Leistungsausschluss; Altersrentenbezug; ausländische Altersrente; russische Altersrente; Sprach- und Leseprobleme; Verständigungsprobleme;
grob fahrlässiges Handeln; Sorgfaltspflichtverstoß; unvollständige Angaben; deutsche Sprache; Übersetzung; Hilfsperson; Dolmetscher;
Erstattungsanspruch; Meistbegünstigungsgrundsatz; Kenntnisgrundsatz; sachliche Zuständigkeit; Leistungsrecht; Erstattungsrecht
Tatbestand:
Die Klägerin und Berufungsklägerin (im Weiteren: Klägerin) wendet sich gegen einen Rücknahme- und Erstattungsbescheid des
Beklagten und Berufungsbeklagten (im Weiteren: Beklagter), mit dem Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Oktober 2009 zurückgefordert werden.
Die am ... 1947 in M. geborene Klägerin ist russische Staatsangehörige. Sie besitzt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis
für die Bundesrepublik Deutschland. Nach einer Zusage des Bundesverwaltungsamts über die "Aufnahme jüdischer Emigranten aus
der ehemaligen Sowjetunion" reiste sie am 7. Mai 2004 ein. Zuvor hatte sie auf einem zweisprachigen Vordruck eine Zoll- und
Devisenerklärung abgegeben, in der sie zu ihren monatlichen Einkünften in der Rubrik "Gehalt/Rente/Sozialleistungen" einen
Betrag von 2.365 Rubel angab. Weiterhin erklärte sie, Eigentümerin einer 42,7 m² großen Wohnung zu sein, die jetzt von ihrem
Bruder bewohnt werde.
Nach ihrer Einreise wurde die Klägerin zunächst bis zum 1. Juli 2004 in der Landesaufnahmestelle für jüdische Emigranten in
D. untergebracht. Am 11. Mai 2004 stellte sie beim Sozialamt, Hilfe für Spätaussiedler und Flüchtlinge, der Beigeladenen unter
Vorlage der zweisprachigen Zollerklärung einen Kurzantrag auf Sozialhilfeleistungen. Zu ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen
gab sie an, 200 EUR Bargeld zu besitzen. Zu den weiteren im Formular abgefragten Punkten: "Einkommen, Vermögen, Grundstücke/Haus,
sonstige Werte im Sinne des § 88 BSHG" machte sie keine Angaben. Die Beigeladene bewilligte Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) im Form von Sachleistungen im Wohnheim und Barleistungen in Tagessätzen von 5,25 EUR. Zum 1. Juli 2004 wies das Landesverwaltungsamt
die Klägerin zur Wohnsitznahme der Stadt D. zu. Sie stellte einen weiteren Antrag auf Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt
und Hilfe in besonderen Lebenslagen - Krankenhilfe). Sie gab an, ihr erlernter und zuletzt ausgeübter Beruf sei "Wirtschaftsfachmann"
gewesen. Fragen nach Einkommen und Vermögen verneinte sie durch Streichung der jeweiligen Unterpunkte: a. beim Einkommen:
Arbeitsentgelt, Renten aus der Sozialversicherung, Renten nach dem BVG, Landwirtschaftliches Altersgeld, Lastenausgleich, Pension, Leistungen des Arbeitsamtes, Kindergeld, Krankenversicherung,
Unterhaltszahlungen und sonstige Einnahmen; b. beim Vermögen: Bank- und Sparguthaben, Wertpapier/Aktien, Bausparverträge,
Grundvermögen, Kraftfahrzeuge/Maschinen und sonstiges Vermögen.
Die Beigeladene gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt und Krankenhilfe sowie nach Bezug einer Wohnung im Oktober 2004 auch Kosten
der Unterkunft und Heizung (KdU) und Beihilfen für die Ausstattung.
Bereits mit Schreiben vom 1. September 2004 wies die Beigeladene die Klägerin unter Übersendung von SGB II-Antragsformularen auf die im Januar 2005 bevorstehende Umstellung der bisherigen Sozialhilfe auf die neuen Regelungen im
SGB II hin. Die Beigeladene vergab einen Termin zur Antragsabgabe im Sozialamt und benannte zwei Anlaufstellen, die Hilfe anböten
beim Ausfüllen der Antragsvordrucke.
Nach einem Vermerk in der Verwaltungsakte teilte "das Arbeitsamt" der Beigeladenen am 15. Dezember 2004 telefonisch mit, die
Klägerin werde ab 20. Dezember 2004 einen Sprachkurs besuchen, "Leistungen d. AA" würden erstmalig am 30. Dezember 2004 ausgezahlt.
Im Hinblick darauf werde "keine KE abgefordert". Belege über den Bezug von
SGB III-Leistungen oder die Kursteilnahme der Klägerin sind in der Sozialhilfeakte nicht enthalten.
Am 22. Oktober 2004 stellte die Klägerin einen SGB II-Leistungsantrag. Unter VI. des Formulars "Einkommensverhältnisse des Antragstellers", in dem beispielhaft Einnahmen aus nichtselbständiger
oder selbständiger Arbeit, Vermietung oder Verpachtung, Kindergeld, Entgeltersatzleistungen, Arbeitslosengeld, Übergangsgeld,
Krankengeld, Renten aus der Sozialversicherung, Betriebsrenten oder Pensionen, Unterhaltszahlungen etc. aufgeführt und abgefragt
wurden, gab sie an, sie beziehe Sozialhilfe. Sie erklärte zudem, sie besitze kein Vermögen mit einem Wert von mehr als 4.850
EUR. Im Zusatzblatt 2 "Einkommenserklärung/Verdienstbescheinigung" kreuzte sie an, sie beziehe "sonstiges Einkommen", Sozialhilfe
in Höhe von 273,94 EUR monatlich. Zu den übrigen genannten Einkommensarten, wie Arbeitsentgelt, Einkommen aus selbständiger
Tätigkeit, Rente, Pension, Arbeitslosengeld, Einmalige Einnahmen, machte sie keine Angaben. Bei der Antragstellung legte sie
eine Kopie der Aufenthaltserlaubnis, eine Bescheinigung der Ausländerbehörde, ein Schreiben der LVA Sachsen-Anhalt mit der
Vergabe einer Versicherungsnummer und eine vorläufige Mitgliedsbescheinigung der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Weiterhin
legte sie eine Karte der Agentur für Arbeit D. vor, auf der Name, Geburtsdatum und Kundennummer der Klägerin vermerkt sind.
Der Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 24. November 2011 für den Zeitraum von Januar bis April 2005 SGB II-Leistungen von zunächst 566,80 EUR (Regelleistung: 331,00 EUR, KdU: 235,80 EUR). Die Leistungen wurden mit einem Änderungsbescheid
leicht erhöht. Auf den Weiterbewilligungsantrag, in dem die Klägerin erklärte, in ihren persönlichen Verhältnissen hätten
sich keine relevanten Änderungen ergeben, bewilligte der Beklagte weiter SGB II-Leistungen. Jeweils zum Ablauf des sechsmonatigen Bewilligungsabschnitts beantragte die Klägerin die Weitergewährung der
Leistungen und gab jeweils an, es hätten sich keine Änderungen in den Einkommensverhältnissen ergeben. Im Weiterbewilligungsverfahren
für die Zeit ab Mai 2008 war die "Anlage EK" erneut auszufüllen: Die Klägerin verneinte, eine Rente aus der gesetzlichen Sozialversicherung
(z.B. Rente wegen Alters- oder Knappschaftsausgleichsleistungen, Unfall-/Verletztenrente), Betriebsrenten oder Pensionen"
zu beziehen.
