Sozialhilferecht: Besonderer Härtefall i.S. von § 26 S. 2 BSHG
Gründe:
Die Beschwerde ist zulässig und auch begründet.
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund (die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen gerichtlichen
Regelung) im Sinne des §
123 Abs.
1 Satz 2
VwGO glaubhaft gemacht.
Zutreffend nehmen die Beteiligten und das Verwaltungsgericht an, daß die Antragstellerin, die geschieden ist, einen eigenen
Hausstand führt und mit ihren drei minderjährigen Kindern (das älteste ist elf, das mittlere acht Jahre und das jüngste 21
Monate alt) sowie mit dem Vater des jüngsten Kindes, der studiert und Ausbildungsförderung erhält, zusammenlebt, Anspruch
auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 26 Satz 1 BSHG nicht hat; denn ihre Ausbildung (die zwei Semester dauernde Vorbereitung auf die Prüfung für die Zulassung zum Hochschulstudium
ohne Reifezeugnis bei der Volkshochschule e. V.) ist im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig
(§§ 2 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 1 a Satz 1 Nrn. 2 und 3, 12 Abs. 2 Satz 1 Nr.
1 b, Satz 2 Nrn. 2 und 3
BAföG in Verbindung mit den §§
1 Abs.
1 Nr.
2,
2 Buchst. c der Verordnung vom 6. September 1971, BGBl I, 1542). Der Umstand, daß der Antragsgegner durch bestandskräftig gewordenen
Bescheid vom 10. Juni 1995 Ausbildungsförderung mit der Begründung abgelehnt hat, die Antragstellerin erfülle nicht die -
allein in Frage kommenden - Voraussetzungen des §
10 Abs.
3 Nr.
3 BAföG für die Förderung einer Ausbildung, die nach Vollendung des 30. Lebensjahres begonnen worden ist, steht der Annahme, die
Ausbildung sei dem Grunde nach förderungsfähig, nicht entgegen. Die Anwendung des § 26 Satz 1 BSHG ist hier auch nicht nach §
65 Abs.
3 Nr.
2 BAföG ausgeschlossen, da sich der Bedarf der Antragstellerin nicht nach §
12 Abs. 1 Nr.
1, sondern - wie erwähnt - nach §
12 Abs.
2 Nr.
1 BAföG bemißt.
Der Senat nimmt hier aber - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts und des Antragsgegners - einen besonderen Härtefall
im Sinne des § 26 Satz 2 BSHG an. Er hat bisher in seiner Rechtsprechung (siehe z. B. die Zusammenfassung im Beschluß vom 30. Okt. 1990 - 4 M 101/90 -) Härtegründe in vier Gruppen von Fällen anerkannt: Erstens hat er eine besondere Härte dann angenommen, wenn die pauschalierten
Leistungen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes erheblich unter dem Bedarf liegen, den der Abschnitt 2 des Bundessozialhilfegesetzes
beschreibt (diese Fallgruppe der Aufstockung der Ausbildungsförderung für Schüler ist mit Inkrafttreten des Zwölften Gesetzes
zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes vom 22. Mai 1990, BGBl I, 1511, praktisch gegenstandslos geworden, weil
