Kindergeldrecht ohne § 6a BKGG - Kindergeld; Verschulden; Prozessbevollmächtigter; Wissensvertreter; Kenntnis; Nichtkenntnis; missbräuchliche Unkenntnis;
Unkenntnis; sich aufdrängende Kenntnis; Kindergeldanspruch; Kindergeldberechtigter; Kindergeld für sich selbst; Kenntnis des
Aufenthalts, sich verschließen
Tatbestand:
Die Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung zur Zahlung von Kindergeld für sich selbst gemäß § 1 Abs. 2
Bundeskindergeldgesetz (
BKGG) ab September 2010.
Die Mutter der am ... 1992 geborenen Klägerin verstarb am ... 1999; sie war zu dem Zeitpunkt noch mit dem Vater der Klägerin
A. F. verheiratet. Das Amtsgericht M. hatte nach dem Tod der Mutter gemäß § 1647 Abs. 1
Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) das Ruhen der elterlichen Sorge festgestellt und das Jugendamt des Landkreises M.-Q. zum Vormund bestellt. Ab dem 28. September
1999 übernahmen die Schwester der verstorbenen Mutter und deren Ehemann die Vollzeitpflege der Klägerin gemäß § 33 Achtes
Buch Sozialgesetzbuch (Kinder- und Jugendhilfe). Das Kindergeld wurde bis August 2010 an die Pflegeeltern gezahlt.
Die Klägerin bezieht Halbwaisenrente nach dem
Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung -
SGB VI), ab Oktober 2010 i.H.v. 163,57 EUR/Mt. und ab Juli 2011 i.H.v. 164,66 EUR/Mt. Die Klägerin besuchte von 2010 an in Vollzeitunterricht
eine Fachoberschule, die sie erfolgreich beendet hat. Die ab 19. August 2013 aufgenommene Ausbildung zur Industriekauffrau
soll bis Juni 2016 dauern. Sie erhielt Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) ab August 2009 bis Juli 2013; im Jahr 2011 i.H.v. 425 EUR/Mt. Für den gesamten Bezugszeitraum war Einkommen des Vaters in
die Berechnung eingestellt worden, es lag jedoch jeweils unter der Freibetragsgrenze. Seit September 2013 bezieht die Klägerin
Berufsausbildungsbeihilfe nach dem
Dritten Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung (
SGB III).
Die Klägerin beantragte am 30. September 2011 bei der Familienkasse N. die Auszahlung von Kindergeld an sich selbst. Sie gab
zunächst an, der Name, das Geburtsdatum und die Anschrift des Vaters seien ihr nicht bekannt.
Die Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse H., teilte der Beklagten auf Nachfrage den vollständigen Namen des Kindsvaters
mit; dieser habe kein Kindergeld nach dem
Einkommensteuergesetz (
EStG) bezogen. Das Jugendamt der Stadtverwaltung B. teilte der Beklagten am 25. September 2012 auf Nachfrage die aktuelle Anschrift
des Vaters mit.
Auf die Aufforderung an die Klägerin, Angaben zu den Bemühungen hinsichtlich der Ermittlung des Aufenthalts des Vaters zu
machen, antwortete diese, anwaltlich vertreten: Sie habe keinerlei Kenntnisse über den Aufenthaltsort des Vaters, zumal sie
ihn nicht einmal persönlich kenne und kein Kontakt bestehe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (Urteil vom 8. April 1992,10 RKG 12/91) sei die Nichtkenntnis des Aufenthalts der Eltern nach einem subjektiven Maßstab
zu beurteilen. In einem Formularfragebogen gab die Klägerin an, nach der Trennung der Eltern im Jahr 1993 keinen Kontakt mit
dem Vater gehabt zu haben. Sie nannte eine ihr zuletzt im Jahr 1999 bekannte Anschrift in H./S., die nicht mit der vom Jugendamt
der Stadtverwaltung B. mitgeteilten Anschrift übereinstimmt. Ergänzend legte die Klägerin Schriftverkehr des Landkreises M.-Q.
sowie der Stadt H./S. von November 1999 bis Januar 2000 vor. Danach habe der Vater nach dem Tod der Mutter kein Interesse
an einer Ausübung der elterlichen Sorge gezeigt. Nach seinem Bekunden habe er die Klägerin zuletzt gesehen, als sie ein Jahr
alt gewesen sei. Danach hätten sich die Eheleute getrennt und nichts mehr voneinander gehört. Er habe geäußert, mit der ganzen
Sache nichts mehr zu tun haben zu wollen.
