Sozialhilferecht: Hörgerät als Maßnahme der Eingliederungshilfe für Behinderte
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Kostenübernahme für
ein beidseitiges Hörgerät aus Sozialhilfemitteln. Er ist 1970 geboren, ägyptischer Staatsangehöriger, lebt seit November 1992
als Asylbewerber in Hamburg und erhält laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Sein Asylverfahren ist nicht abgeschlossen. Am
30. November 1992 wurde ihm von dem Arzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde Dr. nach tonaudiometrischer Untersuchung eine
beiderseitige Taubheit bescheinigt. Am 10. März 1993 befürwortete das Landessozialamt einen Kurs für Gebärdensprache, da der
Antragsteller taubstumm sei. Der Landesarzt für Hörbehinderte teilte dem Sozialamt am 26. Januar 1994 mit, daß eine Hörgeräteversorgung
des Antragstellers rechts angezeigt sei, und bat um Bestätigung der Kostenübernahme. Weiter heißt es in dem Schreiben: Ob
die beidseitige Versorgung sinnvoll sei, müsse ausprobiert werden. Der Antragsteller habe bereits seit seiner Kindheit ein
Hörgerät getragen, seit drei Jahren trage er keines mehr. Nach Einholung einer Stellungnahme der Fachbehörde lehnte das Sozialamt
den Antrag auf Bewilligung der Kosten für ein Hörgerät mit Bescheid vom 18. Juli 1994 ab. Der Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid
vom 5. Mai 1995 zurückgewiesen: Die beantragte Leistung sei eine Maßnahme der Eingliederungshilfe für Behinderte gemäß §§
39, 40 BSHG. Einen Anspruch darauf habe der Antragsteller als Asylbewerber gemäß §§ 120 Abs. 1 BSHG,
2 Abs.
1 Nr.
1 Asylbewerberleistungsgesetz aber nicht. Bei der Ermessensentscheidung gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 BSHG sei zu berücksichtigen, daß das derzeitige Aufenthaltsrecht des Antragstellers ein vorübergehendes für die Durchführung des
Asylverfahrens sei und ein dauerndes Aufenthaltsrecht und eine Integration im Bundesgebiet derzeit nicht in Rede stünden.
Mit der Klage (5 VG 2629/95) hat der Antragsteller ausgeführt, daß die Ablehnung eines Hörgerätes mit Art.
1 Abs.
1 Satz 1 und
2 GG sowie dem Sozialstaatsgedanken des Art.
20 Abs.
1 GG nicht vereinbar sei. Es widerspreche der Menschenwürde, ihn jahrelang gehörlos im Bundesgebiet leben zu lassen. Er werde
voraussichtlich noch Jahre hier leben.
Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes macht der Antragsteller darüber hinaus geltend, daß er nach der Verordnung des
Facharztes (H.N.O.) Dr. F von Ende Mai 1995 beidseitig ein Hörgerät benötige. Er habe in Ägypten seit Jahren ein Hörgerät
getragen, das nun defekt sei. Aus eigenen Mitteln könne er sich keines beschaffen. Die Verwaltungspraxis der Antragsgegnerin,
Asylbewerbern Eingliederungshilfeleistungen nur dann zu gewähren, wenn der Aufenthalt im Bundesgebiet länger als fünf Jahre
währe und zur Zeit der Entscheidung ein Aufenthaltsrecht für mindestens ein Jahr bestehe, sei willkürlich und führe zum Ausschluß
der Asylbewerber von diesen Leistungen, da ihnen eine Aufenthaltsgestattung jeweils nur für maximal sechs Monate erteilt werde.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag und die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe abgelehnt, da die Gewährung von Mitteln zur
Beschaffung von Hörgeräten als spezielle Hilfe der Eingliederung gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 BSHG im Ermessen der Antragsgegnerin stehe. Dieses Ermessen habe die Antragsgegnerin fehlerfrei ausgeübt.
Mit der Beschwerde führt der Antragsteller aus, Hörgeräte zählten zu den Leistungen der Krankenhilfe gemäß § 37 BSHG und damit zum Minimum der Leistungen, die zur Aufrechterhaltung der Menschenwürde erforderlich seien. Insoweit zwischen Deutschen
und Ausländern zu differenzieren, sei nicht zulässig.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
a) Es bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung, ob die begehrte einstweilige Anordnung nicht schon daran scheitert,
daß die Notwendigkeit einer Eilentscheidung hinsichtlich des geltend gemachten Bedarfs nicht hinreichend glaubhaft gemacht
ist: Zum einen ist nämlich der Antragsteller auch nach eigenem Bekunden bisher zumindest drei Jahre ohne Hörgerät ausgekommen.
