Vergütung von Sachverständigen im sozialgerichtlichen Verfahren; Zeitansatz für die gedankliche Erarbeitung einer Beurteilung
Gründe:
I. In dem Berufungsverfahren M. T .../. Unfallkasse des Bundes (Az.: L 1 U 156/11) beauftragte die Berichterstatterin des 1. Senats des Thüringer Landessozialgerichts mit Beweisanordnung vom 12. Oktober
2011 den Erinnerungsführer, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, mit der Erstellung eines Gutachtens
nach §
106 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG). Übersandt wurden ihm die Gerichtsakte (42 Blatt), Verwaltungsakte (127 Blatt) und weitere medizinische Unterlagen (34 Blatt).
Auf Ersuchen des Erinnerungsführers zog der 1. Senat zusätzlich einen Befundbericht der behandelnden Psychotherapeutin vom
25. November 2011 mit weiteren medizinischen Unterlagen bei. Unter dem 20. Dezember 2011 fertigte der Erinnerungsführer sein
Gutachten aufgrund einer ambulanten Untersuchung am 5. Dezember 2011 auf insgesamt 59 Blatt. In seiner Kostenrechnung vom
gleichen Tag machte er insgesamt 2.327,65 Euro geltend (26 Stunden Zeitaufwand x 85,00 Euro, Schreibauslagen 110,20 Euro,
Porto 7,45 Euro). Bezüglich der Einzelheiten wird auf Blatt 3 des Kostenhefts verwiesen. Mit Verfügung vom 5. Januar 2012
kürzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle (UKB) die Vergütung auf 1.775,15 Euro. Sie berücksichtigte bei ihrer Berechnung
einen notwendigen Zeitaufwand von 19,4 Stunden, aufgerundet 19,5 Stunden (Aktenstudium 2,8 Stunden, Vorgeschichte/Untersuchungen
8 Stunden, Beurteilung 2,6 Stunden (8 Blatt), Diktat und Korrektur 6 Stunden) und einen Stundensatz von 85,00 Euro (M3).
Am 13. Januar 2012 hat sich der Erinnerungsführer gegen die Festsetzung gewandt und vorgetragen, er akzeptiere zwar die Kürzung
des Zeitansatzes für das Aktenstudium auf 2,8 Stunden, nicht jedoch für die Beurteilung auf 2,6 Stunden. Sie sei nicht nur
in der Zusammenfassung und Beurteilung enthalten sondern auch in weiteren Teilen des Gutachtens.
Der Erinnerungsführer beantragt sinngemäß,
die Vergütung für das Gutachten vom 5. Dezember 2011 auf 2.072,65 Euro festzusetzen.
Der Erinnerungsgegner hat keinen Antrag gestellt und sich nicht zur Sache geäußert.
Die UKB hat der Beschwerde nicht abgeholfen (Verfügung vom 16. Januar 2012) und sie dem erkennenden Senat vorgelegt. Der Senatsvorsitzende
hat das Verfahren am 23. März 2012 dem Senat nach § 4 Abs. 7 S. 2 des Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetzes (JVEG)
wegen grundsätzlicher Bedeutung übertragen.
II. Nach § 4 Abs. 1 S. 1 JVEG erfolgt die Festsetzung der Vergütung durch gerichtlichen Beschluss, wenn der Berechtigte oder
die Staatskasse die gerichtliche Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen erachtet. Zuständig ist das Gericht,
von dem der Berechtigte herangezogen worden ist (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG). Der Erinnerungsführer ist Berechtigter im Sinne
dieser Vorschrift.
Bei der Erinnerung sind alle für die Bemessung der Vergütung maßgeblichen Umstände zu überprüfen, unabhängig davon, ob sie
angegriffen werden (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. u.a. Beschlüsse vom 1. Dezember 2011 - Az.: L 6 SF 1617/11 E, 8. September 2009 - Az.: L 6 SF 49/08, 4. April 2005 - Az.: L 6 SF 83/05 in MedSach 2005, 137 ff., Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (VGH), Beschluss vom 10. Oktober 2005 - Az.: 1 B 97.1352, nach juris). Es kommt nicht darauf an, dass sich der Erinnerungsführer
nur gegen die Kürzung seines Zeitansatzes für die Beurteilung wendet. Bei der Festsetzung ist der Senat weder an die Höhe
der Einzelansätze noch an den Stundenansatz oder die Gesamthöhe der Vergütung in der Festsetzung durch die UKB oder den Antrag
der Beteiligten gebunden; er kann aber nicht mehr festsetzen als beantragt. Die Erinnerung ist kein Rechtsbehelf; insofern
gilt das Verschlechterungsverbot (sog. "reformatio in peius") bei der erstmaligen richterlichen Festsetzung nicht (vgl. Senatsbeschlüsse
vom 8. September 2009 - Az.: L 6 SF 49/08, 13. April 2005 - Az.: L 6 SF 2/05, 16. September 2002 - Az.: L 6 B 51/01 SF; Meyer/Höver/Bach, Die Vergütung und Entschädigung von Sachverständigen, Zeugen, Dritten und von ehrenamtlichen Richtern
nach dem JVEG, 25. Auflage 2011, § 4 Rdnr. 4.3; Hartmann in Kostengesetze, 40. Auflage 2010, § 4 JVEG Rdnr. 10).