Die Familienkasse N. lehnte mit Bescheid vom 17. Oktober 2012 den Antrag auf Kindergeldzahlung ab. Da der Aufenthalt des Vaters
bekannt sei, lägen die Anspruchsvoraussetzungen nicht vor. Den nicht weiter begründeten Widerspruch wies die Familienkasse
N. mit gleich lautendem Widerspruchsbescheid vom 4. März 2013 zurück.
Gegen den ihr am 7. März 2013 zugegangenen Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 8. April 2013, einem Montag, Klage beim
Sozialgericht Dessau-Roßlau erhoben. Sie hat zunächst ihr bisheriges Vorbringen hinsichtlich der notwendigen subjektiven Kenntnis
des Aufenthalts des Vaters vertieft. Unabhängig davon, ob dessen Anschrift zwischenzeitlich ermittelt wurde, hätte sie nach
§
74 EStG einen Anspruch auf Auszahlung des Kindergelds an sich selbst. Die Voraussetzungen seien erfüllt, da der Vater ihr gegenüber
seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkomme.
Die Beklagte hat ausgeführt, der Aufenthalt des Vaters wäre ermittelbar und dieser hätte grundsätzlich Anspruch auf Kindergeld
nach dem
EStG. Der Antrag der Klägerin auf Kindergeld nach § 1 Abs. 2
BKGG sei als Antrag im berechtigten Interesse gemäß §
67 Satz 2
EStG zu werten und die Zahlung des Kindergeldes an die Klägerin könne im Rahmen einer Abzweigung erfolgen. Auf dem Urteil des
BSG vom 8. April 1992 (a.a.O.) basiere die Durchführungsanweisung der Familienkasse. Es müsse erkennbar sein, dass das Kind es
nicht grob fahrlässig oder vorsätzlich unterlassen habe, Hinweisen über den Aufenthalt der Eltern nachzugehen. Eine persönliche
Kontaktaufnahme zum Vater sei dabei nicht erforderlich.
Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 26. Januar 2015 unter Aufhebung ihrer Bescheide
verpflichtet, der Klägerin ab September 2010 Kindergeld i.H.v. 184,00 EUR/Mt. zu gewähren. Es liege eine Nichtkenntnis der
Klägerin vom Aufenthalt ihres Vaters gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2
BKGG vor. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut sei auf die Nichtkenntnis des Kindes abzustellen; die Vorschrift sei erkennbar
subjektiv ausgerichtet. Es lasse sich aus der Vorschrift auch kein Verschuldensgrad entnehmen, bei dessen Vorliegen eine positive
Kenntnis unterstellt werden könnte (BSG, Urteil vom 8. April 1992, a.a.O.). Es komme daher nicht darauf an, dass die Beklagte die aktuelle Anschrift des Vaters in
der Verwaltungsakte hinterlegt habe. Die von der Klägerin vorgelegten Unterlagen aus 1999 bis 2000 wiesen nicht die aktuelle
Anschrift des Vaters aus. Aufgrund der familiären Verhältnisse sei nachvollziehbar, dass kein Interesse der Klägerin an der
Kenntnis des Aufenthalts des Vaters bestehe. Eine Obliegenheit der Klägerin zu weiteren Ermittlungen entsprechend der Durchführungsanweisungen
der Beklagten ergebe sich nicht aus dem Gesetz. Sinn und Zweck des "Kindergelds für sich selbst" sei es, zur Vermeidung von
Härtefällen alleinstehende Kinder mit einem eigenen Anspruch auszustatten. Eine Gefahr von Doppelleistungen bestehe hier nicht,
da der Elternteil keinerlei Kontakt zum Kind pflege. Die Klägerin könne auch nicht zumutbar auf eine Abzweigung nach §
74 EStG verwiesen werden. Dieses Verfahren würde eine nicht gewollte Verknüpfung zwischen Eltern und Kind herstellen, denn der Elternteil
als grundsätzlich Berechtigter müsste angehört und dessen Identifikationsnummer mitgeteilt werden. Hätte der Gesetzgeber die
Fälle eines objektiv ermittelbaren Aufenthalts der Eltern dem
EStG unterwerfen wollen, hätte er dies in § 1 Abs. 2
BKGG eindeutig regeln müssen. Die weiteren Voraussetzungen für die Kindergeldgewährung lägen vor. Die Klägerin habe das 25. Lebensjahr
noch nicht vollendet und befinde sich seit Vollendung des 18. Lebensjahres in ununterbrochener Schul- und Berufsausbildung.
