Anspruch auf Versorgung mit einem Elektroantrieb für einen Rollstuhl als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung;
Fahruntüchtigkeit des Versicherten
Gründe:
I.
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Antragstellerin) verlangt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes
einen elektrischen Zusatzantrieb maxe für ihren Faltrollstuhl von der Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin (im Folgenden:
Antragsgegnerin).
Die am ... 1951 geborene Antragstellerin erhält nach einem Schlaganfall mit Multiinfarkt-Demenz Leistungen der Pflegekasse
nach der Pflegestufe I und seit Oktober 2012 nach der Pflegestufe II. Das Landesverwaltungsamt Halle stellte bei ihr seit
dem 2. November 2011 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 sowie das Merkzeichen G (Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit
im Straßenverkehr) und ab dem 2. November 2012 einen GdB von 80 und die Merkzeichen "H" (Hilflos) und "aG" (außergewöhnliche
Gehbehinderung) fest. Als Hilfsmittel erhielt sie von der Antragsgegnerin einen Faltrollstuhl und einen Rollator. Am 16. Mai
2012 verordnete die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. B. der Antragstellerin einen sog. Elektro-Antrieb für den Rollstuhl.
Der Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Dr. M. äußerte wegen der Diagnose Bedenken, ob die
Antragstellerin die für einen solchen Antrieb erforderliche Fahrtauglichkeit habe. Daraufhin holte die Antragsgegnerin einen
Befundbericht von Dipl.-Med. W. vom 13. Juni 2012 ein. Hiernach bestehe bei der Antragstellerin eine Multiinfarkt-Demenz,
eine schlaganfallbedingte Kraftminderung, ein Diabetes mellitus, eine Hypertonie sowie eine chronische Niereninsuffizienz.
Neben einer Kraftminderung der rechten Hand sowie einer gestörten Feinmotorik sei auch der Gang unsicher. In der Wohnung laufe
die Antragstellerin mit Rollator und außerhalb müsse sie mit dem Rollstuhl gefahren werden. Sie könne nur unsicher und wenige
Meter laufen. Der Elektroantrieb für den Rollstuhl sei nach den Angaben des Ehemanns der Antragstellerin erforderlich. Unter
dem 20. Juni 2012 hielt der MDK-Gutachter R. einen Elektro-Antrieb für nicht erforderlich, da es hierfür an der notwendigen
Fahrtauglichkeit der Antragstellerin fehle.
Mit Bescheid vom 21. Juni 2012 lehnte die Antragsgegnerin die Versorgung mit einem Elektroantrieb ab. Hiergegen richtete sich
der Widerspruch der Antragstellerin vom 4. Juli 2012, mit dem sie geltend machte: Der Ermittlungen der Antragsgegnerin seien
unzureichend. Die angebliche Fahruntauglichkeit sei nicht geprüft worden. Sie habe nicht die Kraft, den Faltrollstuhl selbstständig
zu bewegen. Vielmehr sei sie ohne ihren Ehemann völlig bewegungsunfähig. Sie könne den Faltrollstuhl nicht einmal im Zimmer
drehen. Der zusätzliche Elektroantrieb würde sie daher in ihrer Lebensführung unabhängiger machen. Auf die Nutzung des Rollators
dürfte sie nicht verwiesen werden, da sie durch die unvorhersehbaren Kraftminderungen erheblich sturzgefährdet sei. Ein Verlassen
des Grundstücks ohne Hilfe sei der Antragstellerin unmöglich, da an der Haustür Treppen zu überwinden seien. Von daher bestehe
außerhalb der Räumlichkeiten durch das beantragte Hilfsmittel auch keine Selbstgefährdung. Auf Nachfrage der Antragsgegnerin
erklärte Dipl.-Med. W. am 31. August 2012, der Elektroantrieb solle vom Ehemann bedient werden, da es ihm zunehmend schwerer
falle, den Rollstuhl über längere Strecken zu schieben. Aufgrund der Erkrankungen der Antragstellerin sei deren Fahrtauglichkeit
aufgehoben.
