Versäumung der Berufungsfrist im sozialgerichtlichen Verfahren
Unzulässigkeit eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei fehlendem Rechtsschutzbedürfnis
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Verurteilung des Beklagten, eine ihn verurteilende Entscheidung des Sozialgerichtes Leipzig umzusetzen.
Die 1956 geborene, alleinstehende Klägerin bezog von Mai 2008 bis Juni 2011 vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes
nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Zuletzt bewilligte er ihr mit Bescheid vom 17. Januar 2011 Leistungen für die Zeit vom 28. Dezember 2010 bis zum 30. Juni
2011. Etwas mehr als fünf Jahre später bewilligte er ihr mit Bescheid vom 4. März 2016 Leistungen für die Zeit vom 1. Dezember
2010 bis zum 27. Dezember 2010.
Der Rentenversicherungsträger bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 12. Mai 2011 rückwirkend ab dem 1. März 2010 eine Rente
wegen voller Erwerbsminderung.
Der Beklagte wies mit Bescheid vom 23. Dezember 2010, der an die Klägerin adressiert war, den Bevollmächtigten der Klägerin,
B ..., nach § 13 Abs. 5 und 6 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) zurück. Hiergegen legte B ... im Namen der Klägerin mit Schreiben vom 27. Dezember 2010 Widerspruch ein.
Die Klägerin persönlich hat mit Schreiben vom 5. Oktober 2011, eingegangen am 11. Oktober 2011, Klage erhoben mit dem Antrag,
den Beklagten zu verurteilen, "die Rechtsentscheidung des SG Leipzig im Gerichtsbescheid vom Mai 2011, Bescheidung des Widerspruchs
vom 27.12.2010 gegen den Zurückweisungsbescheid vom 23.12.2010, umzusetzen." In der Klageschrift ist Z ... als Zustellungsbeauftragter
benannt.
Der Beklagte hat den Widerspruch gegen den Bescheid vom 23. Dezember 2010 mit Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 2012 (Az. W 967/11) als unbegründet zurückgewiesen.
Mit Schreiben vom 26. Mai 2015 (GA 28) hat B ... mitgeteilt, dass Z ... nicht mehr als Zustellungsbeauftragter zur Verfügung
stehe. Mit Schreiben vom 21. Juli 2015 (GA 30) hat er dann eine von der Klägerin am 14. Juli 2015 auf ihn ausgestellte Generalvollmacht
zur Akte gereicht. Die Kammervorsitzende hat am 4. August 2015 (GA 32) verfügt, dass B ... als Prozessbevollmächtigter der
Klägerin einzutragen sei.
Die Beschwerde vom 11. April 2016, mit dem der Klägerbevollmächtigte gerügt hat, das Sozialgericht beachte die Einrichtung
eines Zustellungsbevollmächtigten nicht, ist mit Beschluss vom 10. Mai 2016 (Az. L 3 AS 346/16 B) als unzulässig verworfen worden.
Gegenüber dem Sozialgericht hat der Klägerbevollmächtigte mit Schreiben vom 15. April 2016 angefragt, weshalb die Zustellungsbevollmächtigung
von Z ... nicht beachtet werde. Auf die gerichtliche Anfrage vom 19. April 2016, an wen künftig die Gerichtspost versandt
werden solle, hat er zunächst nicht reagiert. In der Niederschrift zum Erörterungstermin am 21. April 2016, an dem für die
Klägerin niemand teilgenommen hat, ist festgehalten, dass auf Wunsch des Klägerbevollmächtigten die Gerichtspost künftig an
den Zustellungsbevollmächtigung gesandt werde. Eine Abschrift der Niederschrift ist dem Zustellungsbevollmächtigten zugesandt
worden. Mit Schreiben vom 22. April 2016, beim Sozialgericht eingegangen am 25. April 2016, hat der Klägerbevollmächtigte
geäußert, dass er die Anfrage vom 19. April 2016 nicht verstehe; er sei weiterhin unter seiner angegebenen Anschrift zu erreichen.
Anschließend hat er mit Schreiben vom 7. Mai 2016 erklärt, dass sich ihm die Niederschrift vom 21. April 2016 nicht erschließe.
Es treffe nicht zu, "dass der Unterzeichner den Zustellbevollmächtigten (zuerst) angegeben hat."
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 24. Mai 2016 abgewiesen. Die Untätigkeitsklage sei unzulässig geworden,
nachdem der Beklagte über den Widerspruch entschieden habe.