Mit Bescheiden, Änderungsbescheiden sowie Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 24. November 2004, 21. April, 7. September
und 14. Oktober 2005, 1. April und 27. Oktober 2006, 13. und 29. März, und 26. Oktober 2007, 7. April und 8. Oktober 2008
und 23. April 2009 gewährte der Beklagte die folgenden Leistungen:
- Tabelle nicht darstellbar -
Im August 2009 gingen bei dem Beklagten zwei gleichlautende Schreiben ein, in denen u.a. mitgeteilt wurde, die Klägerin beziehe
eine russische Rente von ca. 300 EUR monatlich, die auf ein Konto in Russland gezahlt werde. Sie verwende das Geld bei Urlauben
in Russland.
Unter dem 26. Oktober 2009 teilte der Beklagte der Klägerin mit, über den Leistungsantrag für die Zeit ab November 2009 könne
noch nicht entschieden werden. Er forderte sie unter Hinweis auf ihre Mitwirkungspflichten auf, eine Kopie ihres Rentenbescheids
in deutscher Sprache vorzulegen und anzugeben, seit wann und in welcher Höhe Rentenzahlungen erfolgten. Zudem seien Unterlagen
zum Wohnungsverkauf vorzulegen.
Mit Schreiben vom 15. November 2009 beschwerte sich die Klägerin über die Mitarbeiter des Beklagten und verwies auf ihre Zollerklärung
vom 30. Januar 2004, in der sie die Höhe der Rente angegeben habe. Diese könne der Beklagte "bei Bedarf aus der Erklärung
rausholen". Bei der Vorsprache am 20. November 2009 legte sie Kopien des russischen Reisepasses, der Zoll- und Devisenerklärung
sowie eines von ihr ausgefüllten Fragebogens der Bundesversicherungsanstalt über Anrechnungszeiten in der ehemaligen Sowjetunion
vor. Zudem legte sie in Kopie ein Dokument in russischer Sprache mit einer kursorischen, von Y. Z., gefertigten Übersetzung
vor. Danach belief sich die von ihr bezogene lebenslängliche Rente seit April 2007 auf 3.536,73 Rubel monatlich, was nach
der Ermittlung des Beklagten am 10. November 2009 einem Wert von 82,16 EUR entsprach. Weiterhin legte sie in Kopie ein "Rentenbuch"
vor, aus dem sich der o.g. Rentenbetrag ab April 2007 und für die Zeit ab Oktober 1997 ein geringerer Rentenbetrag ergab.
Die Klägerin erklärte dazu, sie beziehe seit Oktober 1997 eine Altersrente für Frauen ab 55 Jahre. Der anwesende Herr Z. erklärte,
er sei ein Bekannter der Klägerin und habe ihr gemeinsam mit einem Sozialarbeiter der jüdischen Gemeinde beim Ausfüllen der
Anträge geholfen. Viele der aus Russland stammenden SGB II-Leistungsberechtigte seien in derselben Lage wie die Klägerin und bezögen neben der russischen Rente noch SGB II-Leistungen. Bislang habe noch nie jemand nach der russischen Rente gefragt.
Am 24. November 2009 beantragte die Klägerin bei der Beigeladenen Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII), die auch bewilligt wurde.
Mit Bescheid vom 26. November 2009 lehnte der Beklagte den Leistungsantrag der Klägerin ab. Gemäß § 7 Abs. 4 SGB II lägen wegen des Bezugs einer Altersrente die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch nach dem SGB II nicht vor.
Unter dem 26. November 2009 meldete der Beklagte bei der Beigeladenen einen Erstattungsanspruch nach den §§ 103, 104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) an und zeigte an, dass er SGB II-Leistungen zahle bzw. gezahlt habe.
Mit Schreiben vom 19. Januar 2010 hörte der Beklagte die Klägerin zur beabsichtigten Rückforderung der im Zeitraum vom 1.
Januar 2005 bis zum 31. Oktober 2009 gezahlten SGB II-Leistungen an. Die Voraussetzungen für einen Leistungsbezug nach dem SGB II hätten gemäß § 7 Abs. 4 SGB II nicht vorgelegen, weil sie eine russische Altersrente für Frauen beziehe. Ihr sei die Fehlerhaftigkeit der Leistungsgewährung
bekannt gewesen (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Die SGB II-Leistungen seien gemäß § 50 SGB X zu erstatten. Ebenso seien die erbrachten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II iVm §
335 Abs.
1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung (
SGB III) zu erstatten. Unter Auflistung der erbrachten Leistungen in den einzelnen Bewilligungszeiträumen bezifferte er die Gesamtforderung
auf 42.155,88 EUR.
In einem am 2. Februar 2010 beim Beklagten eingegangenen Schreiben führte die Klägerin aus, sie habe ihre russische Rente
nie verheimlicht. Sie sei in allen Dokumenten erwähnt - insbesondere in der Vermögenserklärung vom 30. Januar 2004. Die Rente
sei sehr gering, sie reiche nicht für den Lebensunterhalt. Deshalb erhalte sie SGB II-Leistungen für den Regelbedarf als Zuschuss zur Rente.
Mit auf § 40 Abs. 1 SGB II iVm § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X, 330 Abs.
2 SGB III und § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestütztem Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 16. Februar 2010 nahm der Beklagte seine Leistungsbewilligungen für den
Zeitraum von Januar 2005 bis Oktober 2009 ganz zurück. Er listete die in den einzelnen Bewilligungszeiträumen eingetretenen
Überzahlungen differenziert nach Regelleistung, KdU sowie Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung auf und bezifferte
eine Überzahlung von 42.155,88 EUR. Zur Begründung führte er aus, die Klägerin habe SGB II-Leistungen bezogen, ohne leistungsberechtigt zu sein. Sie beziehe eine Altersrente, die sie in ihren Leistungsanträgen gegenüber
dem Beklagten nicht angegeben habe. Sie habe sogar ein Einkommen aus Rente ausdrücklich verneint. Aufgrund der zumindest grob
fahrlässig falschen und unvollständigen Angaben sei die fehlerhafte Bewilligung (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X) erfolgt. Zudem habe sie die Rechtswidrigkeit der Bewilligungen erkennen können (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Soweit sie aufgrund unzureichender Deutschkenntnisse die Leistungsanträge unvollständig bzw. fehlerhaft ausgefüllt habe,
rechtfertige dies keine andere Entscheidung. Die Amtssprache sei deutsch (§ 19 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Zudem habe sie erklärt, dass ihr Sozialarbeiter der jüdischen Gemeinde beim Ausfüllen der Anträge geholfen hätten. Sie
habe jeweils mit ihrer Unterschrift die Richtigkeit der Angaben in den Anträgen bestätigt. Es sei der Gesamtbetrag der gezahlten
Leistungen zu erstatten.
