Erforderlichkeit von Anhörungen vor dem Erlass von Gerichtsbescheiden im sozialgerichtlichen Verfahren; Verfassungsmäßigkeit
der Anhebung der Altersgrenze für Altersrenten in Verbindung mit Abschlägen bei vorzeitiger Inanspruchnahme und der Anwendung
des aktuellen Rentenwertes Ost in der gesetzlichen Rentenversicherung
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten eine höhere Altersrente ohne die Berücksichtigung der Verminderung des Zugangsfaktors
wegen vorzeitiger Inanspruchnahme und unter Zugrundelegung des aktuellen Rentenwerts statt des aktuellen Rentenwerts (Ost).
Die am ... 1945 geborene und im Beitrittsgebiet wohnhafte Klägerin beantragte am 11. Februar 2005 bei der Beklagten eine Altersrente
für Frauen ab dem 01. Juni 2005 (Vollendung des 60. Lebensjahres). Diese Rente wurde ihr mit Bescheid vom 07. Juni 2005 wie
beantragt bewilligt, wobei die Beklagte bei der Berechnung der Rente den Zugangsfaktor wegen vorzeitiger Inanspruchnahme (5
Jahre = 60 Monate) von 1,0 um 0,180 (60 Monate mal 0,003) auf 0,820 kürzte und den aktuellen Rentenwert (Ost) anwandte.
Mit Bescheid vom 18. Juli 2012 setzte die Beklagte die Rente neu fest, wobei sie die Kürzung des Zugangsfaktors und die Anwendung
des aktuellen Rentenwertes (Ost) beibehielt. Dagegen legte die Klägerin am 14. August 2012 Widerspruch ein, mit dem sie die
Kürzung des Zugangsfaktors und die unterschiedliche Behandlung von Rentnern in Ost und West rügte. Die Abschläge seien verfassungswidrig.
Dies gelte insbesondere für die Kürzung des Zugangsfaktors auch nach Vollendung des 65. Lebensjahres. Dadurch drohe ihr die
Altersarmut. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2013 zurück. Die Berechnung der Höhe
der Rente der Klägerin entspreche den gesetzlichen Grundlagen. Diese seien auch verfassungsgemäß.
Daraufhin hat die Klägerin am 15. Februar 2013 Klage beim Sozialgericht Halle (SG) erhoben, die sie zunächst nicht begründet hat. Mit Verfügung vom 12. August 2013 hat das SG der Klägerin mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Sie erhalte bis zum 10. September
2013 Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Mit Schriftsatz vom 21. August 2013 - bei Gericht eingegangen am 22. August 2013 -
hat die Klägerin zur Begründung ihrer Berufung vorgetragen, sie habe wegen Arbeitslosigkeit vorzeitig aus dem Erwerbsleben
ausscheiden müssen. Für sie habe Vertrauensschutz dahingehend gegolten, dass sie ab dem 60. Lebensjahr ihre Rente ohne Abschläge
beziehen könne. So sei sie von Mitarbeitern des Arbeitsamtes informiert worden. Aus Gründen der Fairness sei in ihrem Falle
zu prüfen, ob nicht zumindest nach Vollendung des 65. Lebensjahres die Rente ohne Abschläge zu zahlen sei. Auch das Bundessozialgericht
(BSG) habe die Ansicht vertreten, dass die Altersrente für Frauen mit Abschlägen verfassungswidrig sei. Ohne die Klägerin erneut
anzuhören, hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17. September 2013 abgewiesen. Sowohl die Kürzung des Zugangsfaktors als auch die Anwendung
des aktuellen Rentenwertes (Ost) seien von den gesetzlichen Vorschriften vorgesehen. Diese Bestimmungen seien auch nicht verfassungswidrig,
was sowohl vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als auch vom BSG so gesehen werde.
Gegen den am 28. September 2013 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 23. Oktober 2013 Berufung beim SG eingelegt, das das Rechtsmittel an das Landessozialgericht weitergeleitet hat. Wegen ihrer geringen Rente sei sie von Altersarmut
betroffen und voll von ihrem Ehemann abhängig. In den letzten Jahren habe es in vielen Bereichen Preissteigerungen gegeben.
Sie hätte gern bis zu ihrem 65. Lebensjahr gearbeitet, dies sei aber nicht möglich gewesen, weil sie wegen ihres Lebensalters
keine Festanstellung mehr erhalten habe.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Halle vom 17. September 2013 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides
vom 18. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2013 zu verurteilen, ihr ab dem 01. Juni 2010 eine
höhere Altersrente auf der Grundlage eines ungeminderten Zugangsfaktors von 1,0 und des aktuellen Rentenwerts statt des aktuellen
Rentenwerts (Ost) zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Halle vom 17. September 2013 zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass der Gerichtsbescheid des SG in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht zu beanstanden sei.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen
der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und
der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß den §§
143,
144 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) statthafte und auch in der von §
151 SGG geforderten Form und Frist eingelegte Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Zwar dürfte das Verfahren vor dem SG an einem Verfahrensmangel leiden (nachfolgend 1.) Die von der Beklagten vorgenommene Berechnung der Höhe der Rente der Klägerin
entspricht aber dem geltenden Recht (nachfolgend 2.). Der Senat konnte sich auch nicht davon überzeugen, dass die der Rentenberechnung
zugrunde liegenden Rechtsvorschriften verfassungswidrig sind (nachfolgend 3.). Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide
deshalb nicht in ihren Rechten im Sinne von §
54 Abs.
2 Satz 1
SGG beschwert.