In einer von der Antragsgegnerin eingeholten Stellungnahme gab die MDK-Gutachterin Dr. R. an, die Versicherte sei 163 cm groß
und wiege 65 kg. Von daher sei nicht nachvollziehbar, warum dem Ehemann das Schieben im näheren Umfeld nicht möglich sein
solle. Es sei zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts eine weitere Stellungnahme der Hausärztin einzuholen. Dipl.-Med. B.
gab am 15. Oktober 2012 an: Die Antragstellerin leide an einer deutlichen Kraftminderung in beiden Armen und beiden Beinen.
Ein kurzzeitiges Aufstehen aus dem Rollstuhl sei nur mit Hilfe möglich. Der Elektroantrieb solle ihr im Innenbereich die Fortbewegung
erleichtern helfen. Die Antragstellerin habe jedoch keine Fahrtauglichkeit im Sinne der Anforderungen der Teilnahme am Straßenverkehr.
Nach einer erneut von der Antragsgegnerin eingeholten MDK-Stellungnahme wies die MDK-Gutachterin D. am 9. Juli 2012 auf die
von der Hausärztin bestätigte Fahruntauglichkeit hin. Die Antragsgegnerin beauftragte daraufhin den MDK mit einer sozialmedizinischen
Fallberatung. MDK-Gutachterin Dr. R. führte unter dem 13. Juli 2012 aus, es seien weitere Ermittlungen vorzunehmen. Insbesondere
sei zu klären, wer den E-Antrieb bedienen solle und warum die Antragstellerin nicht geschoben werden könne.
Den Wunsch der Antragsgegnerin die Fahrtüchtigkeit, durch den TÜV Nord überprüfen lassen zu wollen, lehnte die Antragstellerin
ab und führte zur Begründung aus: Für die TÜV-Begutachtung bestehe keine Rechtsgrundlage. Für sie sei allein das Führen eines
Elektrorollstuhls im häuslichen Innenbereich bedeutsam, so dass es auf die Besonderheiten des Straßenverkehrs und der Straßenverkehrsordnung überhaupt nicht ankomme. Im Bereich außerhalb der Wohnung sei sie ohnehin auf eine Hilfsperson angewiesen, welche über die
notwendige Fahrtauglichkeit verfüge.
Daraufhin nahm die Antragsgegnerin von der geplanten Begutachtung durch den TÜV Abstand und erklärte sich mit einem Test mit
einem Elektro-Antrieb im Haus der Antragstellerin einverstanden. Diese Vorführung fand am 12. März 2013 unter Beteiligung
der Zeugen D. (Ehemann der Antragstellerin) sowie O. (Sanitätshaus M. GmbH & Co. KG) und R. (Handelsvertreter des Herstellers)
statt. Der Zeuge O. berichtete anschließend, die Antragstellerin habe nach kurzer Einweisung problemlos den Rollstuhl mit
Elektro-Betrieb innerhalb der Wohnung fahren können. Selbst ein Fahren auf dem Bürgersteig unter Aufsicht sei in der sehr
ruhig gelegenen Wohngegend möglich. Da es sich um eine Funksteuerung handele, könne das Bedienteil problemlos abgenommen werden.
Auch der Vertreter des Herstellers habe dieser Bewertung zugestimmt. Nach einer Telefonnotiz vom 22. April 2013 erklärte der
Zeuge O. gegenüber der Antragsgegnerin, dass die Antragsstellerin alle Räume habe durchfahren können. Selbst eine besonders
schmale Tür im Wohnzimmer sei von ihr problemlos gemeistert worden.
Im Schreiben vom 23. April 2013 hielt die Antragsgegnerin die bereits erfolgte Versorgung mittels Rollator für ausreichend.