danach entweder Schüler gemäß §
12 Abs.
2 BAföG für den Lebensunterhalt ausreichende Leistungen erhalten oder die Anwendung des § 26 BSHG durch §
65 Abs.
3 BAföG n. F. ausgeschlossen ist). Zweitens hat er einen von § 26 Satz 1 BSHG nicht bezweckten atypischen Fall angenommen, wenn hierdurch auch solchen Auszubildenden die Hilfe verweigert würde, die selbst
durch einen Abbruch ihrer Ausbildung nicht die Möglichkeit erhielten, ihre Hilfebedürftigkeit aus eigenen Mitteln und Kräften,
d. h. durch den Einsatz ihrer Arbeitskraft auch außerhalb eines erlernten, zuvor ausgeübten oder angestrebten Berufs, zu beseitigen;
das ist insbesondere in Fällen von Behinderung, Krankheit, Schwangerschaft und Betreuung kleiner Kinder denkbar. Drittens
hat er die Annahme einer besonderen Härte in Betracht gezogen, wenn nur eine "pro-forma-Immatrikulation" vorliegt, ein Student
also lediglich eingeschrieben ist, ohne daß er noch an Universitätsveranstaltungen in irgendeiner Art teilnimmt oder sich
auf eine Prüfung vorbereitet. Viertens hat er das Vorliegen einer besonderen Härte in solchen Fällen für möglich gehalten,
in denen die finanzielle Grundlage für die Ausbildung, die zuvor gesichert war, entfallen ist, wenn dies vom Hilfesuchenden
nicht zu vertreten, die Ausbildung schon fortgeschritten ist und der Hilfesuchende begründete Aussicht hat, wieder "zu seinem
Geld zu kommen", und deshalb der Träger der Sozialhilfe nur zur Überbrückung einer vorübergehenden Notlage einspringen muß.
Demgegenüber hat das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 14. Okt. 1993, BVerwGE 94, 224 = FEVS 44, 269) insbesondere die zweite Fallgruppe (im entschiedenen Fall standen einer Arbeitsaufnahme Gründe des Mutterschutzes
nach §
3 Abs.
2 und 6
MuSchG entgegen), nicht als "besondere Härtefälle" anerkannt und gemeint, ein "besonderer" Härtefall liege erst dann vor, wenn im
Einzelfall Umstände hinzuträten, die einen Ausschluß von der Ausbildungsförderung durch Hilfe zum Lebensunterhalt auch mit
Rücksicht auf den Gesetzeszweck, die Sozialhilfe von den finanziellen Lasten einer Ausbildungsförderung freizuhalten, als
"übermäßig hart, d. h. als unzumutbar oder in hohem Maße unbillig", erscheinen ließen.
Der Senat hat bisher (u. a. Urt. v. 14. Sept. 1994 - 4 L 4654/93 - und Beschluß v. 17. Nov. 1994 - 4 M 6084/94 -) offengelassen, ob er seine frühere Rechtsprechung aufgibt und dem Bundesverwaltungsgericht folgt. Jedenfalls hinsichtlich
der zweiten Fallgruppe hält er an seiner früheren Rechtsprechung fest und folgt dem Bundesverwaltungsgericht nicht, da er
dessen Begründung nicht für überzeugend hält. Wenn nämlich selbst die auf dauernder Krankheit oder Behinderung, auf fortgeschrittener
Schwangerschaft oder Entbindung beruhende Unmöglichkeit, nach Abbruch oder Unterbrechung der Ausbildung den Lebensunterhalt
durch Arbeit zu verdienen, nicht als "zusätzlicher Härtegrund" anerkannt wird, ist kaum noch ein Fall denkbar, in dem § 26 Satz 2 BSHG zum Zuge kommen könnte. Es führt nach Auffassung des Senats nicht weiter, den Gesetzesbegriff der "besonderen Härte" lediglich
durch ähnliche Begriffe wie "übermäßig hart", "unzumutbar" oder "in hohem Maße unbillig" auszutauschen, ohne zugleich einen
Lebenssachverhalt zu umreißen, der einen dieser Begriffe ausfüllen könnte (angemerkt sei, daß der Gesetzgeber z. B. in § 12
Abs. 4 und 6 WPflG sehr wohl zwischen "besonderer" und "unzumutbarer" Härte unterscheidet und in der unzumutbaren Härte eine
Steigerung der besonderen Härte sieht, so daß es durchaus zweifelhaft ist, ob diese Begriffe - wie es das Bundesverwaltungsgericht
tut - in § 26 Satz 2 BSHG gleichgesetzt oder ausgetauscht werden dürfen). Das Bundesverwaltungsgericht spricht am Schluß der Entscheidung vom 13. Oktober
1993 (FEVS 44, 274, in BVerwGE 94, 224 insoweit nicht abgedruckt) zwar den Fall an (ohne dieser Frage näher nachzugehen), daß ein Auszubildender in der Endphase
der Ausbildung steht und diese ohne Hilfe zum Lebensunterhalt nicht erfolgreich beenden kann. Nach Auffassung des Senats ist
dieses Beispiel aber weniger als die von ihm gebildete zweite Fallgruppe geeignet, eine besondere Härte überzeugend zu begründen.