Dagegen legte die Klägerin am 4. März 2010 Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 2010 als
unbegründet zurückwies. Der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II für Bezieher von Altersrenten gelte grundsätzlich auch für ausländische Altersrenten, wenn sie einer deutschen Rente vergleichbar
seien. Es komme nicht auf die Höhe des Rentenbetrags an. Da die Klägerin seit 1997 eine russische Altersrente erhalte, habe
sie im Zeitraum von Januar 2005 bis Oktober 2009 keinen SGB II-Leistungsanspruch. Die von Anfang an rechtswidrigen Bewilligungsbescheide seien gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB II mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, da sich die Klägerin nicht auf Vertrauen berufen könne. Es sei von grober
Fahrlässigkeit iSv § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X auszugehen, da sie nach den Hinweisen in Vordrucken und Merkblättern hätte wissen müssen, dass Angaben zum Rentenbezug zu
machen waren. Im Erstantrag sei nach einem Rentenbezug gefragt worden, den die Klägerin - wie auch in den Folgeanträgen -
verneint habe. Zudem hätte sie die Rechtswidrigkeit der Bewilligungen erkennen können. Die SGB II-Leistungen von insgesamt 34.307,03 EUR seien gemäß § 50 Abs. 1 SGB X und die für den Zeitraum gezahlten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung von insgesamt 7.848,85 EUR seien nach §
335 SGB III iVm § 40 Abs. 1 SGB II zu erstatten. Es ergebe sich ein Gesamtbetrag von 42.155,88 EUR.
Am 22. Juni 2010 hat die Klägerin beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) Klage erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, der Beklagte habe im Rücknahme- und Erstattungsbescheid nicht berücksichtigt,
dass sie die deutsche Sprache nicht beherrsche. Ihr Verständnis der gesprochenen Sprache sei gering und sie sei nicht in der
Lage, sich selbst mündlich auszudrücken. Die Schriftsprache verstehe sie nicht, insbesondere dann nicht, wenn sie in lateinischen
Buchstaben geschrieben sei. Sie könne allein kyrillische Buchstaben lesen. Sie habe den Bezug der russischen Rente beim Ausfüllen
der Anträge nicht verschwiegen. Sie habe den Inhalt der Formulare nicht verstanden. Immer dann, wenn man sie in russischer
Sprache und in kyrillischen Buchstaben nach der Altersrente gefragt habe, habe sie diese auch angegeben. Dies gelte beispielsweise
für ihre Angaben gegenüber der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Wegen des Verständigungsproblems sei ihr keine
grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Der Verweis auf die Amtssprache sei zynisch Da ihre Rente nicht bedarfsdeckend sei, müsse
ohnehin ein Sozialleistungsträger Leistungen erbringen. Es sei kein Schaden entstanden. Daher bestehe kein Grund für eine
Rücknahme der Bewilligungen. Die betroffenen Leistungsträger (SGB II und SGB XII) seien zur Zusammenarbeit verpflichtet und könnten die Leistungen im Erstattungswege ausgleichen, ohne sie zu belasten. Sie
habe nach ihrer Übersiedlung eine Vielzahl vorformulierter Erklärungen und Formulare unterschreiben müssen, für deren Übersetzung
niemand Sorge getragen habe. Da der Beklagte ihr keinen Dolmetscher zur Verfügung gestellt habe, gehe der Vorwurf der groben
Fahrlässigkeit ins Leere.
Im Erörterungstermin des SG am 26. Januar 2012 hat die Klägerin erklärt, sie habe die russische Rente überall angegeben, beim Finanzamt, bei der Rente
und beim Sozialamt. Y. Z., ein Bekannter aus der jüdischen Gemeinde, habe mit ihr zusammen die Anträge ausgefüllt und abgegeben.
Mit Beschluss vom 6. Februar 2012 hat das SG die Stadt D. als zuständige Sozialhilfeträgerin beigeladen.
Die Klägerin hat im Juni 2012 ergänzend ausgeführt, sie genieße Vertrauensschutz, da sie nicht grob fahrlässig gehandelt habe.
Denn sie habe die Leistungsanträge nicht ohne eigene Prüfung "blind" unterschrieben. Vielmehr habe sie stets das Erforderliche
unternommen, um ihr Verständigungsproblem zu beseitigen. Jedes Mal, wenn sie Vordrucke und Formulare nicht verstanden habe,
habe sie sich um eine Übersetzung von ihr sachkundig erscheinenden Dritten bemüht. Der von ihr regelmäßig zu Rate gezogene
Y. Z. entstamme dem russischen Sprachraum und werde als ehrenamtlicher Helfer insbesondere in Behördenangelegenheiten für
die Mitglieder der jüdischen Gemeinde tätig. Professionelle Dolmetscher könne sie sich nicht leisten. Sie habe sich angesichts
der Erfahrung und der Sprachkenntnisse der Hilfspersonen darauf verlassen, dass diese die ggf. erforderlichen Informationen
zur Ausfüllung der Formulare erfrage.
Dem ist der Beklagte entgegen getreten: Die Klägerin müsse sich das Tun bzw. Unterlassen des von ihr herangezogenen Hilfspersonen
zurechnen lassen, da sie mit ihrer Unterschrift auf den Formularen die Richtigkeit der Angaben bestätigt habe. Soweit sie
wegen der Angaben unsicher gewesen sei, hätte sie dies bei der persönlichen Vorsprache beim Beklagten deutlich machen und
sich um Klärung bemühen müssen.
Die Beigeladene hat darauf hingewiesen, dass auch in der Zollerklärung der Rentenbezug nicht ausdrücklich erklärt sei; dort
sei lediglich ein Rubelbetrag in einem Feld eingetragen, das für die Angabe von Gehalt, Rente und Sozialleistung vorgesehen
sei. Die Art des konkreten Einkommens sei nicht benannt. Zudem bilde die Erklärung allenfalls die Einkommensverhältnisse im
Januar 2004 ab. Sie sei nicht geeignet, spätere Angaben zu ersetzen. Die Beigeladene habe keine Kenntnis vom Rentenbezug gehabt.
Deshalb komme auch kein Erstattungsanspruch des Beklagten in Betracht. Sie habe erst am 26. November 2009 vom Bezug der russischen
Rente und von ihrer Leistungspflicht erfahren. Der Sozialhilfebezug im Jahr 2004 ersetze nicht die erforderliche Kenntnis
vom später bestehenden Leistungsfall.
In der mündlichen Verhandlung des SG hat die Klägerin ergänzend erklärt, den Zeugen Z. aus dem Wohnheim in D. zu kennen. Den ersten SGB II-Antrag habe jedoch Frau T. von der Sprachenschule, die sie damals besucht habe, ausgefüllt. Sie selber habe nichts in die
Formulare eingetragen; sie nehme solche Sachen sehr ernst. Frau T. habe das Formular schnell ausgefüllt und sie dann unterschreiben
lassen. Die Formularfragen seien ihr nicht übersetzt worden. Sie sei nach Geburtsnamen und Ort gefragt worden, jedoch nicht
nach Einkommen. Alle anderen Anträge habe sie mit Herrn Z. ausgefüllt. In den Formularen sei ihres Wissens nicht gefordert
gewesen, eine russische Rente anzugeben. Es sei nur nach deutschen Renten gefragt worden. Bis April 2007 habe niemand gewusst,
dass die russische Rente anzugeben war. Der als Zeuge vernommene Y. Z. hat angegeben, er habe übersetzt und gefragt, wie und
was er eintragen solle. Die persönlichen Angaben der Klägerin habe er anfangs nicht gekannt, deshalb habe er fragen müssen.
Nach ihren Angaben habe er dann die Formulare ausgefüllt. Er habe anfangs nicht gewusst, dass sie eine russische Altersrente
bezog. Das habe er erst später erfahren. Er meine, dass in den Formularen nicht nach dem Bezug einer russischen Rente gefragt
worden sei.
Mit Urteil vom 2. Dezember 2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Bewilligungen lägen vor, denn diese seien
anfänglich rechtswidrig gewesen, da die Klägerin aufgrund des Bezugs der russischen Altersrente gemäß § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II von SGB II-Leistungen ausgeschlossen sei. Sie könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, da sie zumindest grob fahrlässig unvollständige
und unrichtige Angaben in den Antragsformularen gemacht habe. Die Nichtangabe des Rentenbezugs sei ein Verschweigen leistungserheblicher
Umstände. Die Klägerin habe die ihr obliegende Sorgfalt im besonders schweren Maße verletzt, weil sie einfache und naheliegende
Überlegungen nicht angestellt habe. Sie sei nach ihren intellektuellen Fähigkeiten in der Lage gewesen zu erkennen, dass das
Renteneinkommen anzugeben war. Es hätte sich ihr aufdrängen müssen, dass die Frage nach einer Rente oder nach sonstigem Einkommen
entsprechend zu beantworten war. Es sei offensichtlich, dass alle Einkünfte anzugeben waren. Mangelnde Sprachkenntnisse könnten
die Klägerin nicht entschuldigen, denn sie habe keinen Anspruch darauf, dass Formulare in einer anderen als der deutschen
Sprache abgefasst seien. Sie habe bei Verständigungsproblemen alles Erforderliche unternehmen müssen, um die Probleme zu beseitigen.
