Vergütung von Rechtsanwälten im sozialgerichtlichen Verfahren; Statthaftigkeit der Beschwerde
Gründe:
I. Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der Rechtsanwaltsgebühren für ein Beschwerdeverfahren vor dem Thüringer Landessozialgericht
(Az.: L 8 SO 220/09 ER) streitig.
Am 12. Januar 2009 beantragten die von dem Beschwerdeführer vertretenen Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Gotha, den Landkreis W. Land im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Kosten für Leistungen zur Sicherung
zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren. Mit Beschluss vom 18. Februar 2009 lehnte das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Auf die Beschwerde änderte der der 8. Senat des Thüringer Landessozialgerichts
ihn mit Beschluss vom 23. Juni 2009 ab und stellte fest, dass die Widersprüche der Antragstellerin zu 1. gegen die Bescheide
der Antragsgegnerin aufschiebende Wirkung haben; im Übrigen wurde die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trage
ein Fünftel der außergerichtlichen Kosten der Antragsteller. Ihnen werde ab 24. März 2009 Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren
unter Beiordnung des Beschwerdegegners gewährt.
In seiner Kostenrechnung vom 26. Juni 2009 beantragte der Beschwerdegegner für das Beschwerdeverfahren die Festsetzung von
909,16 Euro:
Verfahrensgebühr Nr. 3204 VV-RVG
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465,00 Euro
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Nr. 1008 VV-RVG für zwei zusätzliche Auftraggeber
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279,00 Euro
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Post- und Telekommunikation Nr. 7002 VV-RVG
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20,00 Euro
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764,00 Euro
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MWSt
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145,16 Euro
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Gesamtsumme
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909,16 Euro
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Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 10. Mai 2011 setze der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle (UKB) folgende Gebühren fest:
Verfahrensgebühr Nr. 3204 VV-RVG
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310,00 Euro
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Nr. 1008 VV-RVG für zwei zusätzliche Auftraggeber
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186,00 Euro
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Post- und Telekommunikation Nr. 7002 VV-RVG
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20,00 Euro
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MWSt
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98,04 Euro
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Gesamtsumme
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614,04 Euro.
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Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit rechtfertigten nur durchschnittliche Gebühren. Die überdurchschnittliche
Bedeutung werde durch unterdurchschnittliche Vermögens- und Einkommensverhältnisse kompensiert.
Unter dem 8. August 2011 hat der Beschwerdeführer Erinnerung eingelegt und beantragt, die Vergütung auf 190,40 Euro festzusetzen:
Verfahrensgebühr Nr. 3501 VV-RVG
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87,50 Euro
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Erhöhung für zwei weitere Auftraggeber
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52,50 Euro
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Pauschale Nr. 7002 VV-RVG
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20,00 Euro
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Zwischensumme
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160,00 Euro
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MWSt
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30,40 Euro
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Gesamtsumme
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190,40 Euro
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Der Beschwerdegegner hat vorgetragen die Erinnerung sei verfristet; im Übrigen sei nicht nachvollziehbar, warum für das Beschwerdeverfahren
Nr. 3501 VV-RVG einschlägig sei.
Mit Beschluss vom 1. März 2012 hat das SG die Erinnerung zurückgewiesen und ausgeführt, Nr. 3501 VV.RVG komme nur in Betracht, wenn das "Grundverfahren" ein Erinnerungsverfahren sei; hier liege der Festsetzung ein Verfahren nach
dem SGB XII zu Grunde.
Gegen den am 19. März 2012 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer 27. März 2012 Beschwerde eingelegt und zur Begründung
auf seinen Antrag im Erinnerungsverfahren verwiesen.
Der Beschwerdeführer beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 1. März 2012 aufzuheben und die aus der Staatskasse zu zahlende Vergütung auf 190,40
Euro festzusetzen.
Der Beschwerdegegner hat keinen Antrag gestellt und sich innerhalb der gesetzten Frist zur Sache nicht geäußert.
beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen (Verfügung vom 12. Juli 2012) und sie dem Thüringer Landessozialgericht
vorgelegt.
