LSG Saarland, Urteil vom 10.03.2021 - 7 U 17/18
Anspruch auf Verletztengeld
Anforderungen an Prognoseentscheidungen
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
1. Eine von der Verwaltung vorzunehmende Prognose ist vom Gericht dahingehend zu prüfen, ob der festgestellte Sachverhalt
den Schluss auf die hypothetische Tatsache erlaubt. Eine Prognose ist fehlerhaft, wenn Tatsachen nicht richtig festgestellt
oder nicht alle Umstände richtig gewürdigt sind oder die Prognose auf unrichtigen oder unsachlichen Erwägungen beruht. Der
Auffassung des LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 20.3.2014 - L 10 U 2744/12 Rn. 45, 46), wonach die im Rahmen der Feststellung des Endes eines Anspruchs auf Verletztengeld nach § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII erforderliche Prognose, dass Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) nicht zu erbringen seien, gerichtlich in vollem
Umfang zu überprüfen sei, ohne dass dem Unfallversicherungsträger insoweit ein Beurteilungsspielraum zustehe, schließt sich
der Senat nicht an.
2. Die Begründung für die nach § 46 Abs. 3 S. 2 SGB VII zu treffende Prognose kann von der Widerspruchsbehörde nachgeholt werden (entgegen LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.4.2013
- L 3 U 269/11).
Vorinstanzen: SG Saarbrücken 23.04.2018 S 4 U 106/13
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts das Saarland vom 23.4.2018 sowie der Bescheid der Beklagten
vom 22.8.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.4.2013 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Verletztengeld über den 9.9.2012 hinaus zu zahlen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Instanzen.
Die Revision wird zugelassen.
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Tatbestand
Der Kläger begehrt die Zahlung von Verletztengeld über den 9.9.2012 hinaus.
Der 1968 geborene Kläger war als Berufskraftfahrer beschäftigt. Am 14.3.2011 rutschte er auf dem Weg zur Arbeit auf der Treppe
vor seiner Haustür aus und schlug mit dem Hinterkopf auf.
Die Beklagte zahlte dem Kläger zunächst Verletztengeld. Sie holte Gutachten ein bei Dr. B.l (vom 9.8.2011, HNO), Dr. Bo. (vom
8.9.2011, chirurgisch), Dr. Lu. (vom 8.11.2011, augenärztlich) und Dr. A. (vom 9.11.2011 mit Ergänzung vom 29.8.2012, neurologisch-psychiatrisch).
Der Gutachter Dr. Lu. erhob in seinem augenärztlichen Gutachten folgende Befunde:
- zeitweise dekompensierte Doppelbilder bei Verdacht auf angeborene Trochlearisparese - Gesichtsfeldausfall links nach rechts
oben - Prebyopie.
Das zunehmende Auftreten von Doppelbildern sei sicherlich unfallbedingt. Vor dem Unfall sei die Fusion der Doppelbilder möglich
gewesen und eine Dekompensation dem Kläger nicht bewusst geworden. Somit könne man von einer posttraumatischen Funktionsstörung
ausgehen. Die MdE betrage 15 v.H., durch operative Maßnahmen könne die Funktion der Augen nicht verbessert werden.
Der Beratungsarzt Dr. Hy. war der Auffassung, dass der Kläger in seiner Tätigkeit als Berufskraftfahrer nicht arbeitsfähig
sei, solange er aufgrund der dekompensierten Fusionsfähigkeit permanent Doppelbilder wahrnehme (Stellungnahme vom 8.5.2012).
Nachdem die Beklagte mit Bescheid vom 2.1.2012 die Verletztengeldzahlung zum 5.1.2012 eingestellt und mit weiterem Bescheid
vom 9.1.2012 festgestellt hatte, dass für die Zeit vom 14.3. bis 8.5.2011 unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit
bestanden habe, half sie dem dagegen erhobenen Widerspruch mit Bescheid vom 27.7.2012 ab, indem sie die Bescheide vom 2.1.2012
und 9.1.2012 vollständig aufhob. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Unfallfolgen rechtfertigten auch über den 8.5.2011 hinaus
eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit, außerdem bestehe über den 5.1.2012 hinaus ein Anspruch
auf Verletztengeld. Die Verletztengeldzahlung ende voraussichtlich mit Ablauf der 78. Woche (= 9.9.2012). Hierzu ergehe noch
eine gesonderte Nachricht an den Kläger.
In einem Vermerk (vom 30.7.2012, Vorlage 1. Prüfungsstufe der Handlungsanleitung LTA < Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben>
) wird ausgeführt, eine weitere Ausübung der Tätigkeit als LKW-Fahrer sei aufgrund der vorliegenden Unfallfolgen nicht möglich.
Eine innerbetriebliche Umsetzung könne nicht realisiert werden. Der Arbeitgeber habe dem Kläger zum 9.5.2011 gekündigt. In
einem arbeitsgerichtlichen Verfahren sei diese Kündigung zwar aufgehoben worden, jedoch sei unter diesen Umständen eine Weiterbeschäftigung
des Klägers auf einem verletzungskonformen Arbeitsplatz unrealistisch. Zum jetzigen Zeitpunkt seien keine qualifizierenden
LTA (übergangsgeldauslösend) geplant. Das Verletztengeld könne mit Ablauf der 78. Woche bzw. nach Feststellung des positiven/negativen
Leistungsbildes eingestellt werden. Sobald das Ergebnis der Testung vorliege, könne Kontakt mit dem Verletzten zur Besprechung
eventueller LTA aufgenommen werden.
Nach erfolgter Anhörung teilte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 22.08.2012 mit, dass die Verletztengeldzahlung mit
Ablauf des 9.9.2012 eingestellt werde. Zur Begründung wurde zunächst der Gesetzestext des § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII wiedergegeben und anschließend ausgeführt, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 46 Abs. 3 Satz 2 Nummer 3 SGB VII vorlägen. Am 9.9.2012 ende die 78. Woche, gerechnet vom Tag des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an. Stationäre Behandlung
finde nicht mehr statt. Somit sei der im § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII bezeichnete „Tag“ erreicht.