Nach § 8 Abs. 1 JVEG erhalten Sachverständige als Vergütung 1. ein Honorar für ihre Leistungen (§§ 9 bis 11 JVEG), 2. Fahrtkostenersatz
(§ 5 JVEG), 3. Entschädigung für Aufwand (§ 6 JVEG) sowie 4. Ersatz für sonstige und besondere Aufwendungen (§§ 7 und 12 JVEG).
Soweit das Honorar nach Stundensätzen zu bemessen ist, wird es nach § 8 Abs. 2 JVEG für jede Stunde der erforderlichen Zeit
einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten gewährt (Satz 1); die letzte bereits begonnene Stunde wird voll gerechnet,
wenn mehr als 30 Minuten für die Erbringung der Leistung erforderlich war (Satz 2 Halbs. 1).
Das Honorar eines Sachverständigen errechnet sich entsprechend den §§ 9 Abs. 1 S. 1, 8 Abs. 2 JVEG nach der erforderlichen
Zeit. Sie ist nach einem abstrakten Maßstab zu ermitteln, der sich an dem erforderlichen Zeitaufwand eines Sachverständigen
mit durchschnittlicher Befähigung und Erfahrung bei sachgemäßer Auftragserledigung mit durchschnittlicher Arbeitsintensität
orientiert (vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2007 - Az.: 1 BvR 55/07; BGH; Beschluss vom 16. Dezember 2003 - Az.: X ZR 206/98, beide nach juris; Senatsbeschlüsse vom 5. März 2012 - Az.: L 6 SF 1854/11 B und 21. Dezember 2006 - Az.: L 6 B 22/06 SF in MedSach 2007, 180 f.; Hartmann in Kostengesetze, 40. Auflage 2010, § 8 JVEG Rdnr. 35). Zu berücksichtigen sind dabei
die Schwierigkeiten der zu beantworteten Fragen unter Berücksichtigung der Sachkunde auf dem betreffenden Gebiet, der Umfang
des Gutachtens und die Bedeutung der Streitsache (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2003 - Az.: X ZR 206/98; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Auflage 2007, Rdnr. 841). Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die
Angaben des Sachverständigen über die tatsächlich benötigte Zeit richtig sind (h.M., vgl. u.a. Senatsbeschluss vom 21. Dezember
2006, - Az.: L 6 B 22/06 SF in MedSach 2007, 180 f.; Thüringer OVG, Beschluss vom 3. Juli 2006 - Az.: 4 VO 487/05, nach juris; Hessisches LSG, Beschluss
vom 11. April 2005 - Az.: L 2/9 SF 82/04, nach juris; LSG Baden-Württemberg vom 22. September 2004 - Az.: L 12 RJ 3686/04 KO-A, nach juris). Werden die üblichen Erfahrungswerte allerdings um mehr als 15 v.H. überschritten (vgl. u.a. Senatsbeschluss
vom 21. Dezember 2006 - Az.: L 6 B 22/06 SF in MedSach 2007, 180 f.), ist eine Plausibilitätsprüfung anhand der Kostenrechnung und der Angaben des Sachverständigen
durchzuführen.
Die Aufteilung der Sachverständigenleistung erfolgt entsprechend dem Thüringer "Merkblatt über die Entschädigung von medizinischen
Sachverständigen" grundsätzlich in fünf Bereichen: a) Aktenstudium und vorbereitende Arbeiten, b) Erhebung der Vorgeschichte,
c) notwendige Untersuchungen, d) Abfassung der Beurteilung, e) Diktat sowie Durchsicht des Gutachtens.
Für das Gutachten vom 20. Dezember 2011 war angesichts der übersandten Unterlagen und unter Berücksichtigung der üblichen
Erfahrungswerte ein Zeitaufwand von (mindestens) 23 Stunden - wie zuletzt beantragt - erforderlich.
Nicht zu beanstanden ist der Ansatz für das Aktenstudium von 2,8 Stunden. Der Senat unterstellt in ständiger Rechtsprechung,
dass ein Sachverständiger für das Aktenstudium und vorbereitende Maßnahmen einschließlich der Fertigung von Notizen und Exzerpten
einen Zeitaufwand von etwa einer Stunde für etwa 80 Blatt mit ca. 1/4 medizinischem Inhalt benötigt (vgl. u. a. Beschlüsse
vom 19. Dezember 2007 - Az.: L 6 B 172/07 SF und 11. Februar 2003 - Az.: L 6 B 6/03 SF). Nachdem der Erinnerungsführer den (gekürzten) Ansatz akzeptiert hat, erübrigen sich weitere Ausführungen. Keine Bedenken
hat der Senat gegen die von der UKB akzeptierten Ansätze für Vorgeschichte, Untersuchung und Diktat.