Lediglich im Außenbereich benötige die Antragstellerin eine Begleitung. Dem widersprach die Antragstellerin und verwies darauf,
dass sie den Rollator nur im Notfall benutzen könne. Dabei bestehe eine permanente Sturzgefahr, die die Anwesenheit einer
Begleitperson erfordere. Dass die Antragstellerin in einem Fall mit dem Rollator im Außenbereich gewesen sei, bedeute nicht,
dass sie sich ständig mit Rollator bewegen könne.
Am 29. Mai 2013 hat der Antragsteller im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht Halle (SG) die Versorgung mit einem elektrischen Zusatzantrieb max e beantragt und ergänzend ausgeführt: Sie könne den manuellen Rollstuhl
ohne ihren Ehemann wegen der Kraftminderung nicht bewegen. Beispielsweise könne sie mit dem Rollstuhl nicht ihre Blickrichtung
verändern, ohne dass ihr dabei der Ehemann behilflich sei. Der gegenwärtige Zustand sei unhaltbar. Es sei widersprüchlich,
wenn die Antragsgegnerin eine Vorführung im Wohnhaus der Antragstellerin veranlasse, die eine hinreichende Selbstständigkeit
von ihr zum Fahren im Haus bestätigt habe, um sie dann - trotz einer bestehenden Sturzgefahr - auf den Rollator zu verweisen.
Sie sei zwar schwer krank, jedoch nicht geistig behindert. Zur Sicherung ihres Grundbedürfnisses an selbstständiger Mobilität
sei das Hilfsmittel unverzichtbar.
Die Antragsgegnerin hat demgegenüber geltend gemacht: Die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung eines Elektroantriebes
seien nicht gegeben, da der Antragstellerin die notwendige Fahrtüchtigkeit fehle. Sofern der Elektroantrieb lediglich der
Erleichterung der Pflegeperson diene, die Antragstellerin für weitere Strecken fortzubewegen, bestehe keine Leistungspflicht
nach der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Das SG hat mit Beschluss vom 21. Juni 2013 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt und im Wesentlichen ausgeführt:
Ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht. Der Antragstellerin fehle die Fähigkeit, einen Elektrorollstuhl sicher
zu führen. Die bestehenden Zweifel an der Fahrtauglichkeit der Antragstellerin hätte eine Begutachtung durch den TÜV klären
können. Dies habe sie jedoch ohne hinreichenden Grund abgelehnt. Die Probefahrt vom 12. März 2013 sei dagegen nicht geeignet,
den Nachweis für die Fahrtauglichkeit zu führen. Auch im Haus bestehe die Gefahr, sich durch unsachgemäße Handhabung des Elektroantriebes
zu verletzen.
Die Antragstellerin hat gegen den ihr am 27. Juni 2013 zugestellten Beschluss am 3. Juli 2013 Beschwerde beim SG Halle erhoben
und zur Begründung geltend gemacht: Das SG habe versäumt, die an der Probefahrt beteiligten Personen als Zeugen zu vernehmen. Nach den Feststellungen des Sanitätshauses
sei die Antragstellerin auf Anhieb in der Lage gewesen, den Rollstuhl mit Elektroantrieb im Wohnbereich selbstständig zu bedienen.
Damit seien eventuelle Zweifel an ihrer Fahrtauglichkeit ausgeräumt worden. Die Antragstellerin sei auch nicht dement. Die
gegenteiligen Annahmen der MDK-Gutachter, die auf bloßen Mutmaßungen beruhten, seien unzutreffend. Insbesondere die Ergotherapie
habe aktuell die Folgen des Schlaganfalls deutlich verbessert.
Die Antragstellerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
den Beschluss des Sozialgericht Dessau-Roßlau vom 21. Juni 2013 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, sie mit
einem funkbetriebenen E-Fix-Antrieb samt Zubehör entsprechend des Angebotes der Handelsvertretung R. vom 12. März 2013 zu
versorgen.
Die Antragsgegnerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Antragsgegnerin hält die Fahrtauglichkeit der Antragstellerin nach wie vor für nicht hinreichend belegt.