Dagegen erhob der Kläger Widerspruch mit der Begründung, es sei nicht ersichtlich, worauf die Beklagte ihre Prognose, dass
mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht mehr zu rechnen sei, stütze. Selbst wenn diese Prognose jedoch medizinisch
begründet wäre, dann wäre in jedem Fall die zweite Voraussetzung für die Weiterzahlung des Verletztengeldes erfüllt, denn
dann wären LTA zu erbringen.
Die Beklagte holte ein weiteres augenärztliches Gutachten (vom 9.1.2013) bei Dr. Lu. ein, der die MdE auf 20 v.H. einschätzte
und erneut häufig dekompensierte Doppelbilder feststellte.
Für den 4.2.2013 war die Erstellung eines Fähigkeitsprofils in ASR Reha-Zentrum Mannheim beabsichtigt, was der Kläger wegen
Krankheit am 1.2.2013 absagte; am 7.2.2013 ließ er telefonisch durch seine Lebensgefährtin mitteilen, dass er sich zu gegebener
Zeit wieder dort melden werde.
Mit Schreiben vom 14.2.2013 bat die Beklagte den Kläger unter Hinweis auf § 66 SGB I um Übersendung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sowie um Rückmeldung, wann er wieder für eine arbeitsspezifische Testung
zur Verfügung stehe. Daraufhin wurden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 17.1.2013 und 27.2.2013 übersandt, in denen Arbeitsunfähigkeit
vom 17.1.2013 bis 9.3.2013 wegen der Diagnose F32.1 G (mittelgradige Episode) bescheinigt wurde. Nachdem für den 12./13.3.2013
ein neuer Termin für die Erstellung eines Fähigkeitsprofils (zur Feststellung, ob überhaupt allgemeine LTA infrage kommen
könnten) im ASR Mannheim festgelegt worden war, übersandte der Kläger eine Folge-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 8.3.2013,
in der eine voraussichtliche Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich 28.4.2013 bescheinigt wurde. Unter dem 26.3.2013 teilte
der Kläger mit, dass er nach Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit an der ASR-Maßnahme in Mannheim teilnehmen werde.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17.4.2013 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 22.8.2012 zurück. Zur Begründung
wurde im Wesentlichen ausgeführt, vor Ablauf der 78. Woche sei eine Überprüfung eingeleitet worden, ob und gegebenenfalls
welche LTA erbracht werden könnten. Im Rahmen dieser Ermittlungen sei festgestellt worden, dass im Falle des Klägers mit einem
Erreichen der Arbeitsfähigkeit in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit nicht mehr zu rechnen sei. Für eine Weiterbeschäftigung
beim bisherigen Arbeitgeber auf einem verletzungskonformen Arbeitsplatz habe ebenfalls nur eine ungünstige Prognose erhoben
werden können. Im Rahmen dieser ersten Prüfstufe sei bereits festgestellt worden, dass qualifizierende LTA aller Voraussicht
nach nicht zu erbringen seien. Zur Festlegung eines positiven und negativen Leistungsbildes sei das ASR-Reha-Zentrum in Mannheim
mit der Durchführung eines entsprechenden Tests beauftragt worden. Mit diesem Test solle ermittelt werden, ob noch und gegebenenfalls
welche allgemeinen LTA infrage kommen könnten. In etwa zur gleichen Zeit sei durch die Verwaltung das Rentenfeststellungsverfahren
eingeleitet worden. Hierzu sei zunächst ein fachärztliches Rentengutachten zur Feststellung der verbliebenen Unfallfolgen
und Einschätzung der MdE erforderlich. Das ASR-Zentrum habe die Durchführung des Tests zunächst vom Ergebnis dieser Rentenbegutachtung
abhängig gemacht. Das erforderliche Gutachten sei mit erheblicher zeitlicher Verzögerung erstellt worden. Nachdem das Gutachten
zwischenzeitlich vorliege, habe die Austestung durch das ASR-Zentrum nun schon mehrfach wegen anderer unfallunabhängiger Erkrankungen
verschoben werden müssen. Es sei also festzuhalten, dass der Kläger auch weiterhin für einen nicht absehbaren Zeitraum für
eine LTA-Maßnahme nicht zur Verfügung stehe. Vor diesem Hintergrund sei die Einstellung des Verletztengeldes zum 9.9.2012
nicht zu beanstanden.
Der Kläger hat dagegen am 8.5.2013 Klage erhoben und vorgetragen, zwar möge es sein, dass mit einem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit
prognostisch nicht zu rechnen sei. Es sei allerdings seitens der Beklagten nicht nachgewiesen, dass LTA nicht zu erbringen
seien. Die Testung des negativen und positiven Leistungsbildes im Zeitraum Februar bis März 2013 sei lediglich daran gescheitert,
dass er krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen sei, an dieser Testung teilzunehmen. Es sei nicht ersichtlich, inwieweit
dies Leistungen der Beklagten ab dem 9.9.2012 auszuschließen vermöge, noch liege eine grundsätzlich dauernde Untauglichkeit
von seiner Seite im Hinblick auf die Erbringung von LTA vor. Seit September 2012 habe er zunächst Arbeitslosengeld und im
Anschluss seit Mitte 2013 Grundsicherung für Arbeitsuchende erhalten. Nach dem Gesetzeswortlaut komme es auch nicht darauf
an, ob qualifizierte oder allgemeine LTA zu erbringen seien. Soweit die Beklagte während des Klageverfahrens eine Testung
seines Leistungsbildes vornehmen wolle, bestehe kein Einverständnis von seiner Seite. Dies sei vielmehr Aufgabe des Gerichts.
Die Beklagte hat ausgeführt, die in § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII benannten LTA meinten ausschließlich solche Leistungen, die einen Anspruch auf Übergangsgeld auslösten (sogenannte qualifizierende
LTA). Bei diesen Maßnahmen handele es sich in aller Regel um mehrwöchige bzw. mehrmonatige Bildungs-/Fortbildungs-/Qualifizierungsmaßnahmen,
die in schulischer Form (Erlernen von Inhalten, Prüfungen usw.) durchgeführt würden. Aufgrund der vom Kläger geltend gemachten
Beschwerden sei zum Zeitpunkt der Entscheidung davon auszugehen gewesen, dass er für einen nicht absehbaren Zeitraum den Anforderungen
einer qualifizierenden beruflichen Rehabilitation (übergangsgeldauslösend) gesundheitlich nicht gewachsen gewesen sei. Die
Abklärung, welches Restleistungsvermögen bei dem Kläger mit den vorhandenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorhanden
sei, habe ausschließlich der Feststellung gedient, ob und gegebenenfalls welche allgemeinen LTA (worunter man eine Vielzahl
von Möglichkeiten zusammenfasse, denen ausschließlich gemein sei, dass sie keinen Anspruch auf Übergangsgeld auslösten, wie
zum Beispiel Eingliederungshilfen, betriebliche Aufschulungsmaßnahmen, Unterstützung bei der Suche nach einem leidensgerechten
Arbeitsplatz etc.) zu prüfen seien.
