GdB-Feststellung im Schwerbehindertenrecht bei Brustkrebs mit Verlust einer Brust; Berücksichtigung der tatsächlichen Funktionseinschränkungen
nach Ablauf der Heilungsbewährungszeit
Tatbestand:
Umstritten ist die Entziehung eines Grades der Behinderung (GdB).
Die am ... 1955 geborene Klägerin beantragte am 20. Dezember 2005 die Feststellung von Behinderungen nach dem
Neunten Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX) und die Ausstellung eines Ausweises. Sie gab an, wegen eines bösartigen Tumors sei ihre linke Brustdrüse entfernt worden.
Der Beklagte holte von den Asklepios Kliniken W. die Epikrise vom 13. Dezember 2005 über stationäre Aufenthalte der Klägerin
vom 9. bis 10. November und vom 13. bis 24. November 2005 ein. Danach war bei ihr ein multizentrisches invasives lobuläres
(läppchenförmig) Mammakarzinom links festgestellt und eine Ablatio (Entfernung) Mammae links und eine Axilladissektion (Lymphknotenentfernung)
in zwei Ebenen nebst Rekonstruktion der linken Brust durchgeführt worden. Daraufhin stellte der Beklagte nach Beteiligung
seines ärztlichen Dienstes mit Bescheid vom 25. Januar 2006 einen GdB von 50 ab 20. Dezember 2005 fest. Er stützte diese Entscheidung
auf eine Funktionsbeeinträchtigung infolge des Verlustes der linken Brust im Stadium der Heilungsbewährung nebst Rekonstruktion
der linken Brust. Ferner gab er an, dass sich diese Funktionsbeeinträchtigung derzeit noch im Stadium der Heilungsbewährung
befinde. Daher werde die Funktionsbeeinträchtigung, obwohl dies durch die derzeitigen tatsächlichen Auswirkungen nicht gerechtfertigt
sei, zunächst mit einem höheren GdB als zustehend bewertet. Nach Ablauf der Heilungsbewährung, die im November 2010 ende,
werde der GdB überprüft und entsprechend der dann noch verbliebenen tatsächlichen Funktionsbeeinträchtigung ggf. neu festgestellt.
Am 18. November 2010 teilte die Klägerin auf Anforderung des Beklagten die behandelnden Ärzte der letzten zwei Jahre mit.
Mit Befundschein vom 16. Dezember 2010 berichtete die Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. F., es habe sich
bei der letzten gynäkologischen Untersuchung am 29. Juli 2010 kein Hinweis auf ein Rezidiv oder eine Metastasierung gefunden.
Die Laborbefunde einschließlich Tumormarker seien im Normbereich, der Allgemeinzustand sei gut, Ausfallerscheinungen bestünden
nicht. Nach Beteiligung seines ärztlichen Dienstes hörte der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 14. Februar 2011 zum
beabsichtigten Erlass eines Aufhebungsbescheides nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) an, da nach Ablauf der vorgesehenen Zeit der Heilungsbewährung der GdB nur noch nach der tatsächlich bestehenden Beeinträchtigung
zu beurteilen sei. Hinsichtlich der Funktionsbeeinträchtigung "Verlust der linken Brust" sei die vorgesehene Zeit der Heilungsbewährung
abgelaufen. Insoweit sei eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten. Dies habe zur Folge,
dass ein GdB von wenigstens 20 nicht mehr vorliege, so dass eine Feststellung von Behinderungen und eines GdB nach §
69 Abs.
1 SGB IX nicht mehr möglich sei. Die verbliebene Gesundheitsstörung "Verlust der linken Brust mit anschließendem Wiederaufbau, Ablauf
der Heilungsbewährung" bedinge keinen GdB von wenigstens 20 und stelle somit keine Behinderung dar. Hierzu nahm die Klägerin
am 7. März 2001 Stellung und schilderte ihren Tagesablauf. Sie müsse bereits beim Aufstehen einige Minuten auf der Bettkante
verweilen, da ihr schwindelig sei. Seit zwei Jahren nehme sie Tabletten für den Blutdruck. Nach dem Frühstück begebe sie sich
zur Arbeitsstelle. Es sei ihr nicht immer möglich, dies mit dem Auto zu tun, da sie sich oft nicht in der Lage fühle, Auto
zu fahren. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Bus oder Straßenbahn) sei sie länger unterwegs. Als Postbankmitarbeiterin stehe