Der Sorgfaltspflichtverstoß bestehe darin, dass sie sich nicht ausreichend darum bemüht habe, den Inhalt der Antragsformulare
vollständig zu verstehen. Nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung habe sie zudem seit April 2007 gewusst, dass russische
Altersrenten für den Bezug von Sozialleistungen relevant waren. Bereits die Nichtangabe bei der Erstantragstellung sei grob
fahrlässig gewesen. Denn die Klägerin habe nach dem "Schnelldurchgang" bei der Erstantragstellung nicht davon ausgehen können,
dass das vielseitige Formular vollständig und korrekt ausgefüllt worden war. Ein Erstattungsanspruch der Leistungsträger untereinander
stehe der Rücknahme und -forderung gegen die Klägerin nicht entgegen, weil die Beigeladene als Trägerin der Sozialhilfe gemäß
§ 105 Abs. 3 SGB X erst ab dem Zeitpunkt der Kenntnis der eigenen Leistungspflicht erstattungspflichtig sei. Diese sei erst im November 2009
eingetreten.
Gegen das ihr am 15. Januar 2014 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 30. Januar 2014 Berufung eingelegt. Zur Begründung
hat sie ausgeführt, wegen ihrer mangelnden Deutschkenntnisse könne ihr eine Falschangabe nur dann vorgeworfen werden, wenn
sie nichts unternommen hätte, um eine Übersetzung zu erhalten. Sie habe sich um Hilfe bemüht und den Zeugen Z. zu Rate gezogen.
Sie habe sich auf die Richtigkeit dessen Erklärung, in dem Formular werde nicht nach einer russischen Rente gefragt, verlassen.
Dies könne ihr nicht zum Vorwurf gemacht werden.
Sie beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 2. Dezember 2013 und den Bescheid des Beklagten vom 16. Februar
2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2010 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für überzeugend. Die Klägerin habe eingeräumt, dass ihr die einzelnen Fragen aus den Antragsformularen
nicht wörtlich übersetzt worden seien. Dadurch habe sie sich nicht hinreichend damit auseinandergesetzt. Gleichwohl habe sie
mit ihrer Unterschrift die Richtigkeit der in den Anträgen gemachten Angaben bestätigt. Dies sei grob fahrlässig.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie hält die Ausführungen im Urteil des SG für zutreffend. Die Nichtangabe der Rente sei der Klägerin zuzurechnen, selbst wenn die herangezogene Hilfsperson sie nicht
nach Renteneinkommen gefragt habe sollte. Die fehlerhafte Einschätzung, eine russische Rente sei nicht anzugeben, sei grob
fahrlässig. Die Einstellung des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens entlaste die Klägerin im sozialgerichtlichen Verfahren
nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtakte, die Beiakte des Beklagten sowie die
Verwaltungsvorgänge der Beigeladenen ergänzend Bezug genommen. Die genannten Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung
und der Beratung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht gemäß §
151 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) erhoben worden. Sie ist auch statthaft gemäß §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG, denn der Wert der Beschwer übersteigt 750 EUR. Die Klägerin wendet sich gegen eine Erstattungsforderung von 42.155,88 EUR.
Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der angegriffene Bescheid des Beklagten vom 16. Februar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 31. Mai 2010 ist rechtmäßig.
Rechtgrundlage für die Rücknahme der Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. September 2009 sind
§ 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm §§ 45, 50 SGB X sowie wegen der Rückforderung der erbrachten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen die §§
330 und
335 SGB III. Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 SGB II iVm §
330 Abs.
2 SGB III und § 45 Abs. 1, 2 Satz 3 Nr. 2 und Abs. 4 Satz 1 SGB X wird ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen, soweit
er von Anfang an rechtwidrig begünstigend ist. Voraussetzung ist weiter, dass der Begünstigte sich nicht auf schutzwürdiges
Vertrauen berufen kann, weil der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher
Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.
Der Rücknahme- und Erstattungsbescheid ist formell rechtmäßig. Es kann dahinstehen, ob die Anhörung der Klägerin mit Schreiben
vom 19. Januar 2010 mit dem unzutreffenden Verschuldensvorwurf (Kenntnis der fehlerhaften Bewilligung) noch den Anforderungen
des § 24 Abs. 1 SGB X entspricht. Insoweit war der erlassene Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 16. Februar 2010, der der Klägerin sowohl zumindest
grob fahrlässige Falschangaben (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X) als auch das Erkennen Können der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X) vorwirft, zunächst formell rechtswidrig. Indes ist der Anhörungsmangel durch eine Nachholung im Sinne von § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden. Denn vorliegend ersetzt das Widerspruchsverfahren die förmliche Anhörung. Der angegriffene Ausgangsbescheid
enthielt die wesentlichen Tatsachen, auf die es nach der Rechtsansicht des Beklagten für den Verfügungssatz objektiv ankam
(vgl. BSG, Urteil vom 9. Oktober 2011, Az.: B 13 R 9/11 R, juris RN 14); insbesondere ist der einschlägige Vorwurf der grob fahrlässigen Falschangaben genannt und dargelegt worden.
Die Klägerin hatte mithin im Widerspruchsverfahren die Gelegenheit, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen sachgerecht
zu äußern.
Der angegriffene Rücknahme- und Erstattungsbescheid genügt in der Fassung, die er durch den Widerspruchsbescheid vom 31. Mai
2010 erhalten hat, auch den Anforderungen an die Bestimmtheit von Verwaltungsakten. Als materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung
verlangt das Bestimmtheitserfordernis des § 33 Abs. 1 SGB X, dass der Verfügungssatz nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist. Der Betroffene muss bei Zugrundelegung
der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers unter Berücksichtigung der Einzelfallumstände in die Lage versetzt
werden, die in dem Bescheid getroffenen Rechtsfolgen vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen und sein Verhalten daran
auszurichten (vgl. BSG, Urteil vom 10. September 2013, Az.: B 4 AS 89/12 R, juris RN 15). Ausreichende Klarheit kann auch dann bestehen, wenn zur Auslegung des Verfügungssatzes auf die Begründung
des Verwaltungsaktes, auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte oder auf allgemein zugängliche Unterlagen
zurückgegriffen werden muss. Da vorliegend der Beklagte seine Leistungsbewilligung für die genannten Bewilligungszeiträume
vollständig aufgehoben hat, bedurfte es keiner Bezifferung der auf die einzelnen Monate entfallenden Aufhebungsbeträge, weil
die Klägerin erkennen konnte, dass ihr kein monatlicher Leistungsbetrag mehr verbleiben sollte. Unter Heranziehung der Bewilligungsbescheide
konnte sie auch erkennen, wie hoch die monatlichen Aufhebungsbeträge waren.
Mit dem Ausgangsbescheid vom 16. Februar 2010 und den Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 2010 wird auch die Jahresfrist gemäß
§ 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X gewahrt. Der Beklagte hatte erst im November 2009 nach der Vorsprache der Klägerin und der Vorlage der Rentenbelege hinreichend
sichere Kenntnis vom Altersrentenbezug und der Rentenhöhe im streitigen Zeitraum.