Das Sozialgericht für das Saarland (SG) hat Gutachten bei der Augenärztin Dr. Me. (vom 25.4.2016) und bei dem Facharzt für Neurologie und Psychatrie Dr. Ra. (vom
16.9.2017 nach Aktenlage) eingeholt.
Die Sachverständige Dr. Me. hat ausgeführt, Folgen des Versicherungsfalls vom 14.3.2011 seien die persistierenden Doppelbilderwahrnehmungen
beim Geradeausblick, in alle Blickrichtungen und bei Kopfbewegung durch die objektivierbare permanent bestehende Vertikaldeviation
(Abweichung eines Auges zu dem anderen in die Höhe) und die Incyclotropie (Innenverrollung des Auges). Es sei auch in den
nächsten 78 Monaten nicht mit einer Besserung dieses Befundes zu rechnen und damit auch nicht mit dem Wiedereintritt des Klägers
in die zuvor ausgeübte Tätigkeit als LKW-Fahrer. Der Kläger könne keine Tätigkeiten ausüben, die vermehrte Anforderungen an
das Sehen stellten. Dazu gehörten Arbeiten in der Höhe, das Führen eines LKWs, das Führen eines PKWs mit Personenbeförderung,
aber auch das Führen eines PKWs insgesamt (da auch hier jederzeit Doppelbilder auftreten könnten), das Führen von schweren
Maschinen, wie Baggern, Kränen und auch Staplern, dauerhafte Tätigkeiten am Computer, Tätigkeiten an laufenden Maschinen.
Im Übrigen bestehe aus augenärztlicher Sicht Eignung zur vollständigen Teilnahme am Arbeitsleben sowie den davor dazu eventuell
notwendigen beruflichen oder schulischen Bildungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen.
Der Sachverständige Dr. Ra. hat ausgeführt, der Aktenlage könne entnommen werden, dass weder von chirurgischer, HNO-ärztlicher
noch neurologisch-psychiatrischer Seite Beeinträchtigungen bestünden. Mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit des Klägers
als Berufskraftfahrer im Hauptgewerbe sei aufgrund des augenärztlichen Befundes am 22.8.2012 nicht mehr zu rechnen gewesen.
Zu diesem Zeitpunkt sei absehbar gewesen, dass die Voraussetzungen zur Teilnahme an LTA nicht gegeben gewesen seien. Die Notwendigkeit
der Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL-Testung) ergebe sich bei Menschen mit Behinderungen bzw. Rehabilitanden,
die für eine LTA vorgesehen seien, bei denen jedoch die Erfolgsaussichten einer beruflichen Rehabilitation nicht zweifelsfrei
beurteilt werden könnten. Das Verfahren sei entwickelt worden, um eine Klärung herbeizuführen, wenn Zweifel bezüglich der
beruflichen Leistungsfähigkeit oder bezüglich Ressourcen an den bisherigen Arbeitsplatz zurückzukehren bestünden. Im Mittelpunkt
des EFL-Assessment-Verfahrens stehe die Untersuchung häufiger Arbeitsabläufe im Berufsfeld mit 29 standardisierten funktionellen
Leistungstests. Die Auswahl der Testbatterie erfolge personenzentriert, krankheitsbezogen und arbeitsplatzorientiert. Ausgelotet
würden die Möglichkeiten der körperlichen Belastbarkeit mit dem Ziel, die Belastbarkeit eines Probanden zu beurteilen. Das
Ergebnis des erstellten Belastbarkeitsprofils könne dann die Ausgangsbasis für LTA sein. Eine Evaluation der funktionellen
Leistungsfähigkeit sei im Falle des Klägers erforderlich. Dem entgegen stehe der ausdrücklich erklärte Wille des Klägers,
nicht an einer berufspraktischen Erprobung durch die Beklagte teilzunehmen. Unter Berücksichtigung des augenärztlichen Befundes
und des subjektiven Beeinträchtigungserlebens sehe er den Kläger derzeit nicht ausreichend belastbar für eine EFL-Testung.
Mit Urteil vom 23.4.2018 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe sowohl hinsichtlich der Frage nach
dem Wiedereintritt von Arbeitsfähigkeit des Klägers als auch im Hinblick auf die Beurteilung, ob im Zeitpunkt des Erlasses
der Widerspruchsentscheidung qualifizierende LTA zu erbringen gewesen seien, zutreffend und rechtmäßig entschieden. Zu dieser
Erkenntnis habe ebenfalls die gerichtlich durchgeführte Beweisaufnahme geführt. Tatsächlich gehe auch der Kläger nunmehr davon
aus, dass er seine frühere Tätigkeit als Berufskraftfahrer aufgrund der bei ihm vorliegenden posttraumatischen Fusionsstörung
mit nunmehr unfallbedingt dekompensierten Doppelbildern nicht mehr ausführen könne. Entgegen der Auffassung des Klägers habe
diesbezüglich bereits zum Zeitpunkt des angegriffenen Widerspruchsbescheides vom 17.4.2013 ein ausermittelter medizinischer
Sachverhalt vorgelegen. Auf das im Verwaltungsverfahren eingeholte augenfachärztliche Gutachten Dr. Lu. könne verwiesen werden.