sie täglich 8 bis 9 h am Schalter. Dabei müsse sie auch Pakete bis 31,5 kg entgegennehmen. Wegen ihrer Brustoperation falle
es ihr nicht leicht, schwere Pakete zu tragen. Sie habe dann Schmerzen im linken Arm. Deshalb sei sie immer auf die Hilfe
ihrer Kollegen angewiesen. Sie sei sehr froh über die zusätzlichen Urlaubstage, weil sie zwischendurch immer eine Pause einlegen
könne und andernfalls nicht durchhalten würde. Nach einem Arbeitstag komme sie völlig erschöpft nach Hause. Sie sei dann nicht
mehr in der Lage, noch etwas im Haushalt zu erledigen. Die Versorgung übernehme dann ihr Mann. An jedem zweiten Samstag müsse
sie arbeiten. Wenn sie dann ein Wochenende frei habe, müsse sie sich von den Strapazen der Woche erholen. Am gesellschaftlichen
Leben sei sie nicht mehr interessiert, da sie immer schlapp und erschöpft sei. Täglich müssen sie Tabletten wie ASS 100, Femara,
Simvastatin und Bisoprolol einnehmen. Diese Medikamente hätten Nebenwirkungen, die sie stark belasteten. Daraufhin holte der
Beklagte einen Befundschein von der Fachärztin für Chirurgie Dr. S. vom 15. März 2011 ein, wonach die Klägerin 1998 und 2007
wegen Beschwerden im linken Fuß behandelt worden sei. Dabei seien statische Beschwerden festgestellt worden. 2007 habe sie
von Schmerzen im rechten Daumen berichtet und sich 2009 mit einer digitalen Tenosynovitis mit beginnendem Schnappen des vierten
Fingers rechts vorgestellt. Anschließend sei sie konservativ mit Erfolg behandelt worden. Da das Schnappen am vierten Finger
rechts später abermals aufgetreten sei, sei die Klägerin zur Operation in das Städtische Klinikum D. eingewiesen worden. 2010
hätten erneut Zeichen der digitalen Tenosynovitis bestanden. Außerdem hätten sämtliche Gelenke der Langfinger Aufreibungen
aufgewiesen, was den Verdacht auf eine Arthrose bzw. Rheuma nahe gelegt habe. Im März 2011 sei die Operation der linken Hand
vorgesehen. Die beginnende Tendovaginitis stenosans de Quervain werde konservativ behandelt. Einen weiteren Befundbericht
holte der Beklagte von der Fachärztin für Innere Medizin Dipl.-Med. H. vom März 2011 (ohne Datum) ein, worin die Diagnose
einer arteriellen Hypertonie mitgeteilt wurde. Die Klägerin sei kardial kompensiert, die Herzaktion sei rhythmisch; der Blutdruckwert
wurde mit RR 125/90 angegeben. Die Herzhöhlen seien normal, die Ventrikelkinetik gut. Es bestehe keine Hypertrophie, die leichte Mitralinsuffizienz
sei ohne klinische Bedeutung. In der Ergometrie sei eine Belastung bis 100 W über 3 min beschwerdefrei toleriert worden. An
Medikamenten werde Bisoprolol 5 verordnet. Das Herzleistungsstadium wurde mit NYHA I bis II angegeben. Der vom Beklagten erneut
beteiligte ärztliche Dienst (Fachärztin für Neurologie/Sozialmedizin P.) kam in der Stellungnahme vom 17. Mai 2011 zu dem
Ergebnis, die Funktionsbeeinträchtigungen "Verlust der Brust mit anschließendem Wiederaufbau, Funktionsbehinderung der Hände
bei Polyarthrose und rezidivierenden Sehnenscheidenentzündungen, Bluthochdruck" bedingten jeweils und insgesamt einen GdB
von 10. Wirbelsäulenbeschwerden lägen nicht vor bzw. bedingten keinen GdB. Zur Begründung gab die Ärztin an, es seien von
den Ärzten keine Schmerzen oder Funktionseinschränkungen im linken Schultergelenk bzw. ein Lymphödem nach Brustentfernung
oder ein reduzierter Allgemein- und Kräftezustand bestätigt worden. Ein Bluthochdruck könne als Behinderung aufgenommen werden,
er sei jedoch medikamentös kompensiert und ohne dokumentierte Folgeschäden. Eine Herzleistungsminderung liege nicht vor, auch
würden relevante Kreislaufdysregulationen nicht beschrieben. Eine GdB-relevante Funktionsbehinderung der Wirbelsäule sei nicht
dokumentiert.
Mit Aufhebungsbescheid vom 19. Mai 2011 hob der Beklagte den Bescheid vom 25. Januar 2006 mit Wirkung vom 1. Juni 2011 auf.