Der Senat hat Befundberichte von der Fachärztin für Neurologie Dr. K. vom 16. August 2013 und vom Facharzt für Innere Medizin
Dr. E. vom 11. September 2013 eingeholt. Dr. K. hat mitgeteilt: Bei der Antragstellerin sei allenfalls noch von einer leichtgradigen
dementiellen Erkrankung auszugehen. Nach der letzten Testdiagnostik im Juli 2013 habe sie die Grenze zu einem normalen altersentsprechenden
Befund erreicht. Demgegenüber bestünden Persönlichkeitsänderungen sowie eine Affektlabilität und auch Konzentrationseinschränkungen.
Das gefahrlose Betreiben eines Rollstuhls mit Elektroantrieb sei ihr nicht möglich. Dies ergebe sich insbesondere aus der
Kombination von Schwindel, Gleichgewichtstörung, Fallneigung und Persönlichkeitsveränderung. Dr. E. hat mitgeteilt, er habe
die Antragstellerin am 10. September 2013 zu Hause besucht. Nach seiner Einschätzung könne sie einen Rollstuhl mit Elektroantrieb
bedienen. Sie sei geistig ausreichend in der Lage, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Eine Rollstuhlversorgung mit
E-Antrieb würde ihr eine bessere Teilhabemöglichkeit eröffnen.
Der Senat hat in einer nichtöffentlichen Sitzung vom 28. August 2013 die Zeugen D., T. O. und R. vernommen. Auf den Inhalt
des Protokolls vom 28. August 2013 wird ausdrücklich Bezug genommen. Nach einem vom Zeugen D. vorgelegten Schwerbehindertenausweis
steht ihm wegen eines Hör- und Wirbelsäulenschadens ein GdB von 50 seit dem 2. März 2004 zu.
Das Hauptsacheverfahren der Beteiligten ist mittlerweile beim SG unter dem Aktenzeichen S 20 KR 99/13 anhängig.
Die Gerichtsakte aus dem einstweiligen Rechtschutzverfahren sowie die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin haben vorgelegen
und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags der Beteiligten
wird auf den Inhalt dieser Akten ergänzend Bezug genommen.
II.
Die statthafte Beschwerde der Antragsstellerin ist form- und fristgerecht gemäß §§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig.
Die Beschwerde ist auch begründet, denn die Antragstellerin kann von der Antragsgegnerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung
im Hauptsacheverfahren eine vorläufige Versorgung mit dem Elektro-Antrieb für einen Rollstuhl verlangen.
Der Antragstellerin ist unter Berücksichtigung der eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten im Verfahren auf einstweiligen
Rechtsschutz nach §
86b Abs.
2 SGG (dazu 1.) und der danach im vorliegenden Fall gebotenen Folgenabwägung (dazu 2.) nach Auffassung des Senats nicht zuzumuten,
bis zur abschließenden Entscheidung in der Hauptsache auf die Verwendung der begehrten Mittel zu verzichten.
1. Gemäß §
86b Abs.
2 Satz 1
SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die
Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin
vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach Abs. 2 Satz 2 der Norm auch zur Regelung
eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile
nötig erscheint. Da die Antragstellerin in Bezug auf den Elektro-Antrieb noch keine Rechtsposition innehat, reicht eine Sicherungsanordnung
im Sinne von §
86 Abs.
2 Satz 1
SGG nicht aus. Die Antragstellerin begehrt vielmehr die Regelung eines vorläufigen Zustandes und macht geltend, dass ihr ohne
die einstweilige Anordnung wesentliche Nachteile drohen. Dies ist nur im Wege einer Regelungsanordnung im Sinne von §
86 Abs.
2 Satz 2
SGG zu erreichen.
Die Regelungsanordnung kann vom Gericht erlassen werden, wenn die Antragstellerin glaubhaft macht (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
920 Zivilprozessordnung [ZPO]), dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber der Antragsgegnerin besteht - Anordnungsanspruch - (dazu unter a) und
dass sie ohne den Erlass der begehrten Anordnung, insbesondere bei Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache, wesentliche
Nachteile im Sinne von §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG erleiden würde - Anordnungsgrund - (dazu unter b).