1.
Die Entscheidung des SG durch Gerichtsbescheid dürfte zwar verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sein. Nach §
105 Abs.
1 Satz 2
SGG sind die Beteiligten vor Erlass eines Gerichtsbescheides dazu anzuhören. Dabei ist eine Anhörungsmitteilung regelmäßig nur
einmal erforderlich. Dies gilt aber dann nicht, wenn sich die Prozesssituation nach der entsprechenden Mitteilung wesentlich
geändert hat. Dies kann der Fall sein, wenn erst danach eine Klagebegründung eingereicht wird (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Auflage, §
105 Rdnr. 11, mit weiteren Nachweisen).
Ein solcher Fall liegt hier vor, da die Klägerin ihre Klage erst nach der Anhörungsmitteilung vom 12. August 2013 mit dem
bei Gericht am 22. August 2013 eingegangenen Schriftsatz vom 21. August 2013 begründet hat. Eine Zurückverweisung der Sache
an das SG scheidet aber aus, da eine insoweit von §
159 Abs.
1 Ziff. 2
SGG geforderte aufwändige Beweisaufnahme in diesem Verfahren nicht erforderlich ist.
2.
Die Berechnung der Höhe der Rente der Klägerin entspricht dem geltenden Recht. Gemäß §
64 des
Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung (
SGB VI) ergibt sich der Monatsbetrag einer Rente durch die Vervielfältigung der unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten
persönlichen Entgeltpunkte, des Rentenartfaktors und des aktuellen Rentenwerts. Die Beklagte hat sowohl den für die Rente
der Klägerin maßgeblichen Zugangsfaktor als auch die Höhe des aktuellen Rentenwerts unter Beachtung der maßgeblichen Vorschriften
des Rentenrechts zutreffend ermittelt.
Gemäß §
77 Abs.
2 Satz 1 Nr.
2 Buchstabe a)
SGB VI ist bei Renten wegen Alters der Zugangsfaktor von 1,0 um jeden Monat der vorzeitigen Inanspruchnahme um 0,003 zu kürzen.
Für die am ... 1945 geborene Klägerin bildet die Regelaltersgrenze die Vollendung des 65. Lebensjahres (vgl. §
235 Abs.
2 Satz 1
SGB VI). Sie hat die Altersrente ab Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch genommen, so dass der Zugangsfaktor von 1,0 (§
67 Nr. 1
SGB VI) um 60 Monate (= 5 Jahre) à 0,003 Punkte = 0,180 auf 0,820 zu kürzen war. Die Vertrauensschutzregelungen des §
237 Abs.
4 Satz 1 Nr.
3 SGB VI können wegen des Lebensalters der Klägerin bei ihr keine Anwendung finden.
Die Beklagte hat der Berechnung der Höhe der Rente auch zutreffend den aktuellen Rentenwert (Ost) zugrunde gelegt. Dies folgt
aus den §§ 255a, 255b
SGB VI.
3.
Der Senat konnte sich auch nicht davon überzeugen, dass die genannten Regeln verfassungswidrig sind, so dass auch eine Aussetzung
des Verfahrens gemäß Artikel
100 Abs.
1 Satz 1
Grundgesetz ausscheidet.
Das BVerfG hat bereits entschieden, das die Anhebung der Altersgrenze für Altersrenten in Verbindung mit den Abschlägen bei
vorzeitiger Inanspruchnahme nicht verfassungswidrig ist (Beschluss vom 11. November 2008 - 1 BvL 3/05 u.a. -). Dem hat sich das BSG angeschlossen (Urteile vom 19. November 2009 - B 13 R 5/09 R - und vom 25. Februar 2010 - B 13 R 41/09 -). Auch der erkennende Senat sieht keine Anhaltspunkte, die genannten Regelungen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten
in Zweifel zu ziehen.
Auch bei der Anwendung des aktuellen Rentenwertes (Ost) handelt es sich nach der Rechtsprechung des BSG um eine nicht verfassungswidrige Entscheidung des Gesetzgebers (Urteil vom 04. März 2006 - B 4 RA 41/04 R - und Beschluss vom 04. Januar 2013 - B 13 R 357/11 B -). Dem schließt sich der erkennende Senat ebenfalls an. Die Angleichung der Einkommens- und Lebensverhältnisse in Ost
und West ist noch nicht so weit fortgeschritten, als dies nicht die unterschiedlichen Rentenwerte in Ost und West rechtfertigen
würde.
4.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.