Zur Begründung gab er an, nach § 48 SGB X sei eine Neufeststellung mit Wirkung für die Zukunft vorzunehmen, wenn in den gesundheitlichen Verhältnissen, die der letzten
Feststellung zu Grunde gelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Wesentlich sei eine Änderung, wenn ein bereits
festgestellter GdB sich um wenigstens 10 nach oben oder unten ändere oder wenn die Voraussetzungen für die Feststellung von
weiteren Merkzeichen nachträglich einträten oder wegfielen. Die gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin hätten sich seit
der letzten Entscheidung insoweit geändert, als für die festgestellte Behinderung "Verlust der linken Brust" die Zeit der
Heilungsbewährung abgelaufen sei. Dieser Bewertung liege eine versorgungsärztliche Stellungnahme zu Grunde, die sich auf ärztliche
Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin stütze. Der Vergleich der beigezogenen Befundberichte mit denen der letzten
Feststellung des GdB zu Grunde liegenden Befundunterlagen habe ergeben, dass die genannte Gesundheitsstörung infolge rezidivfreien
Verlaufs als überwunden gelte. Damit entfielen außer der unmittelbaren Lebensbedrohung auch die vielfältigen Auswirkungen
der Krankheit auf die gesamte Lebensführung. Nach der Versorgungsmedizin-Verordnung sei nach der Behandlung bestimmter Krankheiten, die zu Rezidiven neigen, eine Heilungsbewährung abzuwarten. Insbesondere
gelte dies für ausgewählte bösartige Geschwulstkrankheiten. Die Dauer der Heilungsbewährung betrage je nach dem Ausmaß der
dem Krankheitsbild eigenen Rezidivgefahr bis zu fünf Jahre. Nach Ablauf der Heilungsbewährung erfolge unter Beiziehung und
Auswertung aktueller Befunde der behandelnden Ärzte stets eine versorgungsärztliche Beurteilung. Im Ergebnis dieser Beurteilung
seien allein die Funktionseinschränkungen und Organveränderungen als Behinderungen zu berücksichtigen, die tatsächlich noch
vorliegen. Allgemeine Leistungsminderung und die Angst vor einem erneuten Tumor bedingten nach der maßgeblichen Versorgungsmedizin-Verordnung keinen messbaren GdB und könnten daher auch nicht als Behinderung im Sinne des
SGB IX festgestellt werden. Die verbliebenen Gesundheitsstörungen "Verlust der Brust mit anschließendem Wiederaufbau, Funktionsbehinderung
der Hände bei Polyarthrose und rezidivierenden Sehnenscheidenentzündungen, Bluthochdruck" bedingten keinen GdB von wenigstens
20 und stellten somit keine Behinderungen mehr dar. Die daneben bestehenden Gesundheitsstörungen "Wirbelsäulenbeschwerden,
Herzleistungsminderung, Kreislaufdysregulationen" erreichten jeweils keinen Einzel-GdB und seien für die Bildung des Gesamt-GdB
ohne Bedeutung. Die aufgrund der Einwände der Klägerin beigezogenen aktuellen Befundberichte seien versorgungsmedizinisch
ausgewertet worden. Dies habe jedoch zu keinem günstigeren Ergebnis geführt. Eine Schwerbehinderung (GdB von wenigstens 50)
könne damit gegenwärtig nicht mehr festgestellt werden. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 9. Juni 2011 Widerspruch
ein, den sie nicht näher begründete und den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 2011 als unbegründet zurückwies.
Mit der am 5. Juli 2011 beim Sozialgericht (SG) Dessau-Roßlau erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und beantragt, es müsse zumindest ein GdB von
30 festgestellt werden, da sie nicht nur an den Folgen des Mammakarzinoms und des Verlustes der linken Brust leide, sondern
auch an Bluthochdruck, Schmerzen im linken Arm, einer Funktionsbehinderung der Hände bei Polyarthrose und rezidivierenden
Sehnenscheidenentzündungen, muskulärer Dysbalance und einem lumbalen Schmerzsyndrom. Hierzu verweise sie auf vorliegende ärztliche
Befundunterlagen. Ferner bestehe auch eine beginnende Tendovaginitis stenosans de Quervain, die Dr. S. festgestellt habe.
Die entzündlichen Veränderungen im Bereich der Sehnenscheidenringbänder am Handgelenk seien mit einer schmerzhaften Hemmung
der Gleitfähigkeit der Sehnen verbunden. Im Ergebnis müsse wegen des Verlustes mit Aufbauplastik zur Wiederherstellung der
Brust ein GdB von 30 festgestellt werden, für die entzündlich-rheumatischen Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule
mit geringen Auswirkungen ein GdB von 20 bis 40 und für den Bluthochdruck in einer mittelschweren Form mit zunehmender Leistungsbeeinträchtigung
ein GdB von 20 bis 40. Insgesamt sei daher die Feststellung eines GdB von mindestens 30 gerechtfertigt.
Das SG hat medizinische Ermittlungen durchgeführt und zunächst einen Befundbericht von Dr. S. vom 9. September 2011 eingeholt, die
im Wesentlichen die bereits dem Beklagten im Verwaltungsverfahren mitgeteilten Befunde und Diagnosen bestätigt hat. Zusammenfassend
hat sie angegeben, bei der Klägerin bestehe in beiden Händen eine Neigung zur digitalen Tenosynovitis, die rechts und links
bereits operiert worden sei. Dem Befundbericht haben Unterlagen der Fachärztin für Orthopädie Dr. K. vom 3. Februar 2011 und
dem Städtischen Klinikum D. vom 22. März 2011 vorgelegen. Dr. K. hat dem Facharzt f. Allgemeinmedizin H. mitgeteilt, die Klägerin
habe über Schmerzen in den Fingern, nach Stehen und im Rücken geklagt. Sie müsse den ganzen Tag stehen und mache Fitness.