Die bis 31. Dezember 2011 nach § 2 Abs. 2 Satz 2
BKGG geltende Jahreseinkommensgrenze von 8.004 EUR habe die Klägerin mit dem BAföG und der Halbwaisenrente nicht erreicht. Der Anspruch bestehe bereits ab September 2010; bis August 2010 sei das Kindergeld
an die berechtigte Pflegemutter gezahlt worden. Die Höhe des Kindergelds ergebe sich aus § 6 Abs. 2
BKGG.
Dagegen hat die Beklagte am 17. Februar 2015 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Auch wenn die Klägerin
den Aufenthalt des Vaters nicht kenne, sei sie bei diesem doch als Kind i.S.v. §
63 EStG zu berücksichtigen. "Andere Person" i.S.v. § 1 Abs. 2 Nr. 3
BKGG seien auch leibliche Elternteile, deren Aufenthalt nicht bekannt ist.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 26. Januar 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Landkreis A.-B. hat unter dem 15. Juni 2016 auf Befragen des Senats mitgeteilt: die Klägerin habe bei ihren Anträgen auf
Leistungen nach dem BAföG jeweils den Aufenthaltsort ihres Vater nicht nennen können. Die Ermittlung dessen Aufenthalts und Einkommens sei im Wege
der Amtshilfe erfolgt.
Die Familienkasse S.-A.-T. hat unter dem 16. Juni 2016 auf Befragen des Senats mitgeteilt: Nach dem Ablehnungsbescheid der
Familienkasse N. vom 17. Oktober 2012 sei der Kindergeldantrag der Klägerin als Antrag im berechtigten Interesse gemäß §
67 Satz 2
EStG und als Antrag auf Abzweigung gemäß §
74 Abs.
1 EStG behandelt worden. Der Vater habe nicht mitgewirkt, weshalb am 26. August 2013 diesem gegenüber ein Ablehnungsbescheid ergangen
sei. Am gleichen Tag sei der Antrag auf Abzweigung gegenüber der Klägerin abgelehnt und ihrem Prozessbevollmächtigten der
an den Vater gerichtete Ablehnungsbescheid als Abdruck übersandt worden. Dagegen habe die Klägerin Einspruch erhoben, der
wegen des laufenden Rechtsstreits nicht bearbeitet werde.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte
und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe:
I.1.
Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht gemäß §
151 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) erhoben worden. Sie ist auch statthaft gemäß §
144 Abs.
1 Satz 2
SGG, da die Berufung laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
2.
Der Vater der Klägerin war nicht gemäß §
75 Abs.
2 SGG notwendig zum Verfahren beigeladen, denn die Entscheidung konnte der Klägerin und ihm gegenüber nicht nur einheitlich ergehen.
Der Vater der Klägerin hat selbst keinen Antrag auf Zahlung von Kindergeld an sich gestellt. Ein Fall des Streits über konkurrierende
Ansprüche i.S.v. § 3
BKGG liegt daher nicht vor (zu notwendigen Beiladung für diesen Fall: BSG, Urteil vom 11. März 1987,10 RKg 7/86 (13)). Der Senat hat von einer einfachen Beiladung des Vaters gemäß §
75 Abs.
1 SGG nach pflichtgemäßem Ermessen abgesehen. Dies hätte nicht den mutmaßlichen Interessen der Klägerin entsprochen, da sie auf
diese Weise ungewollt vom Aufenthalt des Vaters hätte erfahren müssen (Beiladungsbeschluss, ggf. Schriftsatzwechsel). Es ist
auch nicht erkennbar, dass der Vater der Klägerin ein Interesse am Ausgang des Verfahrens hat.
II.
Die Berufung der Beklagten ist begründet, da das Sozialgericht Dessau-Roßlau diese zu Unrecht zur Verurteilung von Kindergeld
an die Klägerin selbst verurteilt hat. Der angefochtene Bescheid vom 17. Oktober 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 4. März 2013 verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten und ist daher rechtmäßig.
Kindergeld für sich selbst erhält - bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Bewilligung von Kindergeld - gemäß § 1 Satz 2
BKGG, wer
1. in Deutschland einen oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,
2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und
3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.
1.
Die Klägerin hat ihren Wohnsitz in Deutschland.
2.a.
Die Klägerin kannte den Aufenthalt ihres Vaters - zumindest bis zum Zugang der Kopie des Ablehnungsbescheids der Familienkasse
S.-A.-T. an den Vater vom 26. August 2013 bei ihrem Prozessbevollmächtigten am 27. August 2013 - nicht.