Die gerichtliche Gutachterin Dr. Me. habe diesen Befund beim Geradeausblick in alle Blickrichtungen und bei Kopfbewegung durch
die objektivierbare, permanent bestehende Vertikaldeviation (Abweichung eines Auges zu dem anderen in die Höhe) und die Incyclotropie
(Innenverrollung des Auges) bestätigt. Nichts Anderes gelte im Ergebnis in Bezug auf die Frage, ob qualifizierende LTA zu
erbringen seien. Der Schwerpunkt der Ermittlungen der Beklagten hinsichtlich der Frage von Teilhabeleistungen habe zu Recht
in erster Linie bei Leistungen „allgemeiner Art“ gelegen, die nicht zu einem Anspruch auf Übergangsgeld führten (Ermittlungsstufe
1). Bezogen auf den Gegenstand solcher „allgemeinen“ Teilhabeleistungen habe die Beklagte ohne Rechtsfehler angestrebt, eine
Testung des Leistungsbildes des Klägers bzw. eine berufspraktische Erprobung durchzuführen. Am 27.3.2013 hätten die Klägervertreter
mitgeteilt, der Kläger werde nach Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit an der ASR-Maßnahme in Mannheim teilnehmen. Tatsächlich
habe der Kläger diese angekündigte Mitwirkungshandlung nicht mehr geleistet. Soweit sich der Kläger im Verlauf des gerichtlichen
Rechtsstreits einer außergerichtlichen Testung seines Leistungsbildes durch die Beklagte bzw. einer berufspraktischen Erprobung
durch die Beklagte ausdrücklich widersetzt habe, indes das Einverständnis mit der Veranlassung einer solchen Maßnahme durch
das Gericht erteilt worden sei, gehe die Argumentation der Klägervertreter mit dem gerichtlichen Streitgegenstand fehl. Die
Klage ziele ausschließlich auf die Weitergewährung von Verletztengeld über den 9.9.2012 hinaus und habe nicht das Begehren
auf Bewilligung bestimmter Teilhabeleistungen zum Gegenstand. Andererseits bleibe es der Beklagten selbstverständlich überlassen,
in einem Verwaltungsverfahren im Rahmen der von ihr festzustellenden Neigungen und Fähigkeiten des Klägers zur Sicherung eines
entsprechenden Platzes im Arbeitsleben parallel zu einem gerichtlichen Verfahren die Erforderlichkeit und Geeignetheit sogenannter
„allgemeiner“ Teilhabeleistungen abzuprüfen. Schließlich sei der Kläger auch auf mehrfache gerichtliche Nachfrage eine Antwort
dahin schuldig geblieben, für welche beruflichen oder schulischen Bildungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen er sich selbst überhaupt
geeignet sehe. Auch aufgrund einer fachärztlichen neurologisch-psychiatrischen Untersuchung des Klägers mittels Testbatterie
hätte diesbezüglich ein Erkenntnisgewinn resultieren können. Allerdings habe sich der Kläger mit einer weiteren fachärztlichen
Untersuchung nicht einverstanden erklärt, sodass ein Gutachten nach Aktenlage habe erstattet werden müssen. In Anbetracht
der Tatsache, dass auch die Sachverständige Dr. Me. weitgehende Einschränkungen des Klägers für das Führen eines Pkw sowie
von Baumaschinen bzw. auch für Tätigkeiten am PC und an laufenden Maschinen beschreibe, sei jedenfalls die Schlussfolgerung
des Gutachters Dr. Ra., auch in der Ex-Post-Betrachtung ergebe sich keine andere Beurteilung als diejenige der Beklagten,
dass es zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidung an den Voraussetzungen für „qualifizierende“ LTA gefehlt habe, in jeder
Hinsicht nachvollziehbar und vor dem Hintergrund der Aktenlage bzw. der Anknüpfungstatsachen zum Zeitpunkt des Erlasses des
Widerspruchsbescheides vom 17.4.2013 verständlich.
Der Kläger hat gegen das ihm am 17.7.2018 zugestellte Urteil am 17.8.2018 Berufung eingelegt.
Zur Begründung trägt er vor, dass mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit für seine frühere Tätigkeit als Berufskraftfahrer
zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr habe gerechnet werden können, sei von Anfang an unstreitig gewesen. Dass § 46 Abs. 3 S. 2 SGB VII einen Anspruch auf „qualifizierende“ LTA meine, ergebe sich nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes. Eine Konkretisierung, welche
konkreten Fortbildungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen zu erbringen seien, habe nicht er, sondern die Beklagte zu leisten,
wobei eine beabsichtigte Testung und Belastungserprobung bereits selbst eine LTA gemäß § 33 Abs. 4 Satz 2 SGB IX (in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung) darstelle. Das vom SG ohne ersichtlichen Grund eingeholte neurologisch-psychiatrische Gutachten sei ohne jeden Erkenntnisgewinn. Ob qualifizierte
LTA zu erbringen gewesen seien, sei im Zeitpunkt der Einstellung des Verletztengeldes noch gar nicht abzusehen gewesen. Zunächst
habe aus Sicht der Beklagten eine Testung durchgeführt werden müssen, um entscheiden zu können, ob möglicherweise qualifizierende
LTA zu erbringen seien. Es habe somit im Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten noch gar nicht festgestanden, dass solche
Maßnahmen ausschieden. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prognoseentscheidung der Beklagten sei der 22.8.2012, denn zu diesem
Zeitpunkt habe die Beklagte entschieden, die Verletztengeldzahlung mit Ablauf des 9.9.2012 einzustellen. Zu diesem Zeitpunkt
habe die Beklagte über die notwendigen Informationen über seinen Gesundheitszustand verfügt. Die Beklagte habe von allen Möglichkeiten,
die ihr zur Verfügung stünden, eine qualifizierte Teilhabe am Arbeitsleben zur Verfügung zu stellen, aus ihrer Sicht keine
einzige in Betracht gezogen, nur weil er gelegentlich Doppelbilder gesehen habe. Die Sachverständige Dr. Me. habe zutreffend
ausgeführt, dass für ihn alle Tätigkeiten in Betracht kämen, bei welchen keine mittleren oder höheren Anforderungen an das
Sehen, insbesondere an das räumliche Sehen, gestellt würden, und bei denen plötzlich auftretende Doppelbilder keine Gefahr
für ihn oder andere Personen darstellten. Ergänzend weise er darauf hin, dass sogar die Abklärung der beruflichen Eignung
bzw. eine Arbeitserprobung aufgrund der Regelung des § 65 Abs. 3 SGB IX einen Anspruch auf Übergangsgeld auslösten. Die Rechtsprechung habe mehrfach bestätigt, dass der Beklagten bei der Prognoseentscheidung
kein Beurteilungsspielraum zustehe und insofern die Entscheidung voll überprüfbar sei. Dem Urteil des LSG Rheinland-Pfalz
vom 12.6.2018 (L 3 U 201/15, nicht veröffentlicht .) sei zu entnehmen, welche Voraussetzungen die Beklagte zu erfüllen habe, um im Rahmen der ihr obliegenden
objektiven Beweislast darzulegen und zu beweisen, dass ihm zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung kein Anspruch auf berufsfördernde
Leistungen zustehe und deshalb das Verletztengeld zu Recht eingestellt worden sei.
Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 23.4.2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22.8.2012 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 17.4.2013 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, ihm über den 9.9.2012 hinaus Verletztengeld nach den gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält an ihren Bescheiden fest. Ergänzend trägt sie vor, für sie habe im Zeitpunkt der Prognoseerstellung festgestanden,
dass der Kläger aufgrund der von ihm geltend gemachten Beschwerden für einen nicht absehbaren Zeitraum den Anforderungen einer
qualifizierenden beruflichen Rehabilitation - also in schulischer Form, d.h. Erlernen von Inhalten, Prüfungen usw. - gesundheitlich
nicht gewachsen (= nicht rehafähig) gewesen sei, weshalb diese übergangsauslösenden Maßnahmen der beruflichen Reha nicht in
Betracht gekommen seien. Für die Prognoseentscheidung im Sinne des § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII habe es also nicht erst noch der Durchführung einer Testung bedurft. Dass eine Testung von ihr angestrebt worden sei, sei
alleine darauf zurückzuführen, dass sie habe feststellen wollen, ob und gegebenenfalls welche allgemeinen LTA (= nicht übergangsgeldauslösend)
zu prüfen sein würden. Im weiteren Verlauf sei ihre Prognoseentscheidung bestätigt worden. Der vorliegende Sachverhalt sei
auch nicht mit dem der genannten LSG-Entscheidung zugrundeliegendem vergleichbar. Denn alle von ihr festgestellten Tatsachen
zur fehlenden Rehafähigkeit des Klägers, die sie zu ihrer prognostischen Einschätzung, dass kein Anspruch auf berufliche Teilhabeleistungen
im Sinne des § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII bestehe, geführt hätten, seien aktenkundig und seien von der Vorinstanz für nachvollziehbar erklärt worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten.
Der Inhalt der Akten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist begründet.
Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG). Mit einer reinen Anfechtungsklage könnte der Kläger sein prozessuales Begehren, weiterhin Verletztengeld zu erhalten, nicht
erreichen. Denn mit der Aufhebung des angefochtenen Bescheides würde keine Leistungsbewilligung wieder in Kraft treten, da
die Beklagte zu keinem Zeitpunkt einen Verwaltungsakt über die Gewährung von Verletztenrente auf Dauer erlassen hat (vergleiche
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.3.2014 - L 10 U 2744/12 - Rn. 16; anderer Auffassung wohl LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.4.2013 - L 3 U 269/11 - Rn. 18).
Die Klage ist begründet.
Nach § 45 Abs. 1 SGB VII wird Verletztengeld erbracht, wenn Versicherte infolge eines Versicherungsfalls arbeitsunfähig sind oder wegen einer Maßnahme
der Heilbehandlung eine ganztägige Erwerbstätigkeit nicht ausüben können und unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit
oder der Heilbehandlung Anspruch auf unter anderem Arbeitsentgelt hatten. Wann das Verletztengeld endet, ist in § 46 Abs. 3 SGB VII geregelt.
1.
Nach § 46 Abs. 3 Satz 1 Nummer 1 SGB VII endet das Verletztengeld mit dem letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit oder Hinderung an einer ganztägigen Erwerbstätigkeit
durch eine Heilbehandlungsmaßnahme. Dadurch wird die bereits aus § 45 Abs. 1 Nummer 1 SGB VII abzuleitende Folge normiert, dass der Anspruch auf Verletztengeld nicht mehr besteht, sobald die Grundvoraussetzung der versicherungsfallbedingten
Arbeitsunfähigkeit entfallen ist (Heinz, Zur Beendigung der Verletztengeldzahlung, SGb 2016, 25). Arbeitsunfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles liegt anknüpfend an die Rechtsprechung zum Begriff der Arbeitsunfähigkeit
in der gesetzlichen Krankenversicherung vor, wenn ein Versicherter aufgrund der Folgen eines Versicherungsfalls nicht in der
Lage ist, seiner zuletzt ausgeübten oder einer gleich oder ähnlich gearteten Tätigkeit nachzugehen (BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 31/06 R, Rn. 12 mit weiteren Nachweisen). Gibt der Versicherte nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit seine Arbeitsstelle auf, ändert
sich allerdings der rechtliche Maßstab insofern, als für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nicht mehr die konkreten Verhältnisse
an diesem Arbeitsplatz maßgebend sind, sondern nunmehr abstrakt auf die Art der zuletzt ausgeübten Beschäftigung abzustellen
ist. Der Versicherte darf dann auf gleich oder ähnlich geartete Tätigkeiten „verwiesen“ werden, wobei aber der Kreis möglicher
Verweisungstätigkeiten entsprechend der Funktion des Kranken- bzw. Verletztengeldes eng zu ziehen ist. Handelt es sich bei
der zuletzt ausgeübten Tätigkeit um einen anerkannten Ausbildungsberuf, so scheidet eine Verweisung auf eine außerhalb dieses
Berufes liegende Beschäftigung aus. Auch eine Verweisungstätigkeit innerhalb des Ausbildungsberufs muss, was die Art der Verrichtung,
die körperlichen und geistigen Anforderungen, die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten sowie die Höhe der Entlohnung angeht,
mit der bisher verrichteten Arbeit im Wesentlichen übereinstimmen, sodass der Versicherte sie ohne größere Umstellung und
Einarbeitung ausführen kann. Dieselben Bedingungen gelten bei ungelernten Arbeiten, nur dass hier das Spektrum der zumutbaren
Tätigkeiten deshalb größer ist, weil die Verweisung nicht durch die engen Grenzen eines Ausbildungsberufes eingeschränkt ist
(BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 31/06 R Rn. 12 mit weiteren Nachweisen).