An Befunden hat die Ärztin u. a. mitgeteilt, dass die Schultern, der Überkopf-, Nacken- und Schürzengriff beidseits frei möglich
seien. Die Wirbelsäule zeige keine wesentliche skoliotische Fehlhaltung. Die Hüftgelenke seien beidseits frei beweglich. Das
Gangbild der Klägerin sei unauffällig, raumgreifend und mit seitengleicher Schrittlänge. Als Diagnosen benannte die Ärztin:
Tendovaginitis de Quervain links, schnappender Daumen links, Arthrose der Langfinger. Das Städtische Klinikum D. hat mit Bericht
vom 22. März 2011 an Dr. S. über einen am selben Tag bei der Klägerin durchgeführten ambulanten Eingriff berichtet, bei dem
zur Therapie der digitalen Tenosynovitis an der linken Hand eine Ringbandspaltung an Daumen und drittem Finger vorgenommen
worden sei. Der postoperative Verlauf sei ohne Komplikationen gewesen; aktive und passive Bewegungsübungen seien frei möglich.
Sodann hat das SG einen Befundbericht von Dipl.-Med. H. vom 11. September 2011 eingeholt, die über den Behandlungszeitraum vom 12. Februar
2008 bis 13. Januar 2010 berichtet hat, der Bluthochdruck sei unter medikamentöser Einstellung zufriedenstellend. Einen weiteren
Befundbericht hat das SG vom Facharzt f. Allgemeinmedizin H. vom 10. September 2011 nebst zahlreichen weiteren medizinischen Unterlagen eingeholt.
Hiernach leide die Klägerin unter zunehmendem Kreuz- und Gelenkschmerzen sowie Bluthochdruck. Sodann hat Dr. K. auf Anforderung
des SG den Befundbericht vom 15. September 2011 erstattet, worin im Wesentlichen die Befunde im Bericht vom 3. Februar 2011 an den
Allgemeinmediziner H. aufgeführt sind. Über eine Untersuchung vom 26. Juli 2011 hat die Ärztin berichtet, bei der Lendenwirbelsäule
bestehe eine leicht vermehrte Lendenlordosierung ohne wesentliche skoliotische Fehlhaltung. Die paravertebrale Muskulatur
sei mäßig verspannt. Sensibilität, Motorik und Reflexstatus seien intakt. Ferner bestehe eine ausgeprägte Schwäche der Bauchmuskulatur.
Sie habe der Klägerin Wirbelsäulengymnastik und Rückenschule empfohlen sowie Übungsblätter mitgegeben. Bei Fortbestehen der
Beschwerden sei ggf. an eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme zu denken. Schließlich hat das SG einen Befundbericht von der Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. F. vom 20. September 2011 eingeholt, die
über einen Behandlungszeitraum vom 25. November 2005 bis 14. März 2011 berichtet hat. Danach sei bei der Klägerin infolge
der Brustoperation eine Leistungseinschränkung eingetreten, die infolge der anstrengenden Berufstätigkeit bei der Post seit
Januar 2010 zugenommen habe. Den beigefügten medizinischen Unterlagen sind stationäre Rehabilitationsbehandlungen der Klägerin
in der Reha-Klinik B., B. S.-S., vom 22. Februar 2006 bis 22. März 2006, 2. bis 23. Mai 2007 und 21. April bis 12. Mai 2008
zu entnehmen. Im Entlassungsbericht vom 14. Mai 2008 über die dritte Behandlung sind u. a. die Diagnosen "HWS-Syndrom mit
Schulter-Nacken-Verspannungen, Mamma-Ca. li., Z. n. Ablatio mammae links u. ax. LNE, Psychophysische Erschöpfung" genannt.
Intensive krankengymnastische Behandlung habe zu einer guten muskulären Stabilisierung der Halswirbelsäule mit Rückgang der
muskulären Dysbalance geführt. Psychisch habe die Patientin einen erholten und zufriedenen Eindruck vermittelt. Bei der Abschlussuntersuchung
habe der Blutdruckwert 141/81 mmHg betragen. Die Patientin habe die onkologische Erkrankung psychisch adäquat verarbeitet;
an weiteren relevanten Erkrankungen und Funktionsstörungen bestünde ein HWS-Syndrom mit Schulter-/Nacken Verspannungen. Hierdurch
sei die Leistungsfähigkeit bezogen auf die zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit sozialmedizinisch nicht relevant eingeschränkt.
Allerdings sollten bei einem Zustand nach Brustoperation mit Axilladissektion übermäßige Belastungen des betreffenden Schulter-/Armbereiches
vermieden werden. Insbesondere sollte kein mehr als gelegentliches Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 10 kg ohne technische
Hilfsmittel erfolgen sowie kein anhaltendes oder gehäuftes Überkopfarbeiten.
Der Beklagte hat nach Auswertung der vom SG eingeholten medizinischen Unterlagen die Abweisung der Klage beantragt und vorgetragen, die Funktionseinschränkungen der
Hände ohne rheumatische Erkrankung seien mit einem GdB von 10, das Herz-Leiden und die Funktionseinschränkung der Wirbelsäule
ebenfalls jeweils mit einem GdB von 10 zu bewerten, so dass sich insgesamt unter Berücksichtigung eines GdB von 10 für den
Verlust der linken Brust nach Ablauf der Heilungsbewährung kein festzustellender GdB von mindestens 20 ergebe.