Nach ihren glaubhaften Angaben hatte sie seit dem ersten Lebensjahr keinen Kontakt mehr zu dem Vater. Zwar hatte sie bei der
Antragstellung zu Unrecht angegeben, außer seinem Aufenthalt auch seinen Namen und das Geburtsjahr nicht zu kennen. Der Name
ergibt sich jedoch schon aus der von ihr selbst vorgelegten Geburtsurkunde. Das Geburtsdatum des Vaters konnte sie in dem
am 8. Oktober 2012 vorgelegten Formularfragebogen genau angeben.
Der Senat hat jedoch nach der Befragung in der mündlichen Verhandlung keinen Zweifel daran, dass die Klägerin zum Zeitpunkt
der Antragstellung den aktuellen Aufenthalt des Vaters nicht kannte. Es ist plausibel, dass sie als letzte bekannte Anschrift
eine Adresse genannt hat, die ihr im Jahr 1999 anlässlich der Befragung des Vaters zur Übernahme der elterlichen Sorge bekannt
geworden ist. Sie selbst hat im Verwaltungsverfahren diese Vorgänge vorgelegt, die ihr nach ihren Angaben Eintritt der Volljährigkeit
vom Jugendamt überreicht worden sind.
Spätestens seit dem 27. August 2013 hat die Klägerin Kenntnis vom Aufenthalt des Vaters. Es kann offen bleiben, ob sie von
ihrem Prozessbevollmächtigten den gesamten Schriftverkehr mit der Familienkasse S.-A.-T. bekommen hat. Denn jedenfalls ist
ihr die Kenntnis ihres Prozessbevollmächtigten als eigene Kenntnis zurechenbar. Wer einen anderen als sog. Wissensvertreter
mit der Erledigung bestimmter Angelegenheiten betraut, muss sich das von diesem im Rahmen des Auftragsverhältnisses erlangte
Wissen zurechnen lassen (Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 16. Mai 1989, VI ZR 251/88 (12)).
Für die Zeit davor reicht entgegen der Auffassung der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden insoweit nicht aus, dass der
Aufenthalt des Vaters der Behörde bekannt ist. Zu Recht hat das Sozialgericht darauf abgestellt, dass insoweit ein subjektiver
Maßstab anzulegen ist und auf die Nichtkenntnis dass das Kindergeld beanspruchenden Geldkindes abzustellen ist (BSG, Urteil vom 8. April 1992, a.a.O., (17)).
b.
Die Klägerin ist jedoch so zu behandeln, als hätte sie - auch vor dem 27. August 2013 - positive Kenntnis über den Aufenthalt
des Vaters gehabt.
Zwar enthält das
BKGG keine Regelung, wenn ein antragstellendes Kind schuldhaft Hinweisen über den Aufenthalt der Eltern nicht nachgeht. Zu prüfen
ist dann aber, ob eine missbräuchliche Nichtkenntnis der Kenntnis i.S.v. § 1 Abs. 2 Nr. 2
BKGG gleichzustellen ist (BSG, a.a.O. (18) offen gelassen, aber unter ausdrücklichem Hinweis auf die zivilrechtliche Rechtsprechung im Rahmen von §
852 BGB in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung).
Insoweit ist nach Rechtsprechung des BGH zum Beginn der Verjährung deliktischer Ansprüche abzugrenzen eine grob fahrlässig
verschuldete Unkenntnis der vom Gesetz geforderten positiven Kenntnis gegenüber einem missbräuchlichen "sich verschließen"
vor der Kenntnis (BGH, Urteil vom 5. Februar 1985, VI ZR 61/83 (16), Urteil vom 16. Mai 1989, a.a.O. (15)). Dabei ist auch bezüglich der Nichtkenntnis abzustellen auf den sog. Wissensvertreter,
also den mit der Bearbeitung des Antragsverfahrens beauftragten Prozessbevollmächtigten der Klägerin (BGH, Urteil vom 16.
Mai 1989, a.a.O. (13)).