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden aufgrund ihres funktionalen
Zusammenhangs ein bewegliches System: je größer die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind, umso geringer sind die Anforderungen
an den Anordnungsgrund und umgekehrt. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist eine umfassende Interessenabwägung
erforderlich. Die in tatsächlicher (Glaubhaftmachung) wie in rechtlicher Hinsicht (summarische Prüfung) herabgesetzten Anforderungen
für die Annahme eines Anordnungsanspruchs korrespondieren dabei mit dem Gewicht der glaubhaft zu machenden Gefahr für die
Rechtsverwirklichung. Drohen im Einzelfall ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht
abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte
nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen
eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu
entscheiden (dazu unter 2.). Dabei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen
(st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05, juris). Die Folgen, die entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren
herausstellt, dass der Anspruch besteht, sind abzuwägen mit den Folgen, die entstünden, wenn das Gericht die einstweilige
Anordnung erließe, sich aber im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch nicht besteht.
Die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache sind nach vorläufiger Prognose Einschätzung höher einzuschätzen als die
Wahrscheinlichkeit einer Klageabweisung. Die Versorgung mit einem Elektro-Antrieb für einen Rollstuhl findet ihre Rechtsgrundlage
in §
33 Abs.
1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (
SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln,
wenn sie nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens oder nach §
34 Abs.
4 SGB V aus der GKV-Versorgung ausgeschlossen und im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern,
einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung mit
Blick auf die "Erforderlichkeit im Einzelfall" nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und
wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse
gemäß §
12 Abs.
1 SGB V nicht bewilligen (vgl. BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010, B 3 KR 13/09, zitiert nach juris).
Diese Anspruchsvoraussetzungen sind im vorliegenden Fall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben.
Der Versorgungsanspruch nach §
33 Abs.
1 Satz 1
SGB V besteht nicht allein deshalb, weil der begehrte Elektro-Antrieb vertragsärztlich verordnet (§
73 Abs. 2 Satz 1 Nr.
7 SGb V) worden ist und im Hilfsmittelverzeichnis (§
139 SGB V) gelistet ist. Die Krankenkassen enscheiden, ob ein Hilfsmittel nach Maßgabe des §
33 SGB V im Einzelfall zur medizinischen Rehabilitation, also zur Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung, zur Vorbeugung gegen
eine drohende Behinderung oder zum Ausgleich einer bestehenden Behinderung erforderlich ist.
Neben dem Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst, wie es z.B. insbesondere bei Prothesen
der Fall ist (sog. unmittelbarer Behinderungsausgleich) dient im vorliegenden Fall das beantragte Hilfsmittel dazu, die direkten
und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen (sog. mittelbarer Behinderungsausgleich). In diesem Rahmen ist die GKV
allerdings nur für den Basisausgleich der Folgen der Behinderung eintrittspflichtig. Es geht hier nicht um einen Ausgleich
im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Ein Hilfsmittel
zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der GKV daher nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten
täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach ständiger
Rechtsprechung gehören zu diesen allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen,
Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen
eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Zum körperlichen Freiraum gehört - im Sinne eines Basisausgleichs der
eingeschränkten Bewegungsfreiheit - die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um
bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden
- Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (z.B. Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post),
nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010, B 3 KR 13/09 R, juris mit weiteren Nachweisen).
Zwar haben die Versicherten keinen Anspruch auf eine optimale Hilfsmittelversorgung. Kernziel der Hilfsmittelversorgung ist
es jedoch, den behinderten Menschen nach Möglichkeit von der Hilfe anderer Menschen unabhängig oder zumindest deutlich weniger
abhängig zu machen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 2. Februar 2009, L 1 KR 192/08 ER, juris unter Hinweis auf die ständige BSG-Rechtsprechung). Betrachtet man die grundrechtsrelevante Bedeutung einer durch das Hilfsmittel zu erzielenden selbstständigen
Lebensführung, ermöglicht allein der beantragte Elektro-Antrieb es der Antragstellerin, selbstständige Richtungsänderungen
vorzunehmen. Nach den ärztlich bestätigten Befunden ist die Antragstellerin wegen einer gravierenden Kraftminderung nicht
in der Lage, ihren Rollstuhl selbstständig zu bedienen. Sie ist daher ohne die begehrte Leistung fortwährend auf fremde Hilfe
angewiesen.