Die Rücknahmeentscheidung ist auch im Übrigen materiell rechtmäßig. Alle Bewilligungsbescheide für den streitbefangenen Zeitraum
vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Oktober 2010 waren von Anfang an vollständig rechtwidrig, weil die Klägerin bereits dem Grunde
nach von SGB II-Leistungen ausgeschlossen war. Gemäß § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhalten Personen, die eine Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher
Art beziehen, keine SGB II-Leistungen. Auch der Bezug einer ausländischen Altersrente führt zum Leistungsausschluss, wenn diese Rente durch einen öffentlichen
Träger gezahlt wird, sie an das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze anknüpft und sie einen Lohnersatz nach einer im allgemeinen
den Lebensunterhalt sicherstellenden Gesamtkonzeption darstellt (vgl. BSG, Urteil vom 16. Mai 2012, Az.: B 4 AS 105/11 R, juris, Leitsatz). Das BSG hat ausgeführt, zwar sei dem Wortlaut von § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II nicht eindeutig zu entnehmen, ob der Ausschlussgrund nur eintrete, wenn eine Rente nach deutschem Recht bezogen werde oder
ob der Begriff der "Altersrente" auch eine ausländische Rentenleistung umfasse. Aber nach der gesetzlichen Formulierung müsse
es sich in jeden Fall um eine Leistung handeln, die einer Altersrente nach dem Vorbild des
Sechsten Buches Sozialgesetzbuch "ähnlich" sei. Bereits im Arbeitsförderungsrecht des AFG, fortgeführt im
SGB III, habe der Bezug einer ausländischen Altersrente zum Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe geführt.
Hieran knüpfe das SGB II konzeptionell abgestimmt an, indem es zwischen Sozialversicherungsleistungen und steuerfinanzierten Existenzsicherungssystemen
differenziere und ausländische Altersrenten, soweit sie deutschen Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar
seien, erfasse. Typisierend sei anzunehmen, dass der Bezug einer Altersrente zum endgültigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben
und dadurch zum Leistungsausschluss nach dem SGB II führt. Daher komme es nicht darauf an, ob die ausländische Altersrente bereits bezogen werden könne, bevor dies im Hinblick
auf das Renteneintrittsalter nach deutschem Recht möglich sei oder ob diese (individuell) den Lebensunterhalt sichern könne
(vgl. BSG, Urteil vom 16. Mai 2012, a.a.O., RN 25f.).
Die russische Altersrente der Klägerin in Höhe von monatlich 2.365 Rubel bis März 2007 - bzw. 3.536,73 Rubel ab April 2007
- erfüllt die Kriterien für eine zum Ausschluss von SGB II-Leistungen führende Altersrente. Sie wird der Klägerin seit Erreichen des 50. Lebensjahrs gezahlt und wurde mit Erreichen
des 60. Lebensjahrs (2007) deutlich erhöht, sie dient dem Lohnersatz und wird von einem öffentlichen Träger erbracht. Es gibt
keinen Anhalt dafür, dass die Klägerin nicht über die Rentenzahlungen verfügen konnte. Es ist von einem "laufenden Bezug"
auszugehen, auch wenn der Zahlweg nicht bekannt ist. Der Senat geht davon aus, dass die Rentengewährung in Russland mit Erreichen
einer Altersgrenze erfolgt und als Lohnersatzleistung für die vom Empfänger zuvor ausgeübte Erwerbstätigkeit dient. Aufgrund
des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II hat die Klägerin im streitigen Zeitraum von Anfang an keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II gehabt.
Schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin im Sinne von § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm § 45 Abs. 2 SGB X steht der Rücknahme der Leistungsbewilligungen nicht entgegen. Denn es liegen die Voraussetzungen von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X vor. Die Bewilligungsbescheide beruhten auf Angaben, die die Klägerin zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung
unrichtig oder unvollständig gemacht hatte. Eine unrichtige oder unvollständige Angabe kann durch das passive Verschweigen
bestimmter Umstände erfolgen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn eine gesetzliche Mitteilungspflicht im Sinne von §
60 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (
SGB I) hinsichtlich der Einkommenserzielung besteht und nicht (vollständig) erfüllt wird. Auch eine unvollständige Angabe stellt
ein Verschweigen dar, wenn sie den fälschlichen Eindruck erweckt, alle entscheidungserheblichen Angaben zu Sachverhalt vollständig
gemacht zu haben (vgl. Schütze in: von Wulffen, SGB X, 8. Auflage 2014, § 45 RN 49). Das Unterlassen der Angabe der laufenden Rentenzahlungen in den Antragsformularen ist eine in wesentlicher Beziehung
unvollständige Angabe der Einkommensverhältnisse. Im Mantelbogen des Antragsformulars wird unter VI zu den Einkommensverhältnissen
ausdrücklich nach Einnahmen aus Renten aus der Sozialversicherung, Betriebsrenten oder Pensionen (3. Spiegelstrich) gefragt.
Gleichwohl hat die Klägerin das Renteneinkommen nicht aufgeführt, sondern nur den Bezug von BSHG-Leistungen angegeben. Es wird weiterhin (6. Spiegelstrich) nach sonstigen laufenden oder einmaligen Einnahmen gleich welcher
Art gefragt. Auch insoweit erfolgte keine Angabe. Die Klägerin hat die Richtigkeit ihrer Angaben in den Formularen jeweils
durch ihre Unterschrift bestätigt. Der Vorwurf der unvollständigen Angaben im Antragsformular könnte ggf. nur dann entfallen,
wenn die Klägerin bei ihrer Vorsprache im Zuge der Erstantragstellung deutlich gemacht hätte, dass sie nicht sicher ist, ob
und wo sie den Bezug einer ausländischen Altersrente eintragen muss. Die Klägerin hat jedoch den Beklagten nicht darauf hingewiesen,
dass sie über weitere, im Formular nicht erklärte Einnahmen verfügt. Sie hat durch ihre Unterschrift den Eindruck erweckt,
im Formular vollständige und zutreffende Angaben gemacht zu haben. Dadurch hat sie die rechtswidrige Leistungsbewilligung
durch den Beklagten verursacht. Denn mangels Kenntnis vom Rentenbezug hatte dieser aufgrund des Alters der Klägerin keinen
Anlass, einem möglichen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II nachzugehen.
Der Senat ist - nach Befragen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung - und nach Auswertung des Verwaltungsvorgangs einschließlich
der Einlassungen der Klägerin im Verfahren zu der Überzeugung gelangt, dass sie hinsichtlich der unterlassenen Angabe des
Rentenbezugs als Einnahme auch grob fahrlässig gehandelt hat. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach der gesetzlichen Definition
in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt im ganz besonders schweren Maße verletzt hat. Dies verlangt, dass schon
einfache, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden und daher nicht beachtet wird, was ggf. jedem einleuchten
muss. Entscheidend ist das individuelle Vermögen, die Fehlerhaftigkeit der gemachten Angaben erkennen zu können. Maßgeblich
ist daher, ob die Klägerin bei einer Parallelwertung in der Lage gewesen war, zu erkennen, dass das Renteneinkommen bei Antragstellung
anzugeben war (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 2010, Az.: B 14 AS 76/08 R, juris RN 20).