Mit Gerichtsbescheid vom 10. Januar 2012 hat das SG die Klage abgewiesen und in den Entscheidungsgründen im Wesentlichen ausgeführt, nach Ablauf der vorgesehenen Zeit der Heilungsbewährung
sei der Grad der Behinderung nur noch nach der tatsächlich bestehenden funktionellen Beeinträchtigung zu beurteilen. Für den
Verlust der linken Brust mit Brustrekonstruktion links könne nach den Vorgaben der Versorgungsmedizin-Verordnung nur noch ein Einzel-GdB von 10 festgestellt werden, da Einschränkungen in der Beweglichkeit der Schulter von den behandelnden
Ärzten nicht mitgeteilt worden seien. Die Funktionseinschränkungen der Hände seien vom Beklagten zutreffend mit einem Einzel-GdB
von 10 bewertet worden, ebenso die Beschwerden an der Wirbelsäule und das Herzleiden. In der Gesamtschau seien die vorliegenden
Behinderungen ab dem Zeitpunkt der Herabstufung des 1. Juni 2011 mit einem Gesamt-GdB von unter 20 zu bewerten.
Den ihr am 12. Januar 2012 zugestellten Gerichtsbescheid greift die Klägerin mit der am 3. Februar 2012 beim Landessozialgericht
Sachsen-Anhalt erhobenen Berufung an. Sie macht weiterhin geltend, aus medizinischen Gründen einen Anspruch auf Feststellung
eines GdB von wenigstens 30 zu haben. Das SG habe die Einstufungskriterien der Versorgungsmedizin-Verordnung nicht hinreichend berücksichtigt. Denn dort sei ausgeführt, dass bei einem Verlust der Brust Funktionseinschränkungen im
Schultergürtel, des Armes oder der Wirbelsäule ggf. zusätzlich zu berücksichtigen seien. Für derartige Beschwerden sprächen
ihre Schmerzzustände, die sich auch aus den in erster Instanz eingeholten medizinischen Befundberichten entnehmen ließen.
Unzutreffend sei auch die Bewertung der Funktionseinschränkungen der Hände und der Wirbelsäule mit einem jeweiligen Einzel-GdB
von 10. Sie sei wegen der anhaltenden Schmerzsymptomatik nachweislich in wiederkehrender fachärztlicher Behandlung. Inzwischen
sei davon auszugehen, dass sich die Beschwerdesymptomatik so weit verselbstständigt habe, dass sie zu einem eigenständigen
Krankheitsbild geführt habe. Der Gesamt-GdB sei hinsichtlich der Wirbelsäulenbeschwerden, der Schmerzzustände im Nacken, Schulter
und in den Handbereichen insgesamt höher als mit 10 vom 100 zu bewerten und müsse bei mindestens 20 liegen. Die weiteren "kleineren"
Zustände wie Bluthochdruck- und Herzleiden müssten im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zumindest dann zusätzlich berücksichtigt
werden, wenn, dies sei hier der Fall, sich die Auswirkungen nicht überschnitten und verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen
Lebens beträfen. Gänzlich außer Betracht geblieben sei eine erhebliche Leistungsminderung im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit,
die vornehmlich auf das Herz-Kreislauf-Leiden zurückzuführen sei. Diese Leistungsminderung im Beruf und im privaten Bereich
habe zu einer Zunahme seelischer Beeinträchtigungen geführt und damit zur Verfestigung der genannten Beschwerdebilder beigetragen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 10. Januar 2012 und den Bescheid des Beklagten vom 19. Mai 2011
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2011 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung und seine Bescheide für zutreffend, da in der Gesamtschau aller vorliegenden medizinischen
Unterlagen derzeit kein Gesamt-GdB von 30 zu begründen sei.
Das Gericht hat von Dr. F. einen Befundbericht vom 31. August 2012 u. a. zu den Fragen eingeholt, welche Beschwerden die Klägerin
im Zusammenhang mit der Aufbauplastik und der Mamillenrekonstruktion im Zeitraum von 2007 bis 30. Juni 2011 angegeben hat
und welche Funktionseinschränkungen im Schultergürtel, Arm oder Wirbelsäule infolge der Brustoperation verblieben seien. Hierzu
hat die Ärztin angegeben, dass die Klägerin über ein Taubheitsgefühl im Narbenbereich geklagt habe. Es bestünden Beschwerden
im Schultergürtel und in den Gelenken bei osteopathischen Beschwerden. Die Minderung der Kraft im linken Arm sei besonders
hervorgerufen durch die körperliche Belastung im Beruf. Die Beschwerden hätten trotz regelmäßiger sportlicher Betätigung der
Klägerin nicht gemindert werden können.