II. Die Beschwerde gegen die Festsetzung der Rechtsanwaltsgebühren ist - entgegen der fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung
im Beschluss der Vorinstanz - nach §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 S. 1 RVG statthaft (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. u.a. Beschlüsse vom 15. März 2011 - Az.: L 6 SF 975/10 B, 25 Oktober 2010 - Az.: L 6 SF 652/10 B, 26. Januar 2009 - Az.: L 6 B 256/08 SF; 16. Januar 2009 - Az.: L 6 B 255/08 SF, 26. November 2008 - Az.: L 6 B 130/08 SF) und zulässig. Der Beschwerdewert von 200,00 Euro (§§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 S. 1) wird überschritten.
Die Beschwerde ist begründet.
Vorab weist der Senat darauf hin, dass die Erinnerung mangels gesetzlicher Frist nicht verfristet war.
Nach § 3 Abs. 1 S. 1 RVG entstehen in Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, in denen das Gerichtskostengesetz (GKG) nicht anzuwenden ist, Betragsrahmengebühren, die dem im Wege der Prozesskostenhilfe (PKH) beigeordneten Rechtsanwalt aus
der Landeskasse zu erstatten sind (§ 45 Abs. 1 RVG). Die Antragsteller, denen hier PKH gewährt wurde, waren kostenprivilegierte Beteiligte i.S.d. §
183 S. 1 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG); die Anwendung des GKG scheidet aus (§
197a Abs.
1 S. 1
SGG). Die Höhe der Vergütung errechnet sich nach dem Vergütungsverzeichnis (VV) der Anlage 1 zum RVG. Die Höhe der Rahmengebühr bestimmt nach § 14 Abs. 1 RVG der Rechtsanwalt im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen
Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem
Ermessen (Satz 1); bei Rahmengebühren ist das Haftungsrisiko zu berücksichtigen (Satz 3). Ist die Gebühr von einem Dritten
zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (Satz 4), wobei ihm
nach allgemeiner Meinung ein Spielraum (sogenannte Toleranzgrenze) von 20 v.H. zusteht (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2009 - Az.: B 4 AS 21/09 R m.w.N., nach juris; ständige Senatsrechtsprechung, vgl. u.a. Beschlüsse vom 17. Dezember 2010 - Az.: L 6 SF 808/10 B, 26. November 2008 - Az.: L 6 B 130/08 SF, 19. Juni 2007 - Az.: L 6 B 80/07 SF, 14. März 2001 - Az.: L 6 B 3/01 SF; Mayer in Gerold/Schmidt, RVG, 19. Auflage 2010, § 14 Rdnr. 12). Unbilligkeit liegt vor, wenn der Rechtsanwalt die Kriterien des § 14 Abs. 1 S. 1 RVG unter Beachtung des Beurteilungsspielraums objektiv nicht hinreichend beachtet (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. März 2012 -
Az.: L 6 SF 86/12 B und 17. Dezember 2010 - Az.: L 6 SF 808/10 B; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 12. September 2006 - Az.: L 1 B 320/05 SF SK, nach juris); dann erfolgt eine Festsetzung nur in Höhe der angemessenen Gebühren.
Einschlägige Verfahrensgebühr für ein Beschwerdeverfahren im einstweiligen Rechtsschutz vor dem Landessozialgericht ist nicht
die beantragte Nr. 3204 VV-RVG sondern Nr. 3501 VV-RVG (vgl. Senatsbeschlüsse vom 3. April 2012 - Az.: L 6 SF 229/12 B; 29. März 2012 - Az.: L 6 SF 1983/11 B; 14. März 2012 - Az.: L 6 SF 86/12 B, 29. Juni 2011 - Az.: L 6 SF 247/11 B, 15. März 2011 - Az.: L 6 SF 975/10 B; ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 3. August 2011 - Az.: L 7 AS 681/11 B und 5. Mai 2008 - Az.: L 20 B 139/07 SO; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. April 2011 - Az.: L 2 SF 205/10 E, nach juris; Müller-Rabe in Gerold-Schmidt, RVG, 19. Auflage 2010, VV RVG Rdnr. 6). In seinem Beschluss vom 15. März 2011 - Az.: L 6 SF 975/10 B hat der Senat wie folgt ausgeführt:
"Zwar handelt es sich bei der Nr. 3501 VV RVG wie bei Nr. 3500 VV RVG um eine Auffangvorschrift (vgl. Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, 19. Auflage 2010, VV RVG 3500 Rdnr. 4). Eine speziellere Regelung enthält das Gesetz jedoch nicht (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5.