Der Einwand der Klägerin, sie habe die allein in deutscher Sprache abgefassten Antragsformulare nicht verstanden, kann sie
vom Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht entlasten. Gemäß § 19 Abs. 1 SGB X ist die Amtssprache deutsch. Daher sind deutsche Behörden nicht verpflichtet, amtliche Formulare in der Heimatsprache eines
Antragstellers zur Verfügung zu stellen. Zwar darf die Behörde fremdsprachige Merkblätter o.ä. herausgeben, einen Rechtsanspruch
hierauf haben ausländische Antragsteller jedoch nicht (vgl. Roller in: von Wulffen/Schütze, a.a.O., § 19 RN 6). Ebenso besteht
kein Anspruch darauf, dass die Behörde zu Anhörungen und Vorsprachen einen Dolmetscher hinzuzieht. Ausländische Antragsteller
müssen, wenn sie der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sind, sich über den Inhalt amtlicher Schriftstücke - zu denen
auch die Antragsformulare für SGB II-Leistungen gehören - mit Hilfe eines Dolmetschers Klarheit verschaffen. Insoweit ist allgemein anerkannt, dass einem Ausländer
ein Sorgfaltspflichtverstoß anzulasten ist, wenn er in Kenntnis seiner Verständigungsprobleme nicht alles Erforderliche unternimmt,
um diese auszuräumen. Es obliegt einem ausländischen Antragsteller, dass er seinerseits alles Zumutbare unternimmt, um sich
die notwendige zuverlässige Kenntnis von Inhalt amtlicher Schriftstücke zu verschaffen. Zuverlässige Kenntnis vom Inhalt erhält
jedoch nur, wer sich amtliche Schriftstücke vollständig übersetzen lässt. Dies bedeutet, dass alle Einzelfragen eines ggf.
mehrseitigen Formulars zu übersetzen sind. Grob fahrlässig handelt derjenige ausländische Antragsteller, der das von einem
Dritten ausgefüllte Antragsformular "blind", d.h. ohne Kenntnis der Einzelangaben, unterschreibt. Dem kommt es gleich, wenn
sich ein ausländischer Antragsteller auf die Einschätzung (bzw. rechtliche Würdigung oder das Wissen) der herangezogenen Hilfsperson
verlässt, eine russische Rente müssten nicht angegeben werden, ohne sich selbst durch eine wortgetreue Übersetzung der Fragen
zu dem Einkommen darüber zu informieren, welche Angaben zu machen sind. Denn bei einer Übersetzung der Frage nach Renteneinkommen
hätten sich jedenfalls zumindest Zweifel dahingehend aufdrängen müssen, ob nur deutsche oder auch ausländische Renten gemeint
waren. Im Zusammenhang mit den Fragen nach den übrigen Einkommensarten (Arbeitsentgelt, Vermietung oder Verpachtung, Zinsen,
Kapitalerträge, Unterhaltszahlungen oder sonstige laufende oder einmalige Einnahmen gleich welcher Art) liegt die Erkenntnis
nahe, dass jegliche Zuflüsse in Geldeswert anzugeben waren.
Der Umstand, dass die Klägerin sich keine Gedanken zu den abgefragten Informationen in den Antragsformularen gemacht und dementsprechend
bei ihrer Vorsprache beim Beklagten zur Antragstellung weder nachgefragt noch zu erkennen gegeben hat, dass sie den Inhalt
der Formulare nicht erfasst hat, macht die Nichtangabe des laufenden Renteneinkommens grob fahrlässig (vgl. zu den Sorgfaltspflichten
ausländischer Antragsteller: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 6. Dezember 2000, Az.: L 5 AL 4372/00, juris RN 41; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Mai 2009, Az.: L 3 AL 3823/06, juris RN 35; BSG, Urteil vom 27. April 1997, Az.: 11 RAr 89/96, juris). Denn sie hat sich nicht ausreichend darum bemüht, die an sie gerichteten Fragen vollständig zu erfassen und zu beantworten.
Mit der insoweit unzureichenden Beantwortung hat sie zumindest billigend in Kauf genommen, dass abgefragte und benötigte Einzel-
bzw. Detailinformationen nicht vollständig oder zutreffend erklärt wurden. Es ist angesichts des gehobenen Bildungsstand der
Klägerin nach der Überzeugung des Senats als grob fahrlässig anzusehen, dass sie nach ihren Angaben ohne eine Übersetzung
der einzelnen Fragen darauf vertraute, die herangezogenen Hilfsperson werde die Fragen schon zutreffend beantworten. Sie hat
davon abgesehen, sich selbst die notwendige Kenntnis von den einzelnen Fragen oder den von der Hilfsperson eingetragenen Angaben
im Detail zu verschaffen. Hinzu kommt, dass sie gegenüber den Beklagten ihre Unkenntnis oder eine Unsicherheit hinsichtlich
der Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben nicht offengelegt hat (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. September
2010, Az.: L 12 AS 233/06, juris RN 65 f.). Der Senat hat nach seinem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck von der Persönlichkeit und
den intellektuellen Fähigkeiten der Klägerin keine Anhaltspunkte dafür, dass sie nach ihrem individuellen Horizont mit den
ihr abverlangten Sorgfaltspflichten überfordert war. Sie hat es sich zu leicht gemacht und das nicht beachtet, was jedem einleuchten
muss.
Die Klägerin kann sich daher nicht auf Vertrauensschutz berufen. Sie kann sich auch nicht darauf berufen, dass sie die Leistungen
verbraucht habe und somit "entreichert" sei. Bei Vorliegen grober Fahrlässigkeit gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X ist bei der Rücknahmeentscheidung der Verbrauch der erhaltenen Leistungen nicht relevant (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 2010, Az.: B 14 AS 76/08 R, juris RN 21). Der Beklagte hatte gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm §
330 Abs.
2 SGB III kein Ermessen auszuüben. Er war zur Rücknahme der Leistungsbewilligungen verpflichtet. Der Beklagte hat daher dem Grunde
nach zutreffend seine Bewilligungsentscheidungen vollständig aufgehoben.
Die Klägerin ist daher gemäß § 50 Abs. 1 SGB X verpflichtet, die im streitigen Zeitraum erhaltenen SGB II-Leistungen zu erstatten. Der Beklagte hat den Rückforderungsbetrag für die gesamten Bewilligungsabschnitte mit insgesamt
34.307,03 EUR beziffert. Die Erstattungsforderung ist auch zutreffend berechnet worden; da die im streitigen Zeitraum erlassenen
Änderungsbescheide sowie der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 23. April 2009 mit einer Rücknahme von 750,91 EUR einbezogen
worden sind. Zudem hat der Beklagte im streitgegenständlichen Zeitraum Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge für die Klägerin
gezahlt, die sich nach der Aufstellung im angegriffenen Bescheid auf insgesamt 7.848,85 EUR belaufen. Diese sind nach der
vollständigen Rücknahme der Leistungsbewilligung ebenfalls in voller Höhe zu erstatten. Ermächtigungsgrundlage hierfür ist
§ 40 Abs. 1 Satz 2 Nr.
3 iVm §
335 Abs.
1 Satz 1, Abs.
2 und Abs.
5 SGB III. Mithin ergibt sich eine Gesamterstattung von 42.155,88 EUR.
Die Rücknahme und Rückforderung der Leistungen (und Beiträge) durch den Beklagten ist vorliegend auch nicht durch § 107 Abs. 1 SGB X ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift gilt im Verhältnis zwischen einem erstattungsberechtigten Leistungsträger (hier der
Beklagte) und dem Sozialleistungsberechtigten (hier: der Klägerin) ein bestehender Erstattungsanspruch als erfüllt, wenn und
soweit zwischen den beteiligten Sozialleistungsträgern ein Erstattungsanspruch besteht (hier: der Beklagte und die Beigeladene).
