Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zur Sicherung des Lebensunterhalts
Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche
Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutz dem Grunde nach über die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Die am. 1984 geborene alleinerziehende Antragstellerin zu 1. und ihr am. 2011 geborener Sohn, der Antragsteller zu 2., sind
polnische Staatsangehörige. Sie reisten am 4. Mai 2014 nach Deutschland ein. Am 9. Mai 2014 nahm die Klägerin eine Tätigkeit
als Haushaltshilfe bei Frau Dr. J E (im Weiteren: Frau E.) auf und wurde zum Haushaltsscheckverfahren angemeldet. Sie übte
diese Tätigkeit zunächst in einem Umfang von ca. 8 Stunden in der Woche aus und erhielt dafür zunächst 200,00 EUR, dann ab
Oktober oder November 2014 300,00 EUR pro Monat. Die Tätigkeit bei Frau E. wurde ausweislich eines seitens der Antragstellerin
vorgelegten Haushaltsschecks zunächst zum 28. Februar 2015 beendet und zum 1. Oktober 2015 wieder aufgenommen, wobei eine
wöchentliche Arbeitszeit von 3 Stunden bei einem monatlichen Entgelt von 120,00 EUR vereinbart wurde. Für den Zeitraum seit
1. November 2015 liegt ein Haushaltsscheck über ein Arbeitsentgelt von 200,00 EUR/Monat vor.
Bereits am 20. Oktober 2014 hatten die Antragsteller erstmals Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende beantragt,
die ihnen mit Bescheid vom 21. November 2014 zunächst für den Zeitraum Oktober 2014 bis März 2015 und später mit Folgebescheid
vom 2. März 2015 auch für den Zeitraum April bis September 2015 bewilligt worden waren. Seit Mai 2015 nahm und nimmt sie vormittags
an einem Integrationskurs teil; zur Teilnahme hatte sie sich dem Antragsgegner gegenüber zuletzt in der Eingliederungsvereinbarung
vom 2. April 2015 verpflichtet.
Den erneuten Folgeantrag vom 8. September 2015 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 10. September 2015 ab. Die Antragstellerin
zu 1. könne ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein auf die Arbeitsuche stützen und sei daher von Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen.
Gegen diesen Bescheid haben die Antragsteller am 23. September 2015 Widerspruch eingelegt und am 28. September 2015 beim Sozialgericht
Kiel um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
Das Sozialgericht hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 9. Oktober 2015 antragsgemäß dazu verpflichtet, den Antragstellern
für den Zeitraum 1. Oktober 2015 bis 30. November 2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in gesetzlicher Höhe
zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass neben dem Anordnungsgrund auch der Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht
sei. Die Antragsteller erfüllten die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) greife nicht, da die Antragstellerin zu 1. Arbeitnehmerin sei. Die Tätigkeit bei Frau E. seit tatsächlich und echt und stelle
sich auch nicht als völlig untergeordnet dar. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass der reduzierte Tätigkeitsumfang der
Teilnahme am Integrationskurs geschuldet sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 12. Oktober 2015 erhobene Beschwerde des Antragsgegners. Er geht davon aus, dass
die Antragstellerin zu 1. ihr Aufenthaltsrecht allein auf den Zweck der Arbeitsuche stützen könne und deshalb keinen Leistungsanspruch
habe. Durch die Beschäftigung bei Frau F. habe ein Arbeitnehmerstatus bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht aufrechterhalten werden
können, weil die Tätigkeit lediglich knapp 10 Monate angedauert habe. Die nunmehr seit Oktober 2015 erneut ausgeübte Tätigkeit
stelle sich ihres geringen Umfangs wegen als völlig untergeordnet und unwesentlich dar. Die jüngste Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs (EuGH) verbiete es, äußere Umstände wie insbesondere die Integration oder freundschaftliche Bindungen zu berücksichtigen.
