Begründung der Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren
Auslegung von Prozesserklärungen
Keine Auslegung eines Schreibens als Klage beim Anstreben einer gütlichen Einigung
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Anerkennung weiterer Folgen aus einem Arbeitsunfall am 30. April 2012.
Am 30. April 2012 erlitt der Kläger auf einem Weg zum Treffen des Spielmannszuges der Freiwilligen Feuerwehr W. einen Motorradunfall.
Der D-Arzt stellte im Weiteren multiple Schürfwunden fest. Später wurden in einem MRT Innenmeniskusschäden gesichert; nach
Ansicht des Beratungsarztes der Beklagten Dr. S. waren diese aber keine Unfallfolgen. Am 26. September 2012 erfolgte eine
Arthroskopie. Arbeitsunfähigkeit lag bis zum 6. Juni 2012 sowie vom 16. August bis 30. November 2012 vor.
Mit Bescheid vom 29. Januar 2013 anerkannte die Beklagte das Ereignis vom 30. April 2012 als Arbeitsunfall mit unfallbedingter
Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit bis zum 6. Juni 2012. Ein Anspruch auf Leistungen über dieses Datum hinaus
wurde abgelehnt. Hiergegen legte der Kläger mit einem am 7. Februar 2013 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben "Widerspruch"
ein und begründete ausführlich, warum die Meniskusschäden Folge des Unfalles sein müssten. Abschließend heißt es: "Es macht
mich zwar traurig, ich werde aber Klage gegen Ihren Bescheid bei Gericht einreichen, falls Sie bei erneuter Prüfung meines
Falles die Wahrscheinlichkeit des Motorradsturzes nicht als Auslöser meines Kniemeniskusrisses und der insgesamt 21 Wochen
Arbeitsausfall anerkennen."
Die Beklagte holte ein Gutachten der Chirurgin Prof. Dr. W. ein, das einen Zusammenhang zwischen dem Meniskusschaden und dem
Unfall ausschloss. Dem stimmte der Beratungsarzt der Beklagten Dr. C. zu. Er regte aber die Beiziehung von MRT-Aufnahmen an,
um zu überprüfen, ob ein Kreuzbandschaden Unfallfolge sein könne. Nach deren Beiziehung empfahl Dr. C. die Anerkennung einer
Verletzung des hinteren Kreuzbandes als Unfallfolge. Die Veränderungen des Innen- und Außenmeniskus seien unfallunabhängig.
Mit Bescheid vom 12. Februar 2014 - abgesandt am gleichen Tage - anerkannte der Widerspruchsauschuss der Beklagten Abschürfungen
der Streckseiten beider Arme und Beine sowie die oberschenkelnahe Schädigung des hinteren Kreuzbandes am linken Knie als Unfallfolge.
Im Übrigen wies sie den Widerspruch zurück und erklärte die durch das Widerspruchsverfahren entstandenen notwendigen Aufwendungen
zu 1/3 für erstattungsfähig. Der Bescheid verweist in der Rechtsbehelfsbelehrung auf die Möglichkeit der Klage vor dem Sozialgericht
Magdeburg.
Mit einem an den Widerspruchsausschuss gerichteten Schreiben vom 28. Februar 2014 (Eingang bei der Beklagten am 4. März 2014)
bedankte sich der Kläger für die teilweise Abhilfe seines Widerspruchs. In der Begründung sei aber Einiges falsch und er bitte
um Richtigstellung, "wenn dies zu diesem Zeitpunkt auf diesem Wege noch möglich ist." Es folgte wiederum eine intensive Auseinandersetzung
mit medizinischen Fragen. Das Schreiben endete mit einem Appell an den Widerspruchsausschuss, sich unter Berücksichtigung
dieser Tatsachen noch einmal den Bescheid anzusehen. Weiter heißt es: "Ich habe zwar von meiner Rechtsschutzversicherung Rechtsschutzzusage,
würde es aber begrüßen, wenn eine außergerichtliche Einigung zum jetzigen Zeitpunkt noch möglich wäre. Ich hoffe innerhalb
der nächsten Tage von Ihnen zu hören ".
Mit Schreiben vom 13. März 2014 erläuterte die Beklagte ihre Entscheidung und lehnte eine Abänderung des Bescheides ab.
Im Weiteren beantragte der Kläger die Erstattung von Leistungsaufwendungen. Mit Bescheid vom 17. September 2014 wies die Beklagte
auf ihre Entscheidung in dem Bescheid vom 29. Januar 2013 hin und erläuterte diese. Bei der am 26. September 2012 durchgeführten
Kniegelenksspiegelung seien ausschließlich unfallfremde Gesundheitsstörungen am linken Kniegelenk behandelt worden. Ein Anspruch
auf Leistungen über den 6. Juni 2012 hinaus bestehe somit nicht. Hiergegen legte der Kläger erneut Widerspruch ein und führte
zur Sache aus.