Bei Bestehen eines Erstattungsanspruch nach den §§ 102ff. SGB X wird kraft Gesetzes fingiert, dass durch die Leistung des vorleistenden Trägers, hier des Beklagten als erstattungsberechtigtem
SGB II-Leistungsträger, die Verpflichtung des "an sich" leistungspflichtigen Trägers, der Beigeladenen als erstattungspflichtigem
Sozialhilfeträger, erfüllt ist. Aufgrund dieser Regelung kann einerseits der Sozialleistungsberechtigte nicht mehr gegen den
eigentlich leistungsverpflichteten Träger vorgehen (und Leistungen für die Vergangenheit fordern). Damit werden Doppelleistungen
verhindert (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 2011, Az.: B 11 AL 15/10 R, juris RN 16). Es erübrigt sich aber auch eine Rückabwicklung des materiell zu Unrecht begründeten Sozialleistungsverhältnisses
zwischen dem Leistungsberechtigten und dem erstattungsberechtigten Leistungsträger. Soweit einer der gesetzlich geregelten
Erstattungstatbestände eingreift, ist wegen der Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X eine Rückabwicklung im Verhältnis zwischen dem Leistungsträger und dem Berechtigten ausgeschlossen. Maßgeblich für den Eintritt
dieser gesetzlichen Fiktion ist das objektive Bestehen eines Erstattungsanspruchs. Es kommt nicht darauf an, ob dieser geltend
gemacht oder erfüllt worden ist. In Höhe eines bestehenden Erstattungsanspruchs gilt der Leistungsanspruch des Leistungsberechtigten
als befriedigt. Die Geltendmachung eines Rückforderungsanspruchs durch den unzuständigen Leistungsträger ist ausgeschlossen.
Erstattungsansprüche nach § 102 oder § 103 SGB X kommen vorliegend nicht in Betracht, da der Beklagte weder vorläufig Leistungen erbracht hat noch seine Leistungsverpflichtung
nachträglich entfallen ist (§ 103 SGB X). Auch liegt kein Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers gemäß § 104 SGB X vor, weil der Beklagte von Anfang an nicht leistungsverpflichtet war. Indes liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen von
§ 105 Abs. 1 SGB X vor. Danach hat ein unzuständiger Leistungsträger, der Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von §
102 Abs. 1 SGB X vorliegen, einen Erstattungsanspruch gegen den zuständigen oder zuständig gewesenen Leistungsträger, soweit dieser nicht
bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (§ 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Hier hat der Beklagte wegen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II zu Unrecht existenzsichernde SGB II-Leistungen an die Klägerin erbracht. Diese hätte Anspruch auf existenzsichernde Leistungen nach dem SGB XII gehabt. Die Beigeladene wäre als zuständige Sozialhilfeträgerin zur Erbringung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt
nach den §§ 21, 27f. SGB XII, § 5 Abs. 2 SGB II an die Klägerin zuständig gewesen. Die Klägerin gehörte nicht zum Kreis der Leistungsberechtigten der Grundsicherung im Alter
und bei Erwerbsminderung nach den §§ 41ff. SGB XII, weil sie im streitigen Zeitraum die Altersgrenze des § 41 Abs. 2 Satz 3 SGB XII (für den Geburtsjahrgang 1947, 65 Jahre und 1 Monat) noch nicht erreicht hatte. Sie hat erst im Jahr 2012 ihr 65. Lebensjahr
vollendet und war zuvor auch nicht dauerhaft voll erwerbsgemindert. Zudem war sie bedürftig im Sinne von §§ 19 Abs. 1, 27 SGB XII. Insoweit kann auf die Bewilligungsentscheidungen des Beklagten verwiesen werden, wobei allerdings das Renteneinkommen der
Klägerin von 2.365 Rubel (Wert am 1. Januar 2005: 62,85 EUR) bzw. 3.536 Rubel ab 1. April 2007 (damaliger Wert: 101,84 EUR)
bedarfsmindernd zu berücksichtigen gewesen wäre.
Einer im Erstattungszeitraum bestehenden Leistungspflicht der Beigeladenen steht nach materiellem Leistungsrecht nicht entgegen,
dass sie damals keine Kenntnis von ihrer Leistungspflicht hatte. Insoweit müsste sie sich nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung
die Antragstellung bei dem Beklagten zurechnen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 26. Augst 2008, Az.: B 8/9b SO 18/07 R, juris RN 22f.). Denn eine für ein Einsetzen von Sozialhilfe grundsätzlich
erforderliche Kenntnis der Beigeladenen vom Bedarfsfall der Klägerin als solchem (vgl. BSG, Urteil vom 10. November 2011, Az.: B 8 SO 18/10 R, juris RN 21) lässt sich hier für den insoweit maßgeblichen Zeitpunkt
1. Januar 2005 nicht feststellen. Nach den vorliegenden Sozialhilfeakten hatte die Beigeladene zwar BSHG-Leistungen bis zum 31. Dezember 2004 erbracht, ging jedoch nach der telefonischen Mitteilung vom 15. Dezember 2004 von der
Beendigung des Leistungsfalls aufgrund der Zuständigkeit eines anderen Leistungsträgers (wegen der Teilnahme der Klägerin
am Sprachkurs) ab dem 20. Dezember 2004, spätestens aber zum Jahresende 2004 aus. Nach dem Aktenvermerk sah die Beigeladene
von der Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs ab, weil eine erste Auszahlung von
SGB III-Leistungen erst am 30. Dezember 2004 erfolgen sollte. Von ihrer weiteren sachlichen Zuständigkeit für den Leistungsfall oder
der weiteren Hilfebedürftigkeit der Klägerin über das Jahresende 2004 hinaus hatte die Beigeladene nach den vorliegenden Unterlagen
keine Kenntnis.
Der dem Grunde nach bestehende Erstattungsanspruch nach § 105 Abs. 1 SGB X ist jedoch durch die Sonderregelung in § 105 Abs. 3 SGB X ausgeschlossen. § 105 Abs. 3 SGB X begrenzt (wie auch § 103 Abs. 3 SGB X) den Erstattungsanspruch gegenüber den Trägern der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Kinder- und Jugendhilfe zeitlich
auf den Zeitpunkt der Kenntnis des Trägers von seiner Leistungspflicht. Ein Sozialhilfeträger ist folglich erst ab dem Zeitpunkt,
da ihm seine Leistungspflicht bekannt ist, zur Kostenerstattung verpflichtet. Maßgeblich ist die tatsächliche Kenntnisnahme
des zuständigen Sachbearbeiters der Behörde; das bloße Kennenmüssen reicht nicht aus. Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht
(BVerwG, Urteil des 5. Senats vom 2. Juni 2005, Az.: 5 C 30/04, juris) ausgeführt, im Erstattungsrechtsverhältnis komme es für den Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Voraussetzungen der
Leistungspflicht im Sinne von § 105 Abs. 3 SGB X maßgeblich auf die (tatsächliche) Kenntnis des Trägers der Sozialhilfe an, gegen den der Erstattungsanspruch geltend gemacht
werde. Das für den Leistungsfall nach § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG (bzw. 16 Abs.
2 SGB I) für das Einsetzen von Sozialhilfe ausreichende Bekanntwerden bei einem nichtzuständigen Sozialhilfeträger ersetze im Erstattungsverhältnis
nicht die nach § 105 Abs. 3 SGB X erforderliche eigene Kenntnis des auf Erstattung in Anspruch genommenen Sozialhilfeträgers. Nach dem Wortlaut des § 105 Abs. 3 SGB X sei die Anwendung der Abs. 1 und 2 im Verhältnis zu bestimmten Leistungsträgern begrenzt und stelle darauf ab, ob diesen bekannt war, dass die Voraussetzungen
für ihre Leistungspflicht vorlagen. Stelle man hingegen letztlich auf die Kenntnis des erstattungsbegehrenden Leistungsträgers
ab, liefe die gesetzliche Regelung des § 105 Abs. 3 SGB X mangels sinnvollen Anwendungsbereichs ins Leere. Denn Sinn und Zweck dieser gesetzlichen Regelung sei eine Begrenzung von
Erstattungsansprüchen gegen die genannten Sozialleistungsträger. In Ansehung der Regelung des § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG (jetzt wortgleich: § 18 Abs. 2 SGB XII), der eingeführt worden sei, um §
16 Abs.
2 SGB I im Sozialhilferecht Geltung zu verschaffen, ergebe sich kein Grund für eine teleologisch reduzierende Auslegung (a.a.O.,
RN 11). Der Gesetzgeber habe die Einführung von § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG im Jahr 1996 nicht zum Anlass genommen, § 105 Abs. 3 SGB X neu zu regeln oder einzuschränken. Mithin sei für das Erstattungsrecht der allgemeine Schutzzweck des § 105 Abs. 3 SGB X, nicht wegen Aufwendungen für Leistungen in Anspruch genommen zu werden, von denen den benannten Trägern nicht bekannt war,
dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen, auch weiterhin gültig.