Die Kammervorsitzende hat am 24. Mai 2016 verfügt, dass der Gerichtsbescheid (ebenso wie der Prozesskostenhilfebeschluss)
sowohl an die Klägerin persönlich als auch an B ... und Z ... jeweils mit Zustellungsurkunde zuzustellen ist. Ausweislich
der Abschlussverfügung gibt es jedoch nur zwei Zustellungsvorgänge, nämlich an die Klägerin persönlich und an Z ...
Mit Schreiben vom 8. Mai 2018, eingegangen am 9. Mai 2018, hat der Klägerbevollmächtigte zu sechs Klageverfahren, unter anderem
auch dem hier vorausgegangenen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bezug auf die Berufungsfrist beantragt und Berufung
eingelegt (Az. L 3 AS 385/18). Die Schreiben seien ihm erst vor drei Tage ausgehändigt worden. Es sei ein falscher Protzessbevollmächtigter benannt. Z
... sei seit Jahren nicht mehr Zustellungsbevollmächtigter gewesen. Im März 2019 (GA 103) ist die Bevollmächtigung der Klägerbevollmächtigten
für dieses Verfahren nachgewiesen worden.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
I. ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bezug auf die Berufungsfrist zu gewähren und nach der Wiedereinsetzung II.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Leipzig vom 25. Mai 2016 aufzuheben sowie den Beklagten zu verurteilen, die Rechtsentscheidung
des Sozialgerichtes Leipzig im Gerichtsbescheid vom Mai 2011 (Bescheidung des Widerspruchs vom 27. Dezember 2010 gegen den
Zurückweisungsbescheid vom 23. Dezember 2010) umzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist abzulehnen.
Der Klägerbevollmächtigte hat mit Schreiben vom 26. August 2019 Akteneinsicht beantragt, die gewährt worden ist. Das Amtsgericht
C ... hat mit Schreiben vom 12. September 2019 die Akten als unerledigt zurückgesandt; der Klägerbevollmächtigte habe mitgeteilt,
dass er erkrankt sei.
Mit Vorsitzendenschreiben vom 29. August 2019 ist der Klägerbevollmächtigte darauf hingewiesen worden, dass die angestrebte
Berufung offensichtlich erfolglos sein werde, und dass deshalb dem Wiedereinsetzungsantrag das Rechtsschutzbedürfnis fehle.
Er ist ferner darauf hingewiesen worden, dass die Fortführung des Verfahrens rechtsmissbräuchlich sei und der Senat prüfen
werde, ob Verschuldenskosten festgesetzt würden.
Der Terminaufhebungsantrag des Klägerbevollmächtigten im Schreiben vom 3. September 2019, eingegangen am 6. September 2019,
ist mit Schreiben des Vorsitzenden vom 9. September 2019 abgelehnt worden.
Das Ablehnungsgesuch des Klägerbevollmächtigten im Schreiben vom 16. September 2019 gegen den Senatsvorsitzenden ist in der
mündlichen Verhandlung am 19. September 2019 durch Beschluss als unzulässig verworfen worden.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten zu den Verfahren Az. S 21 AS 3233/11, L 3 AS 346/16 B und L 3 AS 385/18 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
I. Der Klägerbevollmächtigte ist auf Grund der im März 2019 nachgewiesenen, auch das vorliegende Verfahren betreffenden Prozessvollmacht
befugt, die Klägerin im vorliegenden Verfahren zu vertreten. Die späteren Ausführungen des Klägerbevollmächtigten zu diesem
Thema sind deshalb nicht entscheidungserheblich.
II. Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Klägerin und ihres Prozessbevollmächtigten verhandeln und entscheiden, weil sie
hierauf in der Ladung hingewiesen worden ist (vgl. §
153 Abs.
1 i. V. m. §
110 Abs.
1 Satz 2 des
Sozialgerichtsgesetzes [SGG]).
III. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht zulässig, weil der Klägerin hierfür das Rechtsschutzbedürfnis
fehlt.
1. Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, ist ihm gemäß §
67 Abs.
1 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses
zu stellen (vgl. §
67 Abs.
2 Satz 1
SGG). Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden (vgl. §
67 Abs.
2 Satz 2
SGG). Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (vgl. §
67 Abs.
2 Satz 3
SGG). Wenn dies geschehen ist, kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (vgl. §
67 Abs.
2 Satz 4
SGG).