Zum anderen scheint es nicht unzweifelhaft, ob ein Hörgerät die Behinderung des Antragstellers überhaupt zu lindern geeignet
ist, denn zumindest bis März 1993 galt der Antragsteller nach den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen als taubstumm. Ob
eine Besserung der Hörfähigkeit eingetreten ist oder ob lediglich der unveränderte medizinische Befund zu einer anderen medizinischen
Interpretation geführt hat, kann im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht festgestellt werden.
Die dringende Notwendigkeit der beidseitigen Versorgung mit einem Hörgerät ist allerdings auch dann nicht glaubhaft gemacht,
wenn die an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit rechts den Einsatz eines Hörgerätes dort noch erforderlich erscheinen ließe.
Denn weder die Stellungnahme des Landesarztes für Hörbehinderte vom 24. Januar 1994 noch die frühere Verordnung von Dr. F
vom 2. September 1994, die dem Widerspruch des Antragstellers beigefügt war, mit dem er ausdrücklich - lediglich - eine "Hörhilfe
rechts" begehrt hat, sahen ein Hörgerät links für erforderlich an. Weshalb derselbe Arzt Ende Mai 1995 nunmehr eine Hörhilfe
beiderseits für notwendig hielt, ist seiner jetzigen Verordnung nicht zu entnehmen.
b) Unabhängig davon steht dem Antragsteller die begehrte Leistung nicht mit dem für eine Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen
hohen Grad an Wahrscheinlichkeit zu.
aa) Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, daß der Antragsgegnerin gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 BSHG eine Ermessensentscheidung darüber eröffnet ist, ob sie dem Antragsteller die Mittel für die begehrte Hörhilfe bewilligt.
Der Antragsteller hat als Asylbewerber gemäß §
2 Abs.
1 Nr.
1 AsylbLG Anspruch auf Hilfeleistungen entsprechend den Regelungen des BSHG. Das vom Antragsteller begehrte Hörgerät stellt sich sozialhilferechtlich nicht als eine Leistung der Krankenhilfe (§ 37 Abs. 1 BSHG) dar, die zu den grundsätzlichen Pflichtleistungen an Ausländer gemäß § 120 Abs. 1 Satz 1 BSHG zählt, sondern als Leistung der Eingliederungshilfe für Behinderte (§§ 39 ff. BSHG), deren Gewährung an Ausländer nach § 120 Abs. 1 Satz 2 BSHG im Ermessen des Sozialhilfeträgers steht.
Die Taubheit oder an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit des Antragstellers ist eine nicht nur vorübergehende wesentliche Behinderung
i.S. des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG. Hilfen, die zur Beseitigung oder Milderung der Behinderung oder ihrer Folgen dienen, sind Maßnahmen der Eingliederungshilfe
(§ 39 Abs. 3 Satz 1 BSHG). Das gilt auch dann, wenn sie - läge eine Behinderung nicht vor - als solche auch zu den Maßnahmen der Krankenhilfe zählten,
weil die Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechende Leistungen vorsehen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 BSHG), wie das hinsichtlich eines Hörgerätes gemäß §
33 Abs.
1 Satz 1
SGB V der Fall ist. Denn während das
SGB V zur Krankenbehandlung auch Leistungen an Behinderte (Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln sowie medizinische und ergänzende
Leistungen zur Rehabilitation - §
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
3 und 6
SGB V -) zählt, enthält das BSHG hinsichtlich des Personenkreises der Behinderten mit den Vorschriften über die Eingliederungshilfe insoweit Spezialregelungen
im Verhältnis zur Krankenhilfe mit der Folge, daß die Eingliederungshilfe im BSHG als lex specialis der Krankenhilfe vorgeht (Gottschick/Giese, Das Bundessozialhilfegesetz, 9. Aufl., § 37 RdNr. 14.3; LPK-BSHG, 4. Aufl., § 37 RdNrn. 9,35; Mergler/Zink, Bundessozialhilfegesetz, 4. Aufl., § 37 RdNr. 4; Schellhorn, Das Bundessozialhilfegesetz, 14. Aufl., § 39 RdNr. 45; Schmitt, Bundessozialhilfegesetz, § 37 RdNr. 9) und deshalb solche Hilfen nur im Rahmen der Eingliederungshilfe gewährt werden können. Das führt u.a. dazu, daß
für Eingliederungshilfen teilweise günstigere Einkommensgrenzen gelten (vgl. § 81 BSHG) und nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BSHG der überörtliche Träger der Sozialhilfe zuständig ist. Diese im System der Hilfen in besonderen Lebenslagen nach dem BSHG angelegte Einordnung der begehrten Hilfe muß auch für die Anwendung von § 120 BSHG gelten. Es ist rechtlich - auch im Hinblick auf §
2 Abs.
2 SGB I - nicht möglich, im Rahmen dieser Vorschrift die Leistung einer anderen Hilfeart, nämlich der Krankenhilfe zuzuordnen, auf
die Ausländer gemäß § 120 Abs. 1 Satz 1 BSHG grundsätzlich einen Rechtsanspruch haben.