Mit Widerspruchbescheid vom 18. Februar 2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und wies darauf hin, dass ihr Bescheid
vom 12. Februar 2014 in der Rechtsbehelfsbelehrung den Hinweis auf eine Klagemöglichkeit enthalte. Da diese nicht erhoben
worden sei, sei dieser Bescheid bindend geworden. Der Kläger könne Klage gegen den Bescheid vom 12. Februar 2014 erheben.
Das Sozialgericht werde die Klage aber nicht zulassen, da die Frist zur Erhebung abgelaufen sei. Auf die Möglichkeit der Klage
auch gegen diesen Widerspruchsbescheid wird hingewiesen.
Am 12. März 2015 hat der Kläger gegen den Bescheid der Beklagten vom 17. September 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 18. Februar 2015 Klage erhoben und beantragt, ihm "Leistungen in Form der Erstattung von Arbeitsausfall für den Zeitraum
vom 16. August 2012 bis 30. November 2012 zu gewähren".
Mit Bescheid vom 17. März 2016 hat die Beklagte dem Kläger eine Verletztenrente auf der Basis einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
um 20 v. H gewährt. Die am Sozialgericht anhängige Klage vom 12. März 2015 wurde mit einem Vergleich dahingehend beendet,
dass die Beklagte dem Kläger aufgrund der anerkannten Unfallfolgen eine Heilbehandlung zu gewähren habe. Die Heilbehandlung
stehe aber nicht im Zusammenhang mit der Heilbehandlung vom 16. August 2012 bis zum 30. November 2012.
Der Kammervorsitzende hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass das Schreiben des Klägers vom 4. März 2012 als Klage
im Sinne von §
91 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) anzusehen sei. Entgegen dieser Vorschrift habe es die Beklagte versäumt, es an das Gericht weiterzuleiten. Das Gericht werde
den Vorgang nunmehr als Klage eintragen. Der Kläger beantragte daraufhin, Veränderungen im Außen- und Innenmeniskus seines
linken Kniegelenkes als Folge des Arbeitsunfalles vom 30. April 2012 anzuerkennen.
Mit Gerichtsbescheid vom 12. September 2016 hat das Sozialgericht Magdeburg die Klage als unbegründet abgewiesen.
Dagegen hat der Kläger am 10. Oktober 2016 Berufung eingelegt.
Er beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 12. September 2016 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 29.
Januar 2013 in Gestalt des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2014 abzuändern und festzustellen, dass
die Veränderungen am Innen- und Außenmeniskus seines linken Kniegelenkes Folge des anerkannten Arbeitsunfalles vom 30. April
2012 sind.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat den Kläger beziehungsweise seine Ehefrau in einem Erörterungstermin am 27. Juni 2018 eingehend zu seiner Motivation
und Absicht im Zusammenhang mit dem Schreiben vom 28. Februar 2014 befragt. Diesbezüglich wird auf die Niederschrift der nichtöffentlichen
Sitzung Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich in diesem Erörterungstermin übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden
erklärt.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte
und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§
143,
144,
151 SGG), aber nicht begründet. Hierüber konnte der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß §
124 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 29. Januar 2013 in Gestalt des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom
12. Februar 2014 ist unzulässig. Sie ist nicht fristgerecht erhoben worden und deshalb unzulässig. Nach §
87 Abs.
1 Satz 1 und Abs.
2 SGG ist eine Klage bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten
der Geschäftsstelle innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides zu erheben. Die Frist für die Erhebung
der Klage gilt auch dann als gewahrt, wenn die Klageschrift innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit
bei einer anderen inländischen Behörde oder bei einem Versicherungsträger oder bei einer deutschen Konsularbehörde oder, soweit
es sich um die Versicherung von Seeleuten handelt, auch bei einem deutschen Seemannsamt im Ausland eingegangen ist (§
91 SGG).
Die Klage ist vorliegend frühestens am 12. März 2015 beim Sozialgericht Magdeburg erhoben worden. Der Widerspruchsbescheid
vom 12. Februar 2014 ist dem Kläger deutlich früher zugegangen, wie zumindest sein Schreiben vom 28. Februar 2014 zeigt. Jedoch
kann dieses nicht als Klage angesehen werden, die fristwahrend bei der Beklagten eingegangen wäre.