2. Diese Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind jedoch nur zu prüfen, wenn der Wiedereinsetzungsantrag
zulässig ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall, weil es dem Antrag am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis mangelt.
a) Das Rechtsschutzbedürfnis ist eine allgemeine Sachurteilsvoraussetzung, die bei jeder Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung
gegeben sein muss. Der Begriff des Rechtsschutzbedürfnisses bedeutet, dass nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten
gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung
hat (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 27. März 2014 - L 3 AS 187/14 B ER - ZFSH/SGB 2014, 434 ff. = info also 2014, 125 ff. = juris Rdnr. 15, m. w. N.; Sächs. LSG, Urteil vom 24. Januar 2019 - L 3 AS 476/17 - juris Rdnr. 30, m. w. N.). Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt unter anderem, wenn die begehrte gerichtliche Entscheidung weder
gegenwärtig noch zukünftig die Stellung des Klägers oder Antragstellers verbessern würde (vgl. BSG, Urteil vom 22. März 2012 - B 8 S= 24/10 R - NZS 2012, 798 [799] = juris Rdnr. 10; Sächs. LSG, Urteil vom 19. April 2018 - L 3 AL 71/16 - juris Rdnr. 42, m. w. N.).
Dies ist vorliegend der Fall. Denn dem in Folge einer etwaigen positiven Wiedereinsetzungsentscheidung eröffnete Hauptsacheverfahren,
vorliegend dem Berufungsverfahren gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Leipzig vom 25. Mai 2016, wird offensichtlich
der Erfolg versagt bleiben. Das Wiedereinsetzungsverfahren wird deshalb vorliegend um seiner selbst geführt werden, ohne die
Stellung der Klägerin in Bezug auf ihr eigentliches Rechtsschutzbegehren zu verbessern. Für die Durchführung eines Wiedereinsetzungsverfahrens,
das auf die Eröffnung eines Hauptsacheverfahrens, das offensichtlich erfolglos verlaufen wird, gerichtet ist, fehlt aber ein
rechtsschutzwürdiges Interesse.
b) Das angestrebte Berufungsverfahren gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Leipzig vom 25. Mai 2016 wird für die
Klägerin offensichtlich erfolglos enden. Denn für das Berufungsverfahren fehlt seinerseits das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis,
weil sich der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt hat (vgl. hierzu Sächs. LSG, Urteil vom 24. September 2015 - L 3 AS 1738/13 - ZFSH/SGB 2016, 99 ff. = juris Rdnr. 34, m. w. N.; Ehlers, in: Schoch/Schneider/Bier,
Verwaltungsgerichtsordnung [36 Erg.-Lfg., Februar 2019], Vor §
40 Rdnr. 94).
Ein Rechtsstreit ist erledigt, wenn ein nach Klageerhebung eingetretenes außergerichtliches Ereignis dem Rechtsschutzbegehren
die Grundlage entzogen hat und das Rechtsschutzbegehren deshalb für den Rechtsschutzsuchenden gegenstandlos geworden ist (vgl.
Sächs. LSG, Urteil vom 24. September 2015, a. a. O., Rdnr. 35, m. w. N.; Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier,
Verwaltungsgerichtsordnung [36 Erg.-Lfg., Februar 2019], §
161 Rdnr. 9, m. w. N.).
Vorliegend wird klägerseits weiterhin das Ziel verfolgt, den Beklagten zu verurteilen, den Widerspruch vom 27. Dezember 2010
gegen den Zurückweisungsbescheid vom 23. Dezember 2010 zu bescheiden. Dieses Ziel ist aber bereits im Laufe des Klageverfahrens
Az. S 21 AS 3233/11 erreicht worden, als der Beklagte den Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 2012 (Az. W 967/11) erlassen hat. Das Sozialgericht hat deshalb im Gerichtsbescheid vom 25. Mai 2016 zutreffend ausgeführt, dass sich der Rechtsstreit
in der Hauptsache erledigt hat.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§
183,
193 SGG.
Der Senat hat die Auferlegung von Verschuldenskosten gemäß §
192 Abs.
1 Satz 1 Nr.
2, Satz 2 und 3
SGG i. V. m. §
184 Abs.
2 SGG geprüft. Obwohl der Klägerin gemäß §
192 Abs.
1 Satz 2
SGG ihr Prozessbevollmächtigter gleichsteht und diesem die Aussichtslosigkeit des Wiedereinsetzungsantrages vor Augen geführt
worden ist, sieht der Senat im vorliegenden Fall im Interesse der Klägerin von einer solchen Entscheidung ab.
V. Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.