Der Beklagte hat nach Beteiligung seines ärztlichen Dienstes zu diesem Befundbericht die Ansicht vertreten, darin würden keine
verwertbaren Befunde mitgeteilt. Funktionsminderungen der Gelenke und Kraftminderungen könnten nur anhand orthopädischer/chirurgischer
Diagnosen und aussagefähiger konkreter Befunde mit Bewegungsmaßen, Kraftgraden usw. beurteilt werden. Aus den zahlreichen
diesbezüglich vorliegenden Befunden gingen keine Funktionseinschränkungen hervor.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten und die Gerichtsakte
beider Rechtszüge verwiesen. Diese Akten haben in der mündlichen Verhandlung und anschließenden Beratung vorgelegen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgemäß eingelegte und gemäß §
143 SGG auch statthafte Berufung ist unbegründet. Der Beklagte hat zu Recht den Bescheid vom 25. Januar 2006 aufgehoben und festgestellt,
dass die verbliebenen Gesundheitsstörungen keinen GdB von wenigstens 20 bedingen und somit keine Behinderung mehr darstellen.
Die angefochtenen Bescheide und der Gerichtsbescheid des SG Dessau-Roßlau vom 10. Januar 2012 sind rechtmäßig und verletzen
die Klägerin nicht in ihren Rechten (§
54 Abs.
2 SGG).
Gegenstand des Rechtsstreits ist eine isolierte Anfechtungsklage gemäß §
54 Abs.
1 SGG gegen einen belastenden Verwaltungsakt. Dabei ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen
Bescheide der Erlass des Widerspruchsbescheids am 27 Juni 2011 und damit die Sach- und Rechtslage zu diesem Zeitpunkt (vgl.
BSG, Urteil vom 18. September 2003, B 9 SB 6/02 R -, juris).
Die angefochtenen Bescheide sind formell rechtmäßig. Insbesondere ist die nach § 24 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) erforderliche Anhörung zu einer beabsichtigten Aufhebung des Grads der Behinderung von 50 mit Wirkung für die Zukunft mit
Schreiben vom 14. Februar 2011 erfolgt.
Seine materielle Ermächtigungsgrundlage finden die von der Klägerin angefochtenen Bescheide in § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen,
die bei seinem Anlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Als wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes
gilt, wobei dies sowohl hinsichtlich der Besserung als auch Verschlechterung anzunehmen ist, jedenfalls eine Veränderung,
die es erforderlich macht, den Gesamtgrad der Behinderung um mindestens 10 anzuheben oder abzusenken.
Auf der Grundlage von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X hat der Beklagte wirksam den Bescheid vom 25. Januar 2006 aufgehoben und für die Funktionsstörungen der Klägerin keinen Behinderungsgrad
von mindestens 20 mehr festgestellt. In der Zeit zwischen Erlass dieses Bescheids und dem Widerspruchbescheid am 27. Juni
2011 ist eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen durch den Ablauf einer Heilungsbewährung eingetreten,
die nicht mehr den mit Bescheid vom 25. Januar 2006 festgestellten GdB von 50, sondern ab 1. Juni 2011 keinen Grad der Behinderung
von mindestens 20 rechtfertigt. Die Behandlungen aufgrund der Brustkrebserkrankung waren zum Zeitpunkt des Aufhebungsbescheides
bereits über fünf Jahre abgeschlossen und ein Rezidiv ist nach dem Bericht der Dr. F. unter Hinweis auf Labor-, Sonographie-
und Mammographiebefunde nicht wieder aufgetreten. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit. Dieser Ablauf
der Heilungsbewährung stellt eine tatsächliche Veränderung im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X dar. Die Zeitdauer der Heilungsbewährung bei malignen Erkrankungen basiert auf Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft
über die Gefahr des Auftretens einer Rezidiverkrankung in den ersten fünf Jahren nach der Erstbehandlung sowie der regelmäßig
vorhandenen subjektiven Befürchtung vor einem Rezidiv. Die Heilungsbewährung erfasst darüber hinaus auch die vielfältigen
Auswirkungen, die mit der Feststellung, der Beseitigung und der Nachbehandlung eines Tumors in allen Lebensbereichen verbunden
sind. Dies rechtfertigt es nach der sozialmedizinischen Erfahrung, bei Krebserkrankungen zunächst nicht nur den Organverlust
zu bewerten. Vielmehr ist hier zunächst für einen gewissen Zeitraum unterschiedslos der Schwerbehindertenstatus zu gewähren.
Die pauschale, umfassende Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen der Erkrankung kann jedoch nicht auf Dauer
Bestand haben. Da nach der medizinischen Erfahrung nach rückfallfreiem Ablauf von fünf Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit
die Krebserkrankung überwunden ist und außerdem neben der unmittelbaren Lebensbedrohung auch die vielfältigen Auswirkungen
der Krankheit auf die gesamte Lebensführung entfallen sind, ist der GdB dann nur noch anhand der noch verbliebenen Funktionseinschränkungen
zu bewerten (BSG, Urteil vom 9. August 1995, 9 RVs 14/94, juris).