Der Kläger kann seine frühere Tätigkeit als Berufskraftfahrer aufgrund der bei ihm vorliegenden posttraumatischen Fusionsstörung
mit nunmehr unfallbedingt dekompensierten Doppelbildern nicht mehr ausüben. Gleiches gilt für vergleichbare Tätigkeiten, die
mit der bisher verrichteten Tätigkeit als Berufskraftfahrer im Wesentlichen übereinstimmen. Dies wird von den Beteiligten
auch nicht angegriffen.
2.
Der Beendigungstatbestand des § 46 Abs. 3 Satz 1 Nummer 2 SGB VII, wonach das Verletztengeld mit dem Tag endet, der dem Tag vorausgeht, an dem ein Anspruch auf Übergangsgeld entsteht, liegt
hier ersichtlich nicht vor.
3.
Die Beklagte kann die Einstellung der Zahlung des Verletztengeldes auch nicht auf § 46 Abs. 3 Satz 2 Nummer 3 SGB VII stützen. Nach dieser Vorschrift endet das Verletztengeld mit Ablauf der 78. Woche, gerechnet vom Tag des Beginns der Arbeitsunfähigkeit
an, jedoch nicht vor dem Ende der stationären Behandlung, wenn mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen
ist und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht zu erbringen sind.
Das Ende des Verletztengeldanspruchs setzt danach zunächst voraus, dass mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht
zu rechnen ist, d. h. mit der Beendigung der infolge des Versicherungsfalls eingetretenen Arbeitsunfähigkeit zumindest für
die nächsten 78 Wochen nicht zu rechnen sein darf (BSG, Urteil vom 13.9.2005 - B 2 U 4/04 R - Rn. 41). Weiter darf zum Zeitpunkt der Entscheidung kein Anspruch auf LTA, die einen Anspruch auf Übergangsgeld auslösen,
bestehen (BSG, Urteil vom 13.9.2005 - B 2 U 4/04 R - Rn. 41). Das Ende des Verletztengeldanspruchs nach § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII ist durch Verwaltungsakt festzustellen, weil es eine Prüfung im Sinne einer Prognoseentscheidung erfordert, die nicht durch
die Gerichte ersetzt werden kann (BSG, Urteil vom 13.9.2005 - B 2 U 4/04 R - Rn. 42).
Entgegen der Auffassung des Klägers sind LTA im Sinne des § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII nur solche Leistungen, die einen Anspruch auf Übergangsgeld im Sinne von § 49 SGB VII auslösen (BSG, Urteil vom 13.9.2005 - B 2 U 4/04 R - Rn. 41). Dazu gehören nach Sinn und Zweck der Vorschrift nur solche berufsfördernden Leistungen, die wegen Hinderung an
einer ganztägigen Erwerbstätigkeit Einfluss auf die Verdienstmöglichkeiten nehmen können wie zum Beispiel die Teilnahme an
Bildungsmaßnahmen, Praktika usw. (LSG Bayern, Urteil vom 29.2.2012 - L 2 U 254/09 - Rn. 108; LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 20.3.2014 - L 10 U 2744/12 - Rn. 52, und vom 18.1.2016 - L 1 U 4104/14 Rn. 59; anderer Auffassung: Heinz, aaO, Seite 26, 27; Fischer in jurisPK, 2. Aufl., Stand 24.5.2016, § 46 SGB VII Rn. 36, 36.1).
Die Frage, ob berufsfördernde Leistungen zu erbringen sind, richtet sich nach den Erfolgsaussichten, dem Alter des Versicherten
und weiteren Umständen, die der Unfallversicherungsträger bei seiner Prüfung berücksichtigen muss. Dabei kommt es, wie bereits
ausgeführt, auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Unfallversicherungsträgers an (BSG, Urteil vom 13.9.2005 - B 2 U 4/04 R - Rn. 42), in der Regel der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids (Heinz, aaO, SGb 2016, 25, 27; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.3.2014 - L 10 U 2744/12 - Rn. 30).
a)
In welchem Umfang die vom Unfallversicherungsträger zu treffende Prognoseentscheidung von den Gerichten überprüft werden kann,
ist umstritten. Zum Teil wird davon ausgegangen, dass dem Unfallversicherungsträger ein gerichtlich nicht zu überprüfender
Beurteilungsspielraum (Einschätzungsprärogative) zuzubilligen ist (so LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.4.2013 - L 3 U 269/11- Rn. 21; Bayerisches LSG, Urteil vom 29.2.2012 - L 2 U 254/09 -Rn. 105). Nach anderer Auffassung ist die im Rahmen der Feststellung des Endes eines Anspruchs auf Verletztengeld nach §
46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII erforderliche Prognose, dass LTA nicht zu erbringen sind, gerichtlich in vollem Umfang zu überprüfen, ohne dass dem Unfallversicherungsträger
insoweit ein Beurteilungsspielraum zusteht (so LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.3.2014 - L 10 U 2744/12 Rn. 45, 46; ihm folgend LSG Rheinland-Pfalz in seinem vom Klägervertreter vorgelegten, nicht veröffentlichten Urteil vom
12.6.2018 - L 3 U 201/15). Das LSG Baden-Württemberg hat insoweit zur Begründung ausgeführt (aaO., Rn. 42 ff.), ein allgemeiner Grundsatz, wonach
allein die Notwendigkeit einer Prognose die Einschränkung gerichtlicher Kontrolldichte von Verwaltungsentscheidungen rechtfertige,
bestehe nicht. Vielmehr gölten bei Prognoseentscheidungen die gleichen Gründe für einen gerichtlich nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraum
wie bei unbestimmten Rechtsbegriffen: Entscheidungen durch nicht weisungsgebundene, pluralistisch zusammengesetzte oder besonders
fachkundige Verwaltungsorgane; Unvertretbarkeit von Entscheidungen; Einfluss wertender Elemente geistig-seelisch-künstlicher
Art; programmatischer, prozesshafter und gestaltender Charakter prognostischer Verwaltungsentscheidungen. Diese Kriterien
seien bei der nach § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII zu treffenden Prognose nicht erfüllt. Bei der vorausschauenden Beurteilung, ob mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit
zu rechnen sei, handele es sich - wie bei der Frage, ob jemand für eine Ausbildung geeignet sei bzw. mit Erfolg an einer Maßnahme
teilnehmen werde und anders als beispielsweise bei der Beurteilung der arbeitsmarktpolitischen Zweckmäßigkeit oder der allgemeinen
Verhältnisse des Arbeitsmarktes im Rahmen der Beurteilung von Chancen auf Integration in den Arbeitsmarkt - um eine prognostische
Einzelbeurteilung. Diese sei tatsächlichen Feststellungen im gerichtlichen Verfahren mit gleicher Sicherheit zugänglich wie
im Verwaltungsverfahren. Weder rechtliche noch faktische Anhaltspunkte, die eine Ausnahme von der nach Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich gewährleisteten vollständigen Überprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen rechtfertigten, seien hier gegeben.