Hierbei kann die Antragstellerin - entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin - nicht auf den Rollator verwiesen werden.
Nach den vorliegenden medizinischen Befunden und aufgrund des bereits festgestellten Merkzeichens "aG" ist die Antragstellerin
hochgradig gehbehindert und zudem erheblich sturzgefährdet. Ohne Hilfsperson wäre die Antragstellerin daher nicht in der Lage
den Rollator gefahrlos zu nutzen. Allein die Nutzung des Elektro-Antriebes ermöglicht es ihr, zumindest im Haus selbst ohne
Aufsicht Richtungsänderungen mit dem Rollstuhl vorzunehmen.
Das hohe Anforderungsprofil der Fahrtauglichkeit für den Außenbereich darf nicht, wie die Antragsgegnerin unter Hinweis auf
den MDK meint ohne Differenzierung, auf den innerhäuslichen Bereich übertragen werden. Dass die Antragstellerin behinderungsbedingt
nicht selbstständig am Straßenverkehr teilnehmen kann, ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Darum geht es der Antragstellerin
aber auch nicht. Vielmehr soll ihr im unmittelbaren Hausbereich mit Hilfe des Elektro-Antriebes ein Rest an Selbstständigkeit
in der eigenen Mobilität wieder gegeben werden. Entgegen der kritischen ärztlichen Stimmen zur Fahrtauglichkeit der Antragstellerin
darf nicht übersehen werden, dass etwaige Gefährdungsmomente im Haus vorhersehbarer und beherrschbarer sind als im Straßenverkehr.
Konkrete Gefährdungsmomente im unmittelbaren Hausbereich hat die Antragsgegnerin und auch der MDK nicht vortragen oder festgestellt.
Sie sind nach der vorläufigen Einschätzung des Senats auch nicht erkennbar.
In diesem Zusammenhang kommt dem Fahrtest vom 12. März 2013 unter Beteiligung der Zeugen D., T. O. und R. erhebliche Bedeutung
zu. Die Antragstellerin, die nachweislich nicht geistig behindert ist (vgl. Befundbericht Dr. K.) und seit Juli 2013 ihre
geistige Leistungsfähigkeit sogar noch einmal verbessern konnte, ist nach dem Testergebnis uneingeschränkt im Haus in der
Lage, den Rollstuhl mittels Elektro-Antrieb und Joy-Stick zu bedienen. Die Antragstellerin, die vor dem Schlaganfall immerhin
30 Jahre lang Auto gefahren ist (vgl. Angabe des Zeugen D.), konnte bereits nach kurzer Einweisung selbst die schmale Türöffnung
im Wohnzimmer mit nur wenigen Zentimetern Abstand zwischen Rollstuhl und Türrahmen sicher und zügig durchfahren. Wer ein solch
überzeugendes Fahrergebnis während einer "Probefahrt" im Haus zeigt, dem ist auch zuzutrauen, diese bereits hinreichend belegte
Fahrleistung eigenständig und ohne Aufsicht für die Zukunft im Haus zu wiederholen.
Selbst wenn dennoch Zweifel an der Fahrtauglichkeit der Antragstellerin im Hausbereich bestehen sollten, wofür aus Sicht des
Senats derzeit aber keine konkreten Anhaltspunkte bestehen, sprechen für den vorläufigen Leistungsanspruch auch die nachgewiesenen
Schwierigkeiten der Hilfsperson, den Rollstuhl der Antragstellerin im Nahbereich zu bedienen. So hat die Antragstellerin nach
den glaubhaften Angaben des Zeugen D. erheblich zugenommen und wiegt nunmehr deutlich über 80 kg, was eine erhebliche Belastung
für den Schiebevorgang des Rollstuhls bedeutet. Nach dem Schwerbehindertenausweis des Zeugen D., ist es ihm wegen seines Wirbelsäulenschadens
und seines Alters kaum zumutbar, die schwere Antragstellerin selbst für Kurzstrecken noch zu fahren.