Für die Frage, ob und ggf. welcher Rechtsbehelf eingelegt wurde, kommt es gemäß §
106 Abs.
1 SGG und §
133 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) zunächst auf den wirklichen Willen des Rechtsbehelfsführers und auf dessen erkennbares Verfahrensziel an. Entscheidend ist,
welchen Sinn die Erklärung schließlich aus der Sicht des Gerichts und des Prozessgegners hat. Dabei ist der Rechtsbehelfsführer
nicht allein am Wortlaut festzuhalten. In verfassungsgerechter Auslegung (Art
19 Abs.
4 Grundgesetz) dürfen Prozesserklärungen nicht so ausgelegt werden, dass der Zugang zu den im
SGG eingeräumten Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (BVerfG, Beschluss
vom 11.2.1987, 1 BvR 475/85, BVerfGE 74, 228-236; BSG, Urteil vom 14.12.2006, B 4 R 19/06 R, juris; BSG, Beschluss vom 8.11.2005, B 1 KR 76/05 B, SozR 4-1500 § 158 Nr. 2).
Der Kläger wollte mit seinem Schreiben vom 28. Februar 2014 allein auf eine gütliche Einigung hinwirken, wie seine Wortwahl
zeigt. Wie schon der Widerspruch des Klägers vom 7. Februar 2013 belegt, unterscheidet er durchaus zwischen "Widerspruch"
und "Klage (...) bei Gericht". Die Unterschiede im Adressaten und seine Wortwahl im Schreiben vom 28. Februar 2014 waren daher
- schon gar nicht angesichts der zutreffenden und rechtlich einwandfreien Rechtsmittelbelehrung - zufällig oder gar falsch
gewählt. Mit der Formulierung im Schreiben vom 28. Februar 2014, er bitte um Richtigstellung, "wenn dies zu diesem Zeitpunkt
auf diesem Wege noch möglich ist", zeigt er eindeutig, dass er sich der Problematik bewusst ist. Dies bekräftigt der Schlusssatz:
"Ich habe zwar von meiner Rechtsschutzversicherung Rechtsschutzzusage, würde es aber begrüßen, wenn eine außergerichtliche
Einigung zum jetzigen Zeitpunkt noch möglich wäre. Ich hoffe innerhalb der nächsten Tage von Ihnen zu hören". Dieses Schreiben
kann daher nur als Appell an die Beklagte und nicht als Klage angesehen werden.
Im Erörterungstermin vor dem Senat hat die Ehefrau des Klägers, die damals die Korrespondenz für den Kläger geführt hat, diese
Auslegung bestätigt: "Ich habe damals einen Anwalt aufgesucht und gefragt, ob die Unfallkasse noch etwas machen könnte. Frau
J. hat mir damals mitgeteilt, man könne sich jederzeit mit dem Unfallversicherungsträger gütlich einigen. Ziel meines Schreibens
vom 28. Februar 2014 war auch kein Gerichtsverfahren, sondern eine solche gütliche Einigung."
Diese Angaben hat der Kläger selbst in jenem Termin ausdrücklich bestätigt. Nochmals zum Sinn und Zweck des Schreibens vom
28. Februar 2014 befragt hat die Ehefrau des Klägers erklärt: "Die Unfallkasse sollte bewegt werden, gütlich einzulenken.
Die Unfallkasse sollte die Kosten übernehmen." Es sei bewusst noch keine Klage erhoben worden. Dies alles hat der Kläger nochmals
ausdrücklich bestätigt.
Der Bescheid der Beklagten vom 17. September 2014 ändert nichts an der Bestandskraft des Widerspruchsbescheides; er betrifft
einen anderen Streitgegenstand. Auch der hiergegen eingelegte Widerspruch zeigt erneut, dass dem Kläger der Unterschied zwischen
Klage und Widerspruch deutlich ist. Das Schreiben schließt mit den Worten: "Wenn es dann so sein soll, werde ich Sozialgerichtsklage
einreichen." Gegen den anschließend erlassenen Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 2015 hat der Kläger dann am 12. März 2015
Klage am Sozialgericht Magdeburg erhoben und "die Erstattung von Arbeitsausfall für den Zeitraum vom 16. August 2012 bis 30.
November 2012" beantragt. Erst nach Hinweis des Sozialgerichts hat er beantragt, Veränderungen im Außen- und Innenmeniskus
des linken Kniegelenkes als Folge des Arbeitsunfalles vom 30. April 2012 anzuerkennen. Dies hat die Beklagte aber bereits
bestandskräftig abgelehnt.
Abgerundet wird dies alles durch die Angabe der Ehefrau: "Wir haben immer wieder diese grünen Schreiben von der Beklagten
erhalten. Wir haben dagegen immer wieder Widerspruch eingelegt. Nach vier von diesen Schreiben haben wir dann schließlich
Klage eingereicht, weil die Beklagte nicht einlenkte." Allein diese letztgenannte Klage war nicht wegen Fristversäumnis unzulässig;
diese wurde jedoch durch den Vergleich erledigt.
Der Antrag nach §
109 SGG ist zurückzuweisen, da das so erstrebte Beweisergebnis zugunsten des Klägers unterstellt werden kann, ohne dass dies Einfluss
auf die Zulässigkeit der Klage hätte.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß §
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG zuzulassen, liegen nicht vor.