Nichts Anderes gelte in Bezug auf die Frage, ob LTA zu erbringen seien. Die Frage, „ob“ LTA zu erbringen seien, stehe nicht
im Ermessen des Unfallversicherungsträgers. Stehe aber im Falle der Geltendmachung eines Anspruchs auf LTA die Entscheidung
über das „Ob“ der Leistungserbringung nicht im Ermessen des Unfallversicherungsträgers und werde deshalb die entsprechende
Verwaltungsentscheidung in vollem Umfang gerichtlich überprüft, könne nichts anderes gelten, wenn dieselbe Frage - ob LTA
zu erbringen seien - als Tatbestandsvoraussetzung in Bezug auf andere Leistungen, hier also im Rahmen des Verletztengeldanspruches
nach § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII zu prüfen seien. Damit stehe dem Unfallversicherungsträger bei der hier in Rede stehenden Tatbestandsvoraussetzungen „ob
LTA zu erbringen sind“ ebenso wenig ein gerichtlich nur beschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu wie im Falle der
Entscheidung über Teilhabeleistungen als Rechtsfolge ein Ermessen. Das LSG Baden-Württemberg (aaO., Rn. 38,39) zieht daraus
den Schluss, dass ein bloßer Begründungsmangel sich auf die Rechtmäßigkeit nicht auswirkt und grundsätzlich nicht die Aufhebung
des angefochtenen Verwaltungsaktes rechtfertigt.
Der Rechtsauffassung des LSG Baden-Württemberg (aaO.) schließt sich der Senat nicht an. Es ist zwar zutreffend, dass es nicht
im Ermessen des Unfallversicherungsträgers steht, „ob“ LTA zu erbringen sind. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass es nicht
allein um die Frage geht, ob überhaupt LTA zu erbringen sind, sondern ob qualifizierte, also einen Übergangsgeldanspruch auslösende
LTA zu erbringen sind. Insoweit besteht jedoch ein Auswahlermessen der Beklagten. Es geht letztlich darum, nach pflichtgemäßem
Ermessen (Auswahlermessen) zu entscheiden, welche LTA im konkreten Fall zur Eingliederung erforderlich sind (so zutreffend
Köllner in Lauterbach, UV ( SGB VII), 4. Aufl., 60. Lieferung, September 2016, § 46 SGB VII Rn. 41). Nur wenn der Verwaltungsakt begründet und nachvollziehbar die Grundlagen der Entscheidung darstellt, kann der Versicherte
erkennen, dass der Unfallversicherungsträger überhaupt eine Prognoseentscheidung getroffen hat und welche individuellen Gegebenheiten
dazu geführt haben. Die beiden zutreffenden Prognoseentscheidungen stellen wesentliche Weichen im Erwerbsleben des Versicherten
und haben damit für diesen insbesondere materiell eine enorme Tragweite; umso wichtiger ist es, dass der Versicherte sich
in den Entscheidungsgründen wiederfindet (Köllner aaO. § 46 SGB VII Rn. 42). Würde man der Rechtsauffassung des LSG Baden-Württemberg (aaO.) folgen, wäre nicht zu begründen, warum die Prognoseentscheidung,
die nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 13.9.2005 - B 2 U 4/04 R - Rn. 42) nur durch den Unfallversicherungsträger getroffen werden kann, nicht auch durch das Gericht nachgeholt werden könnte.
b)
Die von der Beklagten getroffenen Prognoseentscheidungen sind jedenfalls teilweise fehlerhaft.
Eine von der Verwaltung vorzunehmende Prognose ist vom Gericht dahingehend zu prüfen, ob der festgestellte Sachverhalt den
Schluss auf die hypothetische Tatsache erlaubt. Eine Prognose ist fehlerhaft, wenn Tatsachen nicht richtig festgestellt oder
nicht alle Umstände richtig gewürdigt sind oder die Prognose auf unrichtigen oder unsachlichen Erwägungen beruht (BSG, Urteil vom 3.8.2016 - B 6 KA 20/15 R Rn. 25; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl., 2017, § 128 R Rn. 9f mit weiteren Nachweisen).
aa)
Der Bescheid vom 22.8.2012 enthält keine tragfähige Prognoseentscheidung. Seine Begründung erschöpft sich darin, den Gesetzestext
des § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII wiederzugeben verbunden mit der Feststellung, dass beim Kläger die dort genannten Voraussetzungen vorlägen, eine stationäre
Behandlung nicht mehr stattfinde und am 9.9.2012 die 78. Woche, gerechnet vom Tag des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an, ende.
Eine Begründung, warum mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen ist und (qualifizierte) LTA nicht zu erbringen
sind, enthält der Bescheid nicht (vergleiche LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.3.2014 - L 10 U 2744/12 - Rn. 38).