Ausländern können gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 BSHG Leistungen der Eingliederungshilfe gewährt werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Daß Ausländern insofern
lediglich ein Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens, nicht aber ein Anspruch auf die Leistung selbst zusteht, ist
nicht zu beanstanden. Die Bundesrepublik Deutschland muß zum Schutz der Leistungsfähigkeit ihrer Sozialleistungsträger, die
im öffentlichen Interesse erhalten werden muß, notwendigerweise Schranken aufrichten (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.10.1981, FEVS
Bd. 31 S. 45, 48, zu § 120 Abs. 1 Satz 1 2.Halbsatz - jetzt Abs. 3 Satz 1 - BSHG).
bb) Es kann dahinstehen, ob zu den gerichtlich voll nachprüfbaren Tatbestandsvoraussetzungen für eine Leistungsgewährung gemäß
§ 120 Abs. 1 Satz 2 BSHG gehört, daß die Leistung im Einzelfall gerechtfertigt ist. Denn jedenfalls fehlt es vorliegend an einer weiteren Voraussetzung
für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, nämlich daß das der Antragsgegnerin eingeräumte Ermessen nur durch Gewährung
der mit dem Anordnungsantrag begehrten Hilfeleistung fehlerfrei ausgeübt werden könnte. Eine derartige Ermessensreduzierung
auf Null ist hier nicht erkennbar. Daß der maßgebliche Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 1995 nicht frei von Mängeln sein dürfte,
ist allein nicht ausreichend (vgl. OVG Hamburg, Beschluß v. 6.8.1990 - OVG Bs IV 114/90 -, m.w.N).
Zwar dürften die im Widerspruchsbescheid dargelegten allgemeinen, nicht auf den Einzelfall, sondern lediglich auf das vorübergehende
Aufenthaltsrecht eines Asylbewerbers abstellenden Maßstäbe der Antragsgegnerin für die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe
gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 BSHG grundsätzlich in die Ermessenserwägungen einbezogen werden können. Im Mittelpunkt der Ermessenserwägung muß aber entsprechend
§ 3 Abs. 1 BSHG das individuelle Maß der Betroffenheit und Hilfsbedürftigkeit des Antragstellers stehen. Der Individualisierungsgrundsatz
des § 3 Abs. 1 BSHG gilt auch für Ermessensentscheidungen über Hilfen an Ausländer nach § 120 BSGH (BVerwG, Urt. v. 14.3.1985, BVerwGE Bd. 71 S. 139, 147). In § 120 Abs. 1 Satz 2 BSHG macht dies zudem der 2.Halbsatz der Vorschrift deutlich. Es sind deshalb auch die individuellen Umstände des konkreten Einzelfalles
in die Abwägung einzustellen. Daran fehlt es in der angefochtenen Entscheidung der Antragsgegnerin.
Gleichwohl liegen derzeit keine genügenden Anhaltspunkte dafür vor, daß das Ermessen der Antragsgegnerin zugunsten des Antragstellers
auf die begehrte Leistung reduziert ist. Zum einen erscheint es - wie dargelegt - in tatsächlicher Hinsicht nicht zweifelsfrei,
ob beidseitige Hörhilfen erforderlich sind oder ob bei dem Antragsteller nicht vielmehr eine durch Hörhilfen nicht behebbare
oder linderbare Taubheit auf einem oder sogar beiden Ohren vorliegt, wie ihm zunächst ärztlich attestiert worden war. Darüber
hinaus dürfte das Maß der individuellen Betroffenheit des Antragstellers nach dem bisherigen Sachstand die Bewilligung der
Hörhilfen nicht zwingend gebieten. Der Antragsteller hat schon in Ägypten kein Hörgerät mehr getragen, wie sich aus seinen
Angaben gegenüber dem Landesarzt für Hörbehinderte im Januar 1994 ergibt, und er hat auch in der Bundesrepublik zunächst nur
Interesse an dem Erlernen der Gebärdensprache gezeigt. Hat er mithin seit Jahren und auch schon in der Heimat ohne Hörgerät
gelebt, ist entgegen dem Vorbringen der Beschwerde derzeit nicht erkennbar, daß der Schutz der Menschenwürde des Antragstellers
die Bewilligung eines Hörgerätes zumindest für ein Ohr zwingend gebieten würde.
c) Das Verwaltungsgericht hat bei dieser Sachlage auch den Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung des
Prozeßbevollmächtigten des Antragstellers für das erstinstanzliche Verfahren zu Recht abgelehnt, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung
keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bot (§
166 VwGO i.V.m. §
114 Satz 1
ZPO).
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§
154 Abs.
2,
188 Satz 2
VwGO.