Deshalb könne auch der unzureichende Umfang der Tätigkeit nicht durch die Teilnahme am Integrationskurs gerechtfertigt werden.
Er beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 9. Oktober 2015 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
abzulehnen.
Die Antragsteller beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie halten die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Zu Recht habe das Sozialgericht insbesondere berücksichtigt,
dass die Antragstellerin zu 1. sowohl wegen des durch den Antragsgegner veranlassten Integrationskurses als auch wegen der
Kinderbetreuung aktuell verhindert sei, in größerem Umfang zu arbeiten. Perspektivisch sei aber eine Ausdehnung der Erwerbstätigkeit
zu erwarten.
Der Berichterstatter hat die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten am 27. Oktober 2015 erörtert und die Antragstellerin
zu 1. sowie Frau E. angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift nebst Anlage (Bl. 115 d. A.) Bezug
genommen.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Sie ist form- und fristgerecht erhoben worden (§
173 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und auch im Übrigen zulässig. Namentlich ist sie nicht nach §
172 Abs.
3 Nr.
1 SGG ausgeschlossen. Ausgehend von der letzten Bewilligungsentscheidung für den Monat September 2015 mit Bescheid vom 17. März
2015 ist von einem monatlich ungedeckten Bedarf der Antragsteller von insgesamt 976,64 EUR auszugehen. Der Wert des Beschwerdegegenstands
beträgt für den Antragsgegner danach 1.953,28 EUR (ggf. bereinigt um insgesamt 100,00 EUR zu berücksichtigendes Einkommen)
und überschreitet die Wertgrenze des §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG von 750,00 EUR, so dass in der Hauptsache die Berufung der Zulassung nicht bedürfte.
Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht den Antragsgegner
dazu verpflichtet, den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in gesetzlicher Höhe zu gewähren, wobei
die einzelnen Berechnungsfaktoren (Bedarfe bzw. zu berücksichtigendes Einkommen oder Vermögen) geklärt sind und auch zwischen
den Beteiligten selbst außer Streit stehen. Der Senat sieht deshalb im Wesentlichen von der weiteren Darstellung der Gründe
ab und weist die Beschwerde aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück (§
142 Abs.
2 Satz 3
SGG).
Auch der Senat geht nach den weiteren Ermittlungen im Beschwerdeverfahren davon aus, dass die Antragstellerin zu 1. im streitbefangenen
Zeitraum seit 1. Oktober 2015 Arbeitnehmerin ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU [FreizügG/EU]) und sich ihr Aufenthaltsrecht
damit nicht allein aus einer möglichen Arbeitsuche herleitet (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU), so dass der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht zum Tragen kommt. Folglich steht auch dem Antragsteller zu 2. als nicht erwerbsfähigem Angehörigen einer erwerbsfähigen
Leistungsberechtigten dem Grunde nach ein Leistungsanspruch zu (§ 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II).
Zutreffend weist der Antragsgegner zwar darauf hin, dass eine frühere Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin zu 1. nicht
mehr in den hier streitigen Zeitraum hinein erhalten geblieben ist (vgl. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU), nachdem sie ihre Tätigkeit bei Frau E. zunächst zum 28. Februar 2015 beendet hatte. Denn ungeachtet weiterer Fragen (Unfreiwilligkeit
der Tätigkeitsaufgabe und der Bestätigung durch die zuständige Agentur für Arbeit) dauerte jene Tätigkeit seit Mai 2014 noch
nicht ein Jahr an (vgl. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU) und der Sechsmonatszeitraum des § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU war bereits zum 31. August 2015 abgelaufen.
Der Senat sieht jedoch in der von der Antragstellerin zu 1. zum 1. Oktober 2015 wieder aufgenommenen Tätigkeit bei Frau E.
eine Tätigkeit, die erneut die maßgebliche Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Freizügigkeitsrechts begründet.