Dies führt jedoch noch nicht zwingend zur Rechtswidrigkeit des Bescheides. Nach § 41 Abs. 1 Nummer 2 SGB X ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, den Verwaltungsakt nach § 40 SGB X nichtig macht, unbeachtlich, wenn die erforderliche Begründung nachträglich gegeben wird, was gemäß § 41 Abs. 2 SGB X bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens möglich ist. Im Widerspruchsbescheid
vom 17.4.2013 wurde eine Begründung nachgeholt. Dazu war Widerspruchsstelle auch befugt. Soweit das LSG Berlin-Brandenburg
(Urteil vom 11.4.2013 - L 3 U 269/11 - Rn. 21; ebenso Köllner aaO, Rn. 44) unter Berufung auf ein Urteil des BSG vom 20.7.2010 (B 2 U 19/09 R - Rn. 19) die Auffassung vertritt, dass die Widerspruchsstelle funktionell und sachlich nicht zuständig sei, anstelle der
Ausgangsbehörde des Unfallversicherungsträgers zu entscheiden, folgt der Senat dem nicht. Das BSG hat in dem genannten Urteil entschieden, dass die Feststellung der Widerspruchsstelle, der Versicherte habe keinen Anspruch
auf Anerkennung einer Wie-BK, rechtswidrig sei und dem Verletzten schon in seinem verfahrensrechtlichen Recht auf Entscheidung
durch die funktional und sachlich zuständige Behörde des Leistungsträgers (§ 42 Satz 1 SGB X) verletze; denn die Widerspruchsstelle sei funktional und sachlich nicht zuständig, anstelle der Ausgangsbehörde des Trägers
(hier: des Rentenausschusses) über ein erstmals im Widerspruchsverfahren geltend gemachtes Recht zu entscheiden. Eine vergleichbare
Konstellation liegt hier jedoch nicht vor. Hier hat die Widerspruchsstelle nicht über ein erstmals geltend gemachtes Recht
entschieden, es ging vielmehr nach wie vor darum, ob der Kläger einen Anspruch auf Verletztengeld über den 9.9.2012 hinaus
hat. Zudem kommt es bei der Beantwortung der Frage, ob mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit zu rechnen und berufsfördernde
Leistungen zu erbringen sind, auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Unfallversicherungsträgers an (BSG, Urteil vom 13.9.2005 - B 2 U 4/04 R - Rn. 42). Maßgebender Zeitpunkt für die Richtigkeit einer solchen Prognose ist derjenige der letzten Verwaltungsentscheidung,
in der Regel in der Gestalt des Widerspruchsbescheids (Heinz, aaO, SGb 2016, 25, 27; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.3.2014 - L 10 U 2744/12 - Rn. 30). Daraus folgt, dass die Widerspruchsstelle befugt ist, eine Prognoseentscheidung selbst zu treffen (wie hier Ricke
in Kasseler Kommentar, 97. EL Dezember 2017, § 46 Rn. 13)
bb)
Aber auch der Widerspruchsbescheid enthält keine den Anforderungen genügende Prognoseentscheidung, jedenfalls was die Frage
angeht, ob LTA zu erbringen sind. Es wird lediglich mitgeteilt, es sei eine Überprüfung eingeleitet worden, ob und gegebenenfalls
welche LTA erbracht werden könnten; im Rahmen dieser Ermittlungen sei festgestellt worden, dass im Falle des Klägers mit einem
Erreichen der Arbeitsfähigkeit in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit nicht mehr zu rechnen sei, für eine Weiterbeschäftigung
beim bisherigen Arbeitgeber auf einem verletzungskonformen Arbeitsplatz ebenfalls nur eine ungünstige Prognose habe erhoben
werden können und im Rahmen dieser ersten Prüfstufe bereits festgestellt worden sei, dass qualifizierende LTA aller Voraussicht
nach nicht zu erbringen seien. Dass mit einem Erreichen der Arbeitsfähigkeit in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit nicht mehr
zu rechnen ist und für eine Weiterbeschäftigung beim bisherigen Arbeitgeber auf einem verletzungskonformen Arbeitsplatz nur
eine ungünstige Prognose erhoben werden kann, schließt die Erbringung qualifizierter LTA nicht aus, sondern gibt vielmehr
Anlass zur Prüfung, ob solche zu erbringen sind. Soweit die Beklagte anschließend feststellt, dass im Rahmen dieser ersten
Prüfstufe bereits festgestellt worden sei, dass qualifizierende LTA aller Voraussicht nach nicht zu erbringen seien, begründet
sie dies nicht. Es bleibt vielmehr offen, welche Erwägungen zu dieser Feststellung geführt haben und welche Umstände die Beklagte
dabei berücksichtigt hat.
Während des Gerichtsverfahrens hat die Beklagte ausgeführt, für sie habe im Zeitpunkt der Prognoseerstellung festgestanden,
dass der Kläger aufgrund der von ihm geltend gemachten Beschwerden für einen nicht absehbaren Zeitraum den Anforderungen einer
qualifizierenden beruflichen Rehabilitation - also in schulischer Form, d.h. Erlernen von Inhalten, Prüfungen usw. - gesundheitlich
nicht gewachsen (= nicht rehafähig) gewesen sei, weshalb diese übergangsgeldauslösenden Maßnahmen der beruflichen Reha nicht
in Betracht gekommen seien. Diese Erwägungen finden sich im Widerspruchsbescheid zumindest insofern wieder, als dort ausgeführt
wird, dass die Austestung durch das ASR-Zentrum nun schon mehrfach wegen anderer unfallunabhängiger Erkrankungen hätte verschoben
werden müssen, und also festzuhalten sei, dass der Kläger auch weiterhin für einen nicht absehbaren Zeitraum für eine LTA-Maßnahme
nicht zur Verfügung stehe. Dies trägt jedoch nicht die Prognoseentscheidung, dass qualifizierte LTA nicht zu erbringen sind.
Unfallbedingte Erkrankungen, die die Teilnahme an qualifizierten LTA ausschließen würden, lagen nicht vor. Die vom Kläger
vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (Diagnose: ICD-10 F32.1G) betrafen nur den Zeitraum 1.2.2013 bis 28.4.2013.
Eine ärztliche Feststellung, dass auch für einen darüberhinausgehenden Zeitraum Arbeitsunfähigkeit bzw. fehlende Rehafähigkeit
vorliegt, ist in den Akten nicht enthalten. Zu diesem Punkt hat die Beklagte weder die von ihr beauftragten Gutachter noch
ihren Beratungsarzt befragt; sie hat insoweit auch keine Auskunft bei dem behandelnden Arzt eingeholt. Im Übrigen hat der
vom SG gehörte Sachverständige Dr. Ra. ausgeführt, der Aktenlage könne entnommen werden, dass weder von chirurgischer, HNO-ärztlicher
noch neurologisch-psychiatrischer Seite Beeinträchtigungen bestünden. Ebenso hat die Sachverständige Dr. Me. darauf hingewiesen,
dass aus augenärztlicher Sicht Eignung zur vollständigen Teilnahme am Arbeitsleben sowie den davor dazu eventuell notwendigen
beruflichen oder schulischen Bildungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen bestehe.
Da der Bescheid vom 22.8.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.4.2013 rechtswidrig ist, ist die Berufung des
Klägers begründet.
4.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
5.
Der Senat lässt die Revision zu.
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