Mai 2008 - Az.: L 20 B 139/07 SO; SG Berlin, Beschluss vom 6. Dezember 2010 - Az.: S 180 SF 1755/09 E; SG Aachen, Beschluss vom 9. April 2008 - Az.: S
11 AS 154/06 ER; alle nach juris). Die allein in Betracht kommende "bestimmte Beschwerde" in Abschnitt 2 ("Berufung, Revision, bestimmte
Beschwerden und Verfahren vor dem Finanzgericht") wird in der Vorbemerkung 3.2.1 erläutert. Verfahren vor den Sozialgerichten
werden dort nicht genannt. Die von dem Beschwerdeführer geforderte analoge Anwendung der Nr. 3204 VV RVG kommt nicht in Betracht. Es fehlt schon an der notwendigen planwidrigen Regelungslücke. Ob sie vorhanden ist, ist vom Standpunkt
des Gesetzes und der ihm zugrundeliegenden Regelungsabsicht zu beurteilen (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 13. November 2001 - Az.:
X ZR 134/00, nach juris). Dass Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht ausdrücklich geregelt sind, begründet allein nicht die
Lücke, denn mit der Nr. 3501 VV RVG existiert grundsätzlich eine Regelung zur Festsetzung dieser Gebühren (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. Mai
2008, aaO.), wenn auch nicht in der vom Beschwerdeführer gewünschten Höhe. Es gibt überdies keinen Anhalt dafür, dass der
Gesetzgeber beabsichtigte, die Gebühren in Beschwerdeverfahren denen im "normalen" Berufungsverfahren gleichzustellen. Nach
der Gesetzesbegründung zu Nr. 3500 VV RVG soll die Verfahrensgebühr in Beschwerdeverfahren vielmehr das 0,5-fache betragen (BT-Drucks. 15/1971 S. 218)."
An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Der Ansicht der Vorinstanz, Nr. 3501 VV-RVG komme nur in Betracht, wenn es sich bei dem Hauptverfahren (nicht "Grundverfahren") um ein Erinnerungsverfahren gehandelt
habe, wird nicht gefolgt; ihr stehen der Wortlaut der Nr. 3501 VV-RVG (" über die Beschwerde und die Erinnerung") und die Überschrift des 5. Abschnitts ("Beschwerde, Nichtzulassungsbeschwerde
und Erinnerung") entgegen.
Gegen die von dem Beschwerdeführer zuerkannte Verfahrensgebühr in Höhe der Mittelgebühr (87,50 Euro) bestehen im Ergebnis
keine Bedenken. Zu Recht hat bereits der UKB (zu Nr. 3204 VV-RVG) angenommen, dass der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit mit sechs (teilweise sehr kurzen) Schriftsätzen an das Gericht im
Ergebnis einem durchschnittlichem Umfang eines Verfahrens (auch einer Beschwerde) entspricht. Die Schwierigkeit der anwaltlichen
Tätigkeit ist allenfalls dem Durchschnittsbereich zuzuordnen. Die überdurchschnittliche Bedeutung der Angelegenheit wird durch
die niedrigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Antragsteller kompensiert. Ansatzpunkte für ein besonderes Haftungsrisiko
sind nicht erkennbar. Die Gebühr ist nach Nr. 1008 VV RVG für zwei weitere Personen (Auftraggebermehrheit) um 60 v.H. zu erhöhen.
Keine Bedenken bestehen gegen die Pauschale für Post- und Telekommunikation. Zusätzlich zu erstatten ist die MWSt.
Die Beschwerde ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 S 2 und 3 RVG).
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt (§§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 4 S. 3 RVG).