Denn §
15 Absätze 3 und 3 a
BAföG sieht in zahlreichen Fällen vor, Ausbildungsförderung nach Überschreitung der Förderungshöchstdauer für eine angemessene
Zeit weiter zu gewähren, um dem Auszubildenden den Abschluß der Ausbildung zu ermöglichen. Wenn es einem Auszubildenden selbst
nach Ausschöpfung aller in Frage kommenden Verlängerungsmöglichkeiten nicht gelungen ist, die Ausbildung abzuschließen, drängt
es sich jedenfalls nicht auf, ihn in der Endphase der Ausbildung mit Mitteln der Sozialhilfe zu fördern.
Der Senat hält deshalb (auch gegen den Hess. VGH, Beschluß v. 15. Juni 1992, FEVS 44, 36) an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, daß es eine besondere Härte im Sinne des
§ 26 Satz 2 BSHG auch sein kann, wenn eine Auszubildende - wie hier - ein Kind unter drei Jahren zu versorgen hat und deshalb nach § 18 Abs. 3 BSHG nicht verpflichtet ist, ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und ihre unterhaltsberechtigten Angehörigen
einzusetzen. Die Verweigerung der Hilfe zum Lebensunterhalt wäre in diesem Fall (wie in den anderen genannten Fällen der zweiten
Fallgruppe) allein Mittel zu dem Zweck, den Abbruch der Ausbildung herbeizuführen. § 26 BSHG hat aber nicht allein oder in erster Linie diesen Zweck, sondern den, den Nachrang der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 BSHG) durch Verweisung auf Selbsthilfe (Einsatz der Arbeitskraft) zu verwirklichen. Ist dieses Ziel aus einem der genannten, zusätzlichen
Gründe nicht zu erreichen, liegt ein besonderer Härtefall vor, der die (Weiter-)Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt rechtfertigt.
Auf den Einsatz ihrer Arbeitskraft kann die Antragstellerin hier nicht im Hinblick darauf verwiesen werden, daß in den Zeiten
ihrer ausbildungsbedingten Abwesenheit (montags bis donnerstags bis 9 Uhr bis 12 Uhr und dienstags von 18.30 Uhr bis 21.30
Uhr) die Versorgung und Betreuung ihres jüngsten Kindes offenbar sichergestellt ist (entweder durch ihren Lebenspartner und
Vater des Kindes oder durch eine andere Person). Denn dieser Umstand bedeutet nicht zugleich, daß die Betreuungsperson bereit
und in der Lage wäre, zu jeder beliebigen Zeit, in der die Antragstellerin einer Erwerbstätigkeit (mindestens einer Teilzeitbeschäftigung)
nachginge, die Betreuung des Kindes zu übernehmen. Mit der gegenwärtigen zeitlichen Einschränkung (insbesondere von 9 bis
12 Uhr von montags bis donnerstags) stünde die Antragstellerin dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung.
Sind demnach die Voraussetzungen des § 26 Satz 2 BSHG erfüllt, liegt die Gewährung der Hilfe im Ermessen des Antragsgegners ("kann"). Der Senat spricht auch eine Ermessensleistung
im Wege der einstweiligen Anordnung zu, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür spricht, der Träger der Sozialhilfe werde
sein Ermessen sachgerecht dahin ausüben (müssen), die Hilfe zu gewähren. Das ist hier der Fall. Ist nämlich bei zutreffender
Auslegung des Gesetzes ein besonderer Härtefall zu bejahen, ist kaum noch ein sachgerechter Grund denkbar, die Leistung gleichwohl
zu verweigern.
Der Senat spricht laufende Leistungen zum Lebensunterhalt im Wege der einstweiligen Anordnung in der Regel erst ab dem Ersten
des Monats seiner Entscheidung zu und verweist wegen der geltend gemachten Ansprüche für zurückliegende Zeiträume auf das
Hauptverfahren. Hier besteht ein begründeter Anlaß nicht, von dieser Regel eine Ausnahme zu machen.