Nach §
852 Abs.
1 BGB a.F. hängt der Beginn der Verjährung von deliktischen Ansprüchen davon ab, dass der Verletzte - oder der Wissensvertreter
- Schaden und Schädiger positiv kennen. Die Vorschrift wird auch dann angewendet, wenn der Verletzte die Kenntnis zwar tatsächlich
nicht besitzt, sie sich aber in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe beschaffen könnte. Denn der Verletzte soll es nicht
in der Hand haben, die Verjährungsfrist einseitig dadurch zu verlängern, dass er die Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis
verschließt (Rechtsgedanke des §
162 BGB). Allerdings genügt eine grob fahrlässig verschuldete Unkenntnis der positiven Kenntnis nicht. Ein solcher Fall liegt nur
vor, wenn der Geschädigte eine sich ihm ohne weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit nicht
wahrnimmt. Nur dann liegt ein Fall von missbräuchlichem sich verschließen vor der Kenntnis vor, der mit einer positiven Kenntnis
gleich zu setzen ist.
Kriterien für eine missbräuchliche Unkenntnis sind nach der Rechtsprechung des BGH: das Verschließen der Augen vor einer sich
aufdrängenden Kenntnis, oder die unterbliebene Wahrnehmung von sich anbietenden und auf der Hand liegenden Erkenntnismöglichkeiten,
deren Erlangung weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursacht. Dies ist der Fall, wenn etwa eine einfache Nachfrage
genügen würde zur positiven Kenntniserlangung. Dies gilt aber dann nicht mehr, wenn lange und Zeit raubende Telefonate oder
umfangreicher Schriftwechsel erforderlich würden (BGH, Urteil vom 8. April 1992, a.a.O. (16)). Ebenfalls keine missbräuchliche
Unkenntnis liegt vor, wenn der Geschädigte die aus seiner Sicht in Betracht kommenden Auskunftsstellen erfolglos um Mitteilung
gebeten und erst durch eine verspätet gewährte Akteneinsicht Kenntnis erlangt hat (BGH, Urteil vom 8. April 1992, a.a.O. (17)).
Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin - ab Antragstellung - sowie ihr Prozessbevollmächtigter als Wissensvertreter
- ab der Übernahme des Mandats im Mai 2012 - sich durch eine einfache Nachfrage Kenntnis vom Aufenthalt des Vaters hätten
verschaffen können. Dies hätte beim für die letzte bekannte Anschrift zuständigen Einwohnermeldeamt, bei dem für die Klägerin
bis zur Volljährigkeit zuständigen Jugendamt (etwa unter dem damals vergebenen Aktenzeichen) oder bei dem Amt für Ausbildungsförderung,
das im Rahmen der BAföG-Bewilligungen seit 2009 jeweils das Einkommen des Vaters tatsächlich ermittelt hat, erfolgen können. Die Klägerin wusste
von der Einkommensanrechnung; ihr musste klar gewesen sein, dass die Behörde Kontakt mit dem Vater aufgenommen hatte.
Ab Erteilung des Bescheids vom 17. Oktober 2012, wonach der Aufenthalt des Vaters bekannt sei, wäre auch eine Nachfrage bei
der Beklagten möglich gewesen. Die Klägerin hat indes schon während des Antragsverfahrens durch ihren Wissensvertreter auf
die subjektive Unkenntnis verwiesen und keinerlei Versuch unternommen, den Aufenthalt des Vaters in Erfahrung zu bringen.
Dieser hätte ohne weiteres - durch Nachfrage bei den Behörden oder durch Akteneinsicht - den aktuellen Aufenthalt des Vaters
erfahren können. Es liegt hier nicht der Fall vor, dass eine zur Auskunft berufene Stelle diese auf eine Nachfrage verweigert
hätte (so der Fall von: Sozialgericht Landshut, Beschluss vom 17. April 2012, S 10 KG 1/12 B ER).
Soweit das Sozialgericht ausgeführt hat, wegen der familiären Verhältnisse sei nachvollziehbar, dass kein Interesse der Klägerin
an dem Aufenthaltsort des Vaters bestehe, folgt der Senat dieser Überlegung in Bezug auf § 1 Abs. 2 Nr. 2
BKGG nicht. Insoweit ist nicht das Interesse am unbekannten Aufenthalt des Vaters von Bedeutung, sondern die Verpflichtung des
rechtskonformen Verhaltens. Hängt ein Anspruch von der Nichtkenntnis einer Tatsache ab, und verschließt sich der Antragsteller
rechtsmissbräuchlich vor der Kenntnis, kann ihm dies nicht zu dem geltend gemachten Anspruch verhelfen.