Der Arbeitnehmerbegriff des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist weder im engeren nationalrechtlichen Sinne arbeitsrechtlich, noch gar sozialrechtlich und damit auch nicht grundsicherungsrechtlich
zu verstehen; er ist vielmehr ausschließlich im Lichte des Unionsrechts (vgl. bereits EuGH, Urteil vom 19. März 1964 - Rs.
75/63 - Unger), hier speziell im Sinne des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts auszulegen (vgl. zur abweichenden Arbeitnehmerdefinition
i.S. der koordinationsrechtlichen VO [EG] Nr. 883/2004 Langer, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl. 2013, Art. 45 AEUV Rn. 3). Dabei ist der Arbeitnehmerbegriff nicht in der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) definiert, zu deren Umsetzung das FreizügG/EU ergangen ist. Eine Begriffsdefinition ergibt sich auch nicht aus dem europäischen Primärrecht in Gestalt der EU-vertraglichen
Freizügigkeitsgewährleistung (Art. 39 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union [AEUV]) und der Verordnung
über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (VO [EWG] Nr. 1612/68 vom 15. Oktober 1968), die als Verordnung
über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (VO [EU] Nr. 492/2011 vom 5. April 2011) neu kodifiziert worden
ist. Aus den Erwägungsgründen der VO [EWG] Nr. 11612/68 ergibt sich aber immerhin, dass das Freizügigkeitsrecht "gleichermaßen
Dauerarbeitnehmern, Saisonarbeitern, Grenzarbeitnehmern oder Arbeitnehmern zu[steht], die ihre Tätigkeit im Zusammenhang mit
einer Dienstleistung ausüben." Daraus und aus dem primären Zweck des Freizügigkeitsrechts, einen diskriminierungsfreien Zugang
zum Arbeitsmarkt des aufnehmenden Mitgliedsstaats zu gewähren, folgt notwendigerweise ein weiter Arbeitnehmerbegriff, der
lediglich auf ein Mindestmaß an Teilnahme am Wirtschaftsleben des aufnehmenden Mitgliedsstaats zielt (vgl. Steinmeyer, in:
Fuchs, a.a.O., Art 7 VO Nr. 492/2011 Rn. 14 m.w.N.). Dabei ist ohne Relevanz, inwieweit das mit der ausgeübten Tätigkeit erzielte
Entgelt geeignet ist, das vom jeweiligen Mitgliedsstaat definierte Existenzminimum zu decken. Die Arbeitnehmereigenschaft
begründen vielmehr auch nicht existenzsichernde Teilzeittätigkeiten, sofern es sich dabei um tatsächliche und echte Tätigkeiten
handelt, wobei - gemessen wiederum am Willen der freizügigkeitsberechtigten Personen, im Wirtschaftsleben tätig zu sein -
nur solche Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet
und unwesentlich darstellen (EuGH, Urteil vom 23. März 1982 - Rs. 53/81 - Levin, Rn. 17). Zur Prüfung dieser Voraussetzungen
hat sich das Tatsachengericht auf objektive Kriterien zu stützen und dabei eine Gesamtbetrachtung aller Umstände der Rechtssache
vorzunehmen, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeit und die des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen, wobei (lediglich)
Umstände, die sich auf das Verhalten des Betreffenden vor und nach der Beschäftigungszeit beziehen, für die Begründung der
Arbeitnehmereigenschaft ohne Bedeutung sein sollen (EuGH, Urteil vom 6. November 2003 - Rs. C-413/01 - Ninni-Orasche, Rn. 27 f.).