Für die Feststellung des GdB anhand der noch verbliebenen Funktionseinschränkungen zum Zeitpunkt der letzen Behördenentscheidung
(Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 2011) ist das Neunte Buch des Sozialgesetzbuchs (
SGB IX) maßgebend. Nach §
69 Abs.
1 Satz 1
SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Diese Regelung
knüpft materiellrechtlich an den in §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX und bestimmten Begriff der Behinderung an. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit
oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand
abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe
am Leben der Gesellschaft (bzw. Funktionsbeeinträchtigungen) vorliegen, wird nach §
69 Abs.
3 Satz 1
SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehung
festgestellt.
Nach §
69 Abs.
1 Satz 5
SGB IX gelten die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Nach § 30 Abs. 1 BVG richtet sich die Beurteilung des Schweregrades - dort des "Grades der Schädigungsfolgen" (GdS) - nach den allgemeinen Auswirkungen
der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Die hierfür maßgebenden Grundsätze sind in der am 1. Januar 2009
in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) aufgestellt worden, zu deren Erlass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch § 30 Ab. 16 BVG ermächtigt ist.
Nach § 2 VersMedV sind die auch für die Beurteilung des Schweregrades nach § 30 Abs. 1 BVG maßgebenden Grundsätze in der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (Anlageband zu BGBl. I Nr. 57 vom 15. Dezember
2008, G 5702) als deren Bestandteil festgelegt und damit nunmehr der Beurteilung der erheblichen medizinischen Sachverhalte
mit der rechtlichen Verbindlichkeit einer Rechtsverordnung zugrunde zu legen.
Der hier streitigen Bemessung des GdB ist die GdS-Tabelle der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zugrunde zu legen. Nach
den allgemeinen Hinweisen zu der GdS-Tabelle sind die dort genannten GdS-Sätze Anhaltswerte (Teil B 1a). In jedem Einzelfall
sind alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel
innerhalb der in Teil A Nr. 2 e genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf;
Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sektion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf)
zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Teil B, Nr. 1
a).
Nach diesem Maßstab kann für die Funktionseinschränkungen der Klägerin kein GdB von mindestens 20 festgestellt werden. Die
bei ihr nach Ablauf der Heilungsbewährung von fünf Jahren im Jahre 2011 vorliegenden Funktionseinschränkungen rechtfertigen
nach den eingeholten Befundberichte nebst Anlagen unter Berücksichtigung der versorgungsärztlichen Stellungnahmen keinen höheren
GdB als jeweils 10.
a)
Die Gesundheitsstörungen infolge der Brustoperation sind dem Funktionssystem Geschlechtsapparat zuzuordnen und rechtfertigen
einen GdB von 10.
Für den einseitigen Verlust der Brust der Klägerin mit anschließendem Wiederaufbau ist nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen
(Teil B Nr. 14.1) ein Bewertungsrahmen von 10 bis 30 eröffnet. Dieser Rahmen ist hier aber nicht auszuschöpfen, weil keiner
der in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen beispielhaft genannten Fälle (Kapselfibrose, Dislokation der Prothese, Symmetrie
[bzw. Asymmetrie]) gegeben ist. Funktionseinschränkungen im Schultergürtel, des Arms oder der Wirbelsäule als Operations-
oder Bestrahlungsfolgen (z.B. Lymphödem, Muskeldefekte, Nervenläsionen, Fehlhaltungen) sind zwar ggf. zusätzlich zu berücksichtigen.
Dieser Zusatz durchbricht aber nicht den Grundsatz, dass alle dauerhaften Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrem Entstehungsgrund
zu erfassen und in ihren Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen sind
(dazu BSG, Urteil vom 11. Dezember 2008, B 9/9a SB 4/07 R, juris). Denn eine Erhöhung des Behinderungsgrads wegen eines durch ein Primärleiden
hervorgerufenen Leidens an einem anderen Organ oder Organsystem, ohne dass dieses nennenswerte Auswirkungen auf die Teilhabe
am Leben in der Gesellschaft hat, war und ist dem Behinderungsbegriff in §
2 Abs.
1 SGB IX sowie dem Begriff des Behinderungsgrads nach §
69 Abs.
1 SGB IX fremd (BSG, aaO.). Hat das Sekundärleiden indes entsprechende Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit des betroffenen Menschen, so ist
kein Grund ersichtlich, es bei der Bewertung des Behinderungsgrads anders zu behandeln als eine von dem Primärleiden unabhängig
entstandene weitere Gesundheitsstörung (BSG, aaO.). Eine andere Bewertung würde dem im Schwerbehindertenrecht geltenden Finalitätsprinzip (BSG, aaO.) widersprechen. Folglich sind die von der Klägerin als Folge der Brustkrebsbehandlung eingetretenen weiteren Gesundheitsstörungen
(Einschränkungen im Schulter-Arm-Bereich, Kraftminderung) auch als Operations- oder Bestrahlungsfolgen im jeweiligen Funktionssystem
zu bewerten.