§ 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG (jetzt: § 18 Abs. 2 SGB XII) betreffe allein das Leistungsverhältnis zum Hilfesuchenden; Schutzzweck der Regelung sei, dass Hilfesuchende angesichts
des gegliederten Sozialleistungssystems und der mitunter schwierigen Zuständigkeitsabgrenzung nicht darunter "leiden" sollten,
dass einem anderen als dem zuständigen Träger die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung bekannt geworden sei (a.a.O.,
RN 12). § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG habe schon nicht angeordnet, dass die Kenntnis des unzuständigen Sozialhilfeträgers umfassend dem zuständigen Sozialhilfeträger
zugerechnet werde, sondern beschränke die Kenntniszurechnung auf das Einsetzen der Sozialhilfe (Zeitpunkt des Leistungsbeginns).
Für eine weitergehende Wirkung der Zurechnung, insbesondere in dem systematisch vom Leistungsrecht zur unterscheidenden Erstattungsrecht,
fehle dem Wortlaut der Regelung der Anhalt. Eine Ausdehnung des auf das Leistungsverhältnis bezogenen Anwendungsbereichs von
§ 5 Abs. 2 BSHG bzw. § 18 Abs. 2 SGB XII auf das Erstattungsrechtsverhältnis zwischen Sozialhilfeträgern sei nicht geboten; der Zurechnungszusammenhang müsse nicht
identisch sein.
Dieser Rechtsprechung des BVerwG aus dem Jahr 2005 zum Erstattungsrecht ist das BSG nicht entgegengetreten. Seine Entscheidungen zu §
16 Abs.
2 SGB I (BSG, Urteil vom 26. August 2008, Az.: B 8/9b SO 18/07 R, juris, Urteil vom 2. Dezember 2014, Az.: B 14 AS 66/13 R, juris) betreffen allein Leistungsverhältnisse. Wegen des Meistbegünstigungsgrundsatzes und der Regelung von §
16 Abs.
2 Satz 2
SGB I sei im Verhältnis von SGB II- und SGB XII-Leistungen im Zweifel davon auszugehen, dass ein Antrag auf SGB II-Leistungen auch als Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII zu verstehen sei. Die Urteile enthalten keine Aussagen zu Erstattungsverfahren. Rechtsprechung des BSG zur Reichweite oder Auslegung von § 105 Abs. 3 SGB X gibt es nicht.
Soweit mehrere Sozialgerichte (SG Augsburg, Urteil vom 17. November 2015, Az.: S 8 AS 983/15, juris; SG Altenburg, Urteil vom 20. Oktober 2016, Az.: S 30 AS 471/14, juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 9. Februar 2012, Az.: L 9 AS 36/09, juris RN 95-97; erwägend im Rahmen der PKH-Beschwerde: LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Februar 2016, Az.: L 9 AS 2914/15 B, juris) die Rechtsprechung des BSG zu §
16 Abs.
2 SGB I auf das Erstattungsrecht der §§ 102 ff. SGB X übertragen und dies mit der "notwenigen Konnexität" von materiellem Leistungsrecht und Erstattungsrecht begründen (SG Altenburg,
a.a.O., RN 48; SG Augsburg a.a.O., RN 35), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Einen Gleichklang von Leistungsrecht und
Erstattungsrecht gibt es wegen der gesetzlich normierten Durchbrechungen u.a. durch § 105 Abs. 3 SGB X nicht. Denn nicht jede unzuständige Leistungserbringung ist im Erstattungswege rückabzuwickeln. Nur mit den gesetzlich geregelten
Tatbeständen wird bezweckt, mehrere Transaktionen im Dreiecksverhältnis zwischen Leistungsempfänger, Leistungspflichtigem
und leistungsgewährendem Träger zu vermeiden und sicher zu stellen, dass derjenige Träger die Kosten der Leistung endgültig
trägt, dessen Leistungspflicht der Sache nach "eigentlich" besteht. Liegt keiner der in § 102ff. geregelten Erstattungstatbestände
vor, gibt es keinen Ausgleich zwischen verschiedenen Leistungsträgern. Insoweit hat der Gesetzgeber mit der Regelung des §
105 Abs. 3 SGB X u.a. den Sozialhilfeträgern einen besonderen Schutz vor Kostenerstattungen zugebilligt, auch wenn dieser mit dem materiellen
Leistungsrecht nicht im Einklang steht (vgl. VG Aachen, Urteil vom 3. Februar 2004, Az.: 2 K 71/02, juris, RN 41; BVerwG, a.a.O., RN 12). Insoweit bezweifelt auch das LSG Baden-Württemberg (a.a.O., RN 11), dass wegen des
klaren Wortlauts von § 105 Abs. 3 SGB X eine entsprechende Kenntniszurechnung in Erstattungsfällen geboten sei.
Nach Auffassung des Senats ist die für den Leistungsfall nachvollziehbare und zutreffende Bewertung des BSG nicht auf den Erstattungsfall zu übertragen, weil zugrunde liegende Fallgestaltungen und die beteiligten Interessen nicht
vergleichbar sind. Die im Leistungsfall fingierte Kenntnis des zuständigen Sozialhilfeträgers soll den "rechtzeitigen" Zugang
zu Sozialleistungen und damit die Verwirklichung sozialer Rechte sicherstellen. Leistungsberechtigte sollen nicht unter Zuständigkeitsstreiten
zwischen Sozialleistungsträgern leiden müssen. Diese Problemlage stellt sich im Erstattungsfall nicht. Eine besondere Schutzbedürftigkeit
des Leistungsberechtigten - hier der Klägerin - ist nicht ersichtlich. Sie hat aufgrund eines vorwerfbaren Verhaltens im Sinne
von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X die rechtwidrige Leistungserbringung und nachfolgend den die Rückforderung auslösenden Ausschluss vom Vertrauensschutz selbst
verursacht. Schließlich führte eine Übertragung der BSG-Rechtsprechung für Leistungsfälle auf Erstattungsfälle dazu, dass die Vorschrift des § 105 Abs. 3 SGB X für Sozialhilfeträger im Leistungsrecht nach dem SGB II und SGB XII praktisch keinen Anwendungsfall hätte, was weder systematisch noch leistungsrechtlich geboten ist.
Nach alledem ist sowohl die Rücknahmeentscheidung als auch die Erstattungsforderung des Beklagten gegen die Klägerin nicht
zu beanstanden. Die Klägerin hat die Gesamtleistungen in Höhe von 42.155,88 EUR an den Beklagten zu erstatten. Die Erstattungsforderung
ist auch der Höhe nach berechtigt. Rechenfehler sind für den Senat nicht ersichtlich und im Übrigen auch nicht von der Klägerin
nicht geltend gemacht worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, weil die Auslegung von § 105 Abs. 3 SGB X grundsätzliche Bedeutung hat. Zudem gibt es von der Rechtsauffassung des Senat abweichende Entscheidungen von Sozialgerichten.