagieren und sie vorsorglich zu umgehen, biete der Blindenlangstock
nicht. Demgegenüber ersetze der Blindenführhund indirekt die verlorengegangene Möglichkeit der optischen Fernwahrnehmung und
sei in der Lage, die Hindernisse nicht nur aufzufinden, sondern den Blinden auch daran vorbeizuführen (Hinweis auf SG Aachen
22.10.2007 S 21 KR 32/07 sowie LSG Baden-Württemberg, a.a.O.). Entgegen der Annahme der Beklagten gehe es bei der Klägerin auch nicht lediglich um
die Vorbeugung einer depressiven Erkrankung. Auch wenn die behandelnde Psychologin darauf verwiesen habe, dass es bei der
Klägerin zur Vermeidung weiterer depressiver Episoden notwendig sei, dass sie aktiv am Leben teilhaben könne und dass der
Blindenhund hierfür eine wichtige Unterstützung sei, könne hieraus nicht geschlossen werden, dass der Blindenführhund als
Mittel der Psychotherapie eingesetzt werden sollte. Die Psychologin habe vielmehr die Funktion des Blindenführhundes als Mittel
des Behinderungsausgleiches hervorgehoben. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin für die Haltung eines Hundes nicht geeignet
wäre, seien nicht gegeben. Sie verfüge über eine ausreichend große Wohnung für die Haltung eines Hundes. Auch hätten auf Grund
des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung keine Anzeichen erkannt werden können, dass die Klägerin körperlich
nicht in der Lage wäre, einen Hund zu führen. Sie sei im Umgang mit dem konkreten Führhund von den Mitarbeitern der Blindenführhundeschule
zu schulen.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 04.04.2013 zugestellte Urteil am 15.04.2013 Berufung eingelegt. Sie ist weiterhin der Auffassung,
dass der Blindenführhund dem mittelbaren Behinderungsausgleich diene, weil durch kein Hilfsmittel das Augenlicht der Klägerin
ersetzt werden könne. Im Bereich des mittelbaren Behinderungsausgleichs sei ihre Einstandspflicht jedoch im Sinne eines Basisausgleichs
beschränkt, für den im Falle der Klägerin unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Mobilitätstrainers R und der Beurteilung
des MDK die Versorgung mit einem Blindenführhund nicht notwendig sei. Mit Hilfe des Blindenlangstockes könne sich die Klägerin
im bekannten Nahbereich der Wohnung ausreichend sicher fortbewegen und werde befähigt, die Wohnung zu verlassen, um bei einem
kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen,
an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien. Für einen weitergehenden Ausgleich der durch die Blindheit verursachten Mobilitätseinschränkungen
sei die gesetzliche Krankenversicherung nicht zuständig.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 26.02.2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und betont, der Auffassung der Beklagten stehe die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
zur Hilfsmitteleigenschaft des Blindenführhundes entgegen. Danach sei ein dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienendes
Hilfsmittel auch dann gegeben, wenn es nicht direkt am Körper ausgleichend wirke. Es genüge vielmehr, dass das Hilfsmittel
die beeinträchtigte bzw. erschwerte Funktion ermöglicht, ersetzt, erleichtert oder ergänzt. Das Sehen ermögliche u.a. die
Orientierung im Freien und in geschlossenen Räumen und diene insoweit auch unmittelbar der normalen unbehinderten Fortbewegung.
Diese Orientierungsfähigkeit und Umweltkontrolle werde unmittelbar durch den Blindenführhund ersetzt. Selbst wenn man aber
davon ausginge, dass entsprechend der Auffassung der Beklagten ein Blindenführhund die Behinderung nur mittelbar ausgleiche,
so sei in ihrem Fall zur Ermöglichung des Basisausgleichs zur Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes das begehrte
Hilfsmittel notwendig. Faktisch könne sie aktuell, das heißt mit dem Blindenlangstock, nur Wege eigenständig gehen, die sie
gezielt eingeübt habe. Der ohnehin schon vom Begriff des körperlichen Freiraums auf ein Minimum eingeschränkte Aktionsradius
werde dadurch nochmals ungerechtfertigt verkleinert. Fremde Wegstrecken auch im Nahbereich der Wohnung und sei es nur der
Weg durch eine Seitenstraße oder bei einem kurzen Spaziergang , könne sie auf Grund der beschriebenen Orientierungsschwierigkeiten
aktuell nicht allein bewältigen. Insbesondere helfe der Blindenlangstock zur Bewältigung von Gefahrensituationen durch oberhalb
des Bauches befindliche Hindernisse (herabhängende Äste, Bauschilder oder auch parkende LKW mit herabgelassener Hebebühne)
nicht weiter, versage auf Grund fehlender taktiler Leitlinien auf Freiflächen (Parkplätzen vor Supermärkten, Grünflächen in
Parks, breiten Straßenquerungen oder Plätzen) und bei ungünstigen Witterungsverhältnissen (starkem Wind, Regen oder Schnee),
hingegen sei ein Blindenführhund in der Lage, Hindernisse rechtzeitig zu erkennen und sie um diese herumzuleiten.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Der Akteninhalt
war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung.
Die Berufungsbegründung rechtfertigt keine andere Entscheidung. Auch wenn ein Blindenführhund nicht das Sehvermögen im Sinne
eines vollständigen funktionellen Ausgleichs ersetzen kann, wie die Beklagte zu Recht ausgeführt hat, ist er unmittelbar auf
den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet. Der Blindenführhund bietet Ersatz für die durch Blindheit ausgefallene oder
zumindest erschwerte Möglichkeit der Umweltkontrolle. Dieser Funktionsausgleich betrifft unmittelbar diese Behinderung und
setzt nicht erst bei den Folgen der Behinderung in bestimmten Lebensbereichen ein, wie das SG unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sowie das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg
vom 10.05.2012 (a.a.O.) zutreffend dargelegt hat. Funktionell gleichwertige, aber billigere Hilfsmittel stehen vorliegend
nicht zur Verfügung. Der Blindenlangstock hat wesentliche Gebrauchsnachteile gegenüber dem Blindenführhund. Auch dies hat
das SG im angefochtenen Urteil im Einzelnen dargelegt und die Klägerin in ihrer Berufungserwiderung nochmals nachvollziehbar aufgezeigt.
Die Versorgung mit einem Blindenführhund dient bei der Klägerin mithin nicht etwa, wie die Beklagte mit ihrer Berufung weiterhin
geltend macht, in erster Linie der Vorbeugung von depressiven Episoden, sondern bietet gegenüber dem Einsatz eines Blindenlangstockes
wesentliche Gebrauchsvorteile.