b)
Die von der Klägerin geltend gemachten Schmerzen mit Bewegungseinschränkungen im Bereich der rechten Arms und des Schultergelenks,
verbunden mit einer Kraftminderung, sind dem Funktionssystem Arme zuzuordnen. Allerdings ist den Befundunterlagen nicht zu
entnehmen, dass es sich dabei um erhebliche Funktionsstörungen handelt. Die Klägerin leidet nach ihren Angaben unter Schmerzen
im linken Arm, die es ihr erschweren, bei der Tätigkeit als Mitarbeiterin der Postbank schwere Pakete entgegenzunehmen und
deswegen auf die Unterstützung von Kollegen angewiesen zu sein. Allerdings handelt es sich hierbei um Beschwerden, die in
ihrem Ausmaß von den behandelnden Ärzten nicht nach der Neutral-Null-Methode dokumentiert worden sind. Dr. K. hat am 14. März
2011 insoweit lediglich mitgeteilt, dass die Schultern beidseits in allen Ebenen frei beweglich und die Schultergürtelmuskulatur
unauffällig sei. Überkopf-, Nacken - und Schürzengriff seien beidseits frei möglich gewesen. Diese Angaben hat die Ärztin
im Bericht vom 15. September 2011 gegenüber dem SG wiederholt und auch über die Untersuchung am 26. Juli 2011 keine Angaben gemacht, woraus eine erhebliche Funktionseinschränkung
der Schultern bzw. der linken Schulter und des linken Armes abgeleitet werden könnten. Auch die im Berufungsverfahren in diesem
Zusammenhang nochmals befragte Frauenärztin Dr. F. hat am 31. August 2012 lediglich über Beschwerden im Schultergürtel und
in den Gelenken berichtet, ohne dazu genaue Angaben zu machen. Da nach den Berichten von Dr. K. insoweit keine erheblichen
Funktionseinschränkungen vorhanden sind, kann nur von geringen Beeinträchtigungen ausgegangen werden, die allenfalls einen
Einzelbehinderungsgrad von 10 nach Abschnitt B Nr. 18.13 (S. 110) nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen rechtfertigen.
Die Funktionsbehinderung der Hände mit Polyarthrose und rezidivierenden Sehnenscheidentzündungen, die ebenfalls dem Funktionssysteme
zuzuordnen ist, führt wegen der geringen Auswirkungen nach erfolgreicher Operation am 22. März 2011 zu keiner anderen Bewertung.
Insbesondere liegen keine Bewegungseinschränkungen der Handgelenke, Versteifungen von Fingern oder Nervenausfälle vor (Versorgungsmedizinische
Grundsätze, aaO., S. 111 ff.), sodass insgesamt für dieses Funktionssystem ein GdB von 10 anzunehmen ist.
c)
Der Bluthochdruck ist dem Funktionssystem Herz und Kreislauf (Versorgungsmedizinische Grundsätze Abschnitt B Nr. 9, S. 63
ff.) zuzuordnen. Er bedingt, da es sich unter medikamentöser Behandlung nur um eine leichte Form ohne oder mit nur geringen
Leistungsbeeinträchtigungen handelt, einen GdB von 10. Eine Einschränkung der Herzleistung ist angesichts der Befundberichte
von Dipl.-Med. H. vom März 2011 und vom 11. September 2011 nicht anzunehmen, da die Ergometerbelastung der Klägerin mit 100
W bis 3 min keine Einschränkung der Sollleistung ergeben hat.
d)
Das schließlich noch bestehende HWS-Syndrom mit Schulter-Nacken-Verspannungen ist dem Funktionssystem Rumpf zuzuordnen und
als Wirbelsäulenschaden ohne Bewegungseinschränkung mit geringen funktionellen Auswirkungen mit einem GdB von 10 zu bewerten
(Versorgungsmedizinische Grundsätze, Abschnitt B Nr. 18.9 S. 107).
e)
Weitere Gesundheitsstörungen, die einem anderen Funktionssystem zuzuordnen sind und zumindest einen Einzelbehinderungsgrad
von 10 zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids gerechtfertigt haben, sind nicht erkennbar. Dass diese Einschätzung richtig
und die vorgenannten Einzelbewertungen von nur 10 im jeweiligen Funktionssystem schlüssig sind, wird bestätigt durch den Entlassungsbericht
vom 14. Mai 2008 der Reha-Klinik B., B. S.-S., wonach krankengymnastische Behandlung zu einer guten muskulären Stabilisierung
der HWS mit Rückgang der muskulären Dysbalance geführt haben und die Leistungsfähigkeit bezogen auf die zuletzt ausgeübte
berufliche Tätigkeit sozialmedizinisch nicht relevant eingeschränkt ist.
f)
Die leichtgradigen Einzelbehinderungen aus verschiedenen Funktionssystemen mit Einzelgraden der Behinderung von jeweils 10
rechtfertigen keinen Behinderungsgrad von 20 oder mehr. Denn leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdS bzw. GdB von
10 bedingen, führen nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte
Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen (Versorgungsmedizinische Grundsätze, Abschnitt A 4 Nr. 3 Buchst. ee, S. 23).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 SGG liegen nicht vor.