An diesen Maßstäben gemessen ist die Antragstellerin zu 1. in ihrer seit 1. Oktober 2015 erneut bei Frau E. ausgeübten Tätigkeit
als Arbeitnehmerin zu qualifizieren. Sie erbringt nach Weisungen der Frau E. für diese Leistungen (vorliegend Haushaltshilfe),
für die sie eine Vergütung erhält und erfüllt damit die Wesensmerkmale eines Arbeitsverhältnisses im Sinne des Unionsrechts
(vgl. EuGH, Urteil vom 21. Juni 1988 - Rs. 197/86 - Lawrie-Blum, Rn. 17). Diese Tätigkeit ist - davon geht der Senat nach
Anhörung der Antragstellerin zu 1. und der Arbeitgeberin und nach Vorlage der Haushaltsschecks aus - dergestalt tatsächlich
und echt, dass sie wirklich ausgeübt wird und eine Vereinbarung über zu erbringende Arbeitsleistungen nicht etwa lediglich
zum Schein geschlossen worden wäre. Darüber herrscht zwischen den Beteiligten letztlich auch kein Streit. Unerheblich ist
es nach der o.g. Rechtsprechung ferner, ob die Antragstellerin zu 1. die Tätigkeit aus der Motivation heraus erneut aufgenommen
hat, den für sie sozialleistungsrechtlich günstigen Arbeitnehmerstatus wiederzuerlangen. Der Senat brauchte dem daher auch
nicht weiter nachzugehen.
Die danach einzig relevante und zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob die tatsächliche und echte Tätigkeit ihrem
Umfang nach als völlig untergeordnet und unwesentlich zu qualifizieren ist, ist angesichts der dargelegten europarechtlichen
Maßstäbe auch nach Ansicht des Senats zu verneinen. Sinn und Zweck der freizügigkeitsrechtlichen Bestimmungen gebieten es,
auch die Tätigkeit der Antragstellerin zu 1. als Haushaltshilfe, die ohne Weiteres einen Bezug zum Wirtschaftsleben aufweist
und für die es in der Bundesrepublik Deutschland einen relevanten Arbeitsmarkt gibt, als echtes Arbeitsverhältnis im Sinne
des Freizügigkeitsrechts zu qualifizieren. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Hilfstätigkeiten im Haushalt, wie sie von
der Antragstellerin zu 1. ausgeübt werden, typischerweise in Teilzeit ausgeübt werden, wobei der jeweilige Umfang nicht selten
deutlich unterhalbschichtig ist. Im besonderen Fall ist - entgegen der Auffassung des Antragsgegners - zudem zu berücksichtigen,
dass die Antragstellerin zu 1. durch die erforderliche Betreuung des Antragstellers zu 2. und die verpflichtende Teilnahme
am Integrationskurs objektiv gehindert ist, einer Erwerbstätigkeit in (erheblich) größerem zeitlichem Umfang nachzugehen,
als die zurzeit ausgeübten 20 Stunden im Monat. Die vom EuGH für die Beurteilung der Wesentlichkeit verlangte Gesamtbetrachtung
schließt die Berücksichtigung solchermaßen konkurrierender Verpflichtungen jedenfalls nicht aus. Vielmehr dürfte es nach Ansicht
des Senats bei zweckentsprechender Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften durchaus naheliegen, zur Beurteilung der völligen
Unwesentlichkeit einer Tätigkeit die Arbeitszeit der betreffenden Person in Beziehung zu setzen zu der für sie disponiblen,
frei verfügbaren Zeit. Ist eine Person durch äußere Umstände oder aufgrund vorrangiger Verpflichtungen - nicht aber aufgrund
autonomer Entscheidungen zugunsten anderer als wirtschaftlicher Aktivitäten - derart gebunden, dass sie nur mit einem Teil
ihres quantitativen Leistungsvermögens am Wirtschaftsleben teilnehmen kann und realisiert sie diesen Teil überwiegend, kann
im Wortsinne kaum mehr von einer völlig untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeit gesprochen werden. Anderenfalls würde
gerade sozial schutzbedürftigen Personengruppen wie Schwangeren, Alleinerziehenden oder behinderten Menschen die Teilhabe
an der unionsvertraglich gewährleisteten Freizügigkeit in unverhältnismäßiger Weise erschwert.
Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend §
193 Abs.
1 Satz 1
SGG. Sie orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).