Für die Abfassung der Beurteilung können angesichts der Schreibweise die zuletzt begehrten 6 Stunden voll berücksichtigt werden.
Die Beurteilung umfasst die Beantwortung der vom Gericht gestellten Beweisfragen und die nähere Begründung, also den Teil
des Gutachtens, den das Gericht bei seiner Entscheidung verwerten kann, um ohne medizinischen Sachverstand seine Entscheidung
begründen zu können, also die eigentlichen Ergebnisse des Gutachtens einschließlich ihrer argumentativen Begründung. In Abänderung
seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. u.a. Beschlüsse vom 1. Dezember 2011 - Az.: L 6 SF 1617/11 E und 3. August 2009 - Az.: L 6 SF 44/08) geht der Senat davon aus, dass ein medizinischer Sachverständiger mit durchschnittlicher Befähigung und Erfahrung für die
gedankliche Erarbeitung durchschnittlich eine Stunde für ca. 1 ½ Blatt benötigt. Dies entspricht im Vergleich zu der Rechtsprechung
der anderen Landessozialgerichte einem durchschnittlichen Ansatz (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 30. November 2011 -
L 15 SF 97/11, nach juris: 1 Seite/h, LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. November 2011 - Az.: L 5 P 55/10, nach juris: 1 Seite/h; LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 23. September 2011 - Az.: L 2 SF 254/11, nach juris: 2 Seiten/h; Widder/Gaidzig, Leistungsgerechte Vergütung nach dem Justizvergütungs- und entschädigungsgesetz?
in MedSach 2005, S. 127, 131). Zu berücksichtigen ist die Schreibweise; eine Einschränkung auf bestimmte "Normseiten", die
manche Landessozialgerichte vornehmen (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 11. April 2005 - Az.: L 2/9 SF 82/04, nach juris:
1.800 Anschläge; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 5. April 2005 - Az.: L 12 SB 795/05 KO-A, nach juris: 2.700 Anschläge), kommt allerdings mangels gesetzlicher Grundlage nicht in Betracht (vgl. Senatsbeschluss
vom 21. Dezember 2006 - Az.: L 6 B 22/06 SF). Die Beurteilung kann sich durchaus an mehreren Stellen eines Gutachtens - ohne Reduzierung unter bestimmte Unterschriften
(z.B. Zusammenfassung, Beurteilung etc.) - befinden. Grundsätzlich nicht zu berücksichtigen sind dabei u.a. die Diagnosen,
Diagnosekriterien nach ICD-10 (ohne Diskussion), Zitate aus der Literatur, Bilder und Graphiken sowie Sachverhalts- oder Beurteilungswiederholungen.
Der Senat weist darauf hin, dass der von ihm angenommene Wert nur ein Anhaltspunkte für die angemessene Stundenzahl sein kann
(vgl. Senatsbeschlüsse vom 15. März 2012 - Az.: L 6 SF 224/12 B und 13. März 2012 - Az.: L 6 SF 197/12 B; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. November 2011 - Az.: L 5 P 55/10, nach juris), um den Kostenbeamten im Normalfall eine sinnvolle Bearbeitung zu ermöglichen. Maßgebend ist im Zweifelsfall
der im Einzelfall erkennbare Arbeitsaufwand des Sachverständigen, der im Gutachten zum Ausdruck kommt. Insofern ist in begründeten
Sonderfällen durchaus eine Abweichung (positiv wie negativ) bei dem o.g. Ansatz erforderlich. Andernfalls würden medizinische
Sachverständige mit umständlichen Ausführungen gegenüber solchen bevorzugt, die knapp und prägnant ihre Ergebnisse begründen.
Angesichts der Tatsache, dass sich die Beurteilung im Gutachten ab Blatt 39 findet, anschließend allerdings Kürzungen wegen
der Beschreibungen der Diagnosekriterien nach ICD-10 erforderlich sind, hat der Senat keine Bedenken gegen die Zuerkennung
der im Schriftsatz vom 11. Januar 2012 beantragten 6 Stunden.
Die Schreibauslagen werden nach § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 JVEG ersetzt. Sie und die Portokosten sind nicht streitig.
Keine Bedenken bestehen gegen die Vergütung - wie beantragt - in der Honorargruppe M3 (§ 9 Abs. 1 JVEG).
Damit errechnet sich die Vergütung des Erinnerungsführers wie folgt:
23 Stunden x 85,00 Euro (Honorargruppe M3)
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1.955,00 Euro
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Schreibauslagen
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110,20 Euro
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Porto
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7,45 Euro
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Gesamtbetrag
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2.072,65 Euro
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Das Verfahren ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 4 Abs. 8 JVEG).
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt (§ 4 Abs. 4 S. 3 JVEG).