Nach Ansicht des BSG muss die Rollstuhlversorgung das Grundbedürfnis im Nahbereich befriedigen können. Hierbei muss es dem Versicherten möglich
sein, ohne übermäßige Anstrengung und schmerzfrei und aus eigener Kraft sich mit dem Rollstuhl fortzubewegen (BSG, Urteil vom 12. August 2009, B 3 KR 8/08 R, juris). Dieser Maßstab gilt auch für die Hilfsperson, wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage
ist, den Rollstuhl im Außenbereich des Nahbereichs gefahrlos zu bedienen (vgl. überzeugend, Sozialgericht Frankfurt, Urteil
vom 12. März 2013, S 25 KR 525/12, juris).
Aus diesen Gründen sprechen daher die überwiegenden Gründe für einen Versorgungsanspruch der Antragstellerin.
2. Auch die Prüfung der Folgenabwägung führt zu einer vorläufigen Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Leistungsgewährung,
denn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes drohen der Antragstellerin schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare
Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. In der Folgenabwägung sind die grundrechtlichen
Belange des Antragstellers umfassend zu berücksichtigen (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05, juris).
Wegen der hohen grundrechtlichen Bedeutung der selbstständigen Mobilität kann es der Antragstellerin nicht zugemutet werden,
bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache auf den Elektro-Antrieb für ihren Faltrollstuhl zu warten. Ohne
die Nutzung des begehrten Hilfsmittels kann sie ihren Rollstuhl in der häuslichen Umgebung nicht einmal drehen, geschweige
denn ein Zimmer verlassen, ohne auf die jeweilige Hilfsperson angewiesen zu sein. Zur Milderung dieser Abhängigkeit von der
Hilfsperson sichert nur der Elektro-Antrieb ihr den "Rest" einer noch verbliebenen eigenständigen Bewegungsfreiheit. Die dagegen
von der Antragsgegnerin vorgebrachten Bedenken sind zumindest für den unmittelbaren Hausbereich allenfalls als abstrakte Gefahrenlage
anzusehen und wegen des unübersehbaren Grundrechtsbezugs zu vernachlässigen. So konnte die Antragstellerin den Elektro-Antrieb
im Haus problemlos bedienen. Konkrete Lebens- oder Leibesgefahren durch die Nutzung des Hilfsmittels im Haus sind weder bekannt
noch vorgetragen worden. Der Test vom 12. März 2013 unter Praxisbedingungen hat die Leistungsfähigkeit der Antragstellerin,
den Elektro-Antrieb des Rollstuhls im häuslichen Umfeld sicher und gefahrlos zu nutzen, bestätigt. Mögliche Kollisionen mit
Möbeln oder Inventar können vernachlässigt bleiben. Es obliegt allein der grundrechtlich geschützten Eigenverantwortung der
Antragsstellerin, diese möglichen und vielleicht für sie auch körperlich schmerzlichen Restrisiken beim Fahren des Elektro-Rollstuhls
im Haus selbst einzuschätzen und ggf. einzugehen. Für den Außenbereich lassen sich durch das abnehmbare Bedienteil der funkgesteuerten
Lenkung praktisch alle Risiken kontrollieren, die von der Hilfsperson zu tragen wären.
Die von der Antragsgegnerin vorläufig zu tragenden Kosten sind dagegen der Höhe nach überschaubar. Angesichts der erheblichen
Erfolgsaussichten einer Klage in der Hauptsache und der der Antragstellerin drohenden Nachteile bei einer Ablehnung der vorläufigen
Versorgung ist dieses Kostenrisiko von der Antragsgegnerin hinzunehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).