Dabei ist auch die Wertung des Gesetzes zu berücksichtigen, wonach die Zahlung von Kindergeld an sich selbst eine eng umgrenzte
Ausnahmeregelung darstellt. Denn grundsätzlich ist der Kindergeldanspruch eine den Personen zustehende Leistung, die mit dem
Unterhalt von Kindern belastet sind. Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen soll der Anspruch auf Kindergeldzahlung an sich
selbst in Betracht kommen. Nach den Gesetzesmaterialien hatte die hier streitige Vorschrift die Fälle im Blick, in denen nach
dem Tod oder der Verschollenheit der Eltern niemand die Elternstelle im Sinne des Kindergeldrechts eingenommen hat. Soweit
in diesem Fall ein Kind für seine Geschwister eine quasi-elterliche Funktionen wahrgenommen hatte, konnte nach der alten Rechtslage
Kindergeld zwar für die Geschwister, nicht aber für das quasi-elterliche Kind gewährt werden (BT-Drucks 10/3369, S. 11; BSG, a.a.O. (14); Hessisches LSG, Urteil vom 25. Juni 2014, L 6 KG 3/11(21)).
Der Senat vermag auch nicht zu erkennen und es ist auch nicht vorgetragen worden, dass die Kenntniserlangung des aktuellen
Aufenthalts des Vaters die Klägerin grundrechtswidrig in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Art.
2 Abs.
1 i.V.m Art.
1 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) verletzte. Denn der Klägerin war ihre Abstammung bekannt. Etwas anderes mag gelten, wenn die Kenntniserlangung vom Aufenthalt
des Elternteils dazu führen würde, dass das Kind erstmals die Identität der leiblichen Mutter erfahren müsste (so: Landessozialgericht
für das Land Niedersachsen, Urteil vom 20. Februar 2001, L 8/3 KG 5/00).
Zur Aufforderung an den Vater, einen Kindergeldantrag zu stellen und die Zahlung an sie weiterzuleiten, ist auch keine persönliche
Kontaktaufnahme erforderlich gewesen. Da der Vater Kindergeldberechtigter nach dem
EStG ist, konnte die Klägerin gemäß §
67 Abs.
2 EStG anstelle des Vaters einen Kindergeldantrag stellen. Nach §
74 Abs.
1 EStG ist antragsgemäß eine Abzweigung des Kindergeldes vorzunehmen, wenn der Vater ihr gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht
nicht nachkommt. Die Antragstellung für den Vater und der gleichzeitige Antrag auf Abzweigung an die Klägerin sind auch seitens
der Familienkasse S.-A. bereits verwaltungsmäßig erfasst. Die sich aus der fehlenden Mitwirkung des Vaters im dortigen Verfahren
ergebenden Folgen für den abzuzweigenden Kindergeldanspruch der Klägerin sind in jenem Verfahren zu klären. Sie rechtfertigen
es aber nicht, nur wegen der dort aufgetretenen Komplikationen der Klägerin im Rahmen von § 1 Abs. 2
BKGG einen eigenen Kindergeldanspruch zu bewilligen.
3.
Der Senat kann deshalb offen lassen, ob ein Leistungsausschluss vorliegt, weil die Klägerin bei dem Vater als einer "anderen
Person" als Kind zu berücksichtigen ist. Insoweit ist abzustellen auf die materielle Rechtslage. Es ist also zu prüfen, ob
die Klägerin bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist. Nicht entscheidend ist hingegen, ob sie tatsächlich
auch berücksichtigt wird (Seewald/Felix, Kindergeldrecht, Kommentar,
BKGG § 1, Rn. 127; Hambüchen, BEEG,
EStG,
BKGG Kommentar,
BKGG §
1 Rn. 51). Als andere Person kommt jeder nach §
62 EStG oder § 1 Abs. 1 und 3
BKGG Berechtigte in Betracht.
Aus gesetzessystematischen Gründen dürfte damit aber nicht die Person des Vaters erfasst sein, von der die Klägerin zum Vorliegen
des Anspruchs auf eigenes Kindergeld den Aufenthalt ja nicht kennen darf. Gemeint sein dürften nur andere mögliche Leistungsberechtigte
wie Stiefeltern, Großeltern oder Pflegeeltern (vgl. Durchführungsanweisung 101.74 zum
BKGG der Familienkasse Direktion, Stand Dezember 2011). Würde aber als "andere Person" auch der Vater unbekannten Aufenthalts
gelten, könnte ein eigener Kindergeldanspruch nur dann entstehen, wenn dieser sich nicht in der Bundesrepublik Deutschland
aufhielte. Dies lässt sich - bei unbekanntem Aufenthalt - tatsächlich kaum aufklären.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, denn das Urteil beruht auf der Rechtsprechung des BSG (§
160 Abs.
2 SGG).