Kostenerstattung für häusliche Krankenpflege durch die gesetzliche Krankenversicherung; An‑ und Ablegen eines Gilchristverbandes
Gründe:
I
Streitig ist, ob die beklagte Krankenkasse der Klägerin die Kosten für die von ihr in Anspruch genommene häusliche Krankenpflege
zum An- und Ablegen eines Gilchristverbandes zu erstatten hat.
Nach einer stationären Behandlung wegen einer Luxation des rechten Schultergelenkes erhielt die 1937 geborene, bei der Beklagten
versicherte Klägerin am 24.9.2007 rückwirkend für die Zeit vom 1.7.2007 bis 30.9.2007 eine vertragsärztliche Verordnung über
häusliche Krankenpflege für das Anlegen von stützenden/stabilisierenden Verbänden sowie für die hauswirtschaftliche Versorgung.
Die Klägerin ist alleinstehend und bezieht keine Leistungen der Pflegeversicherung. Zur Ruhigstellung des Schulter-/Armbereichs
trug sie einen sog Gilchristverband. Dabei handelt es sich um ein in verschiedenen Größen erhältliches, vorgefertigtes Gurtsystem,
bei dem der Unterarm angewinkelt in fertige Schlingen gelegt wird, um den Schulter- und Armbereich zu immobilisieren.
Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 26.9.2007, Widerspruchsbescheid vom 14.2.2008): Zur Behandlungspflege gehörten
nur Pflegemaßnahmen, die durch eine bestimmte Erkrankung verursacht seien, speziell auf den Gesundheitszustand der Versicherten
ausgerichtet seien und zum Erreichen der Behandlungsziele des §
27 Abs
1 S 1
SGB V beitragen sollten. Der Wechsel eines Gilchristverbandes diene jedoch nicht der Krankenbehandlung, sondern erfolge lediglich,
um die Körperpflege zu ermöglichen und gehöre daher - ebenso wie das An- und Ablegen von Hilfsmitteln wie Prothesen, Orthesen,
Stützkorsetten, Bruchbändern uä - zur Grundpflege. Dies ergebe sich aus der Anlage zur Richtlinie des Bundesausschusses der
Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege nach §
92 Abs
1 S 2 Nr
6 und Abs
7 SGB V (HKP-RL). Hauswirtschaftliche Versorgung sei zur Sicherung des Zieles der ambulanten ärztlichen Behandlung nicht verordnungsfähig.
Die Klägerin könne in der zuständigen Geschäftsstelle einen Antrag auf Haushaltshilfe stellen.
Auf eine erneute ärztliche Verordnung der gleichen Leistungen vom 26.9.2007 für den anschließenden Zeitraum vom 1.10.2007
bis 4.11.2007 erging eine gleichlautende Entscheidung (Bescheid vom 28.9.2007). Ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X vom 1.7.2008 blieb erfolglos (Bescheid vom 15.7.2008, Widerspruchsbescheid vom 9.10.2008).
Die Klägerin nahm für das An- und Ablegen des Gilchristverbandes einen Krankenpflegedienst in Anspruch, der diese Leistung
am 24.9.2007 einmal abends, in der Zeit vom 25.9.2007 bis 31.10.2007 jeweils einmal morgens und abends und in der Zeit vom
2.11.2007 bis 4.11.2007 noch dreimal erbrachte. Sie zahlte dafür insgesamt 760,50 Euro. Ihren Erstattungsanspruch beziffert
sie - nach Abzug der gesetzlichen Zuzahlung - zuletzt noch auf 664,45 Euro.
Die gegen beide Widerspruchsbescheide erhobenen Klagen hat das SG nach Verbindung abgewiesen (Urteil vom 22.1.2010). Die Berufung hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 23.5.2012) und ausgeführt,
beim An- und Ablegen des Gilchristverbandes handele es sich nicht um eine Maßnahme der Behandlungspflege, sondern der Grundpflege.
Häusliche Krankenpflege könne dafür nicht verordnet werden. Die Grundpflege umfasse pflegerische Leistungen nichtmedizinischer
Art, zB Körperpflege und andere Maßnahmen der Hygiene. Da ein Gilchristverband einfach anzulegen sei, handele es sich nicht
um eine den medizinischen Hilfeleistungen vergleichbare Maßnahme. Auch der Richtliniengeber habe in der Anlage der HKP-RL
die Maßnahme der Grundpflege zugeordnet.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§
37 SGB V). Sie hält an ihrer Auffassung fest, das An- und Ablegen eines Gilchristverbandes sei als verrichtungsbezogene krankheitsspezifische
Maßnahme - vergleichbar mit dem An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen - vom Anspruch auf häusliche Krankenpflege umfasst.
Der Gilchristverband, einschließlich der Kontrolle über seinen richtigen Sitz, diene in erster Linie der Stabilisierung des
Schulter- und Armbereiches und damit der Heilung einer Krankheit, auch wenn das Ablegen des Verbandes die Körperpflege erleichtere.
Der gesetzliche Leistungsanspruch eines Versicherten könne durch die Richtlinien nicht eingeengt werden.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Sächsischen Landessozialgericht vom 23.5.2012 und des Sozialgerichts Leipzig vom 22.1.2010 zu ändern, den
Bescheid der Beklagten vom 26.9.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.2.2008, den Bescheid vom 15.7.2008 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9.10.2008 sowie den Bescheid vom 28.9.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
an sie 664,45 Euro zu zahlen.
Die Beklagte verteidigt die instanzgerichtlichen Urteile und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Auf Nachfrage des Senats hat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) mitgeteilt, der Umfang verordnungsfähiger Leistungen der
Behandlungssicherungspflege werde nicht durch die zur Grundpflege gehörenden und dort aufgeführten Leistungen geschmälert.
Dies gelte auch für Überschneidungsbereiche. Das An- und Ablegen von stützenden und stabilisierenden Verbänden diene der Sicherung
des Ziels der ärztlichen Behandlung und sei nach Nr 31 der HKP-RL der Behandlungspflege zugeordnet, auch wenn diese Leistung
gleichzeitig der Grundpflege diene.
II
Die zulässige Revision ist in dem zuletzt - nach Abzug der nach §
37 Abs
5 und §
61 S 3
SGB V zu leistenden Zuzahlung - noch geltend gemachten Umfang begründet; der Klägerin steht der Kostenerstattungsanspruch in dieser
Höhe zu.
Rechtsgrundlage des Anspruchs auf Kostenerstattung ist für die in der Zeit vom 24.9.2007 bis 26.9.2007 in Anspruch genommene
häusliche Krankenpflege zum An- und Ablegen des Gilchristverbandes (5 x 9,75 Euro = 48,75 Euro) §
37 Abs
4 SGB V (der durch das Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen [GRG] vom 20.12.1988, BGBl I 2477, geschaffen worden und seit
dem Inkrafttreten am 1.1.1989 unverändert geblieben ist) iVm § 6 Abs 6 HKP-RL (dazu 1.) und für die in der Zeit vom 27.9.2007
bis 4.11.2007 angefallenen Kosten (73 x 9,75 Euro = 711,75 Euro) §
13 Abs
3 S 1
SGB V (ebenfalls in der unverändert gebliebenen Fassung des GRG, aaO [dazu 2.]). Von diesen Beträgen ist die von der Klägerin nach §
37 Abs
5 SGB V iVm §
61 S 3
SGB V zu leistende Zuzahlung abzuziehen (dazu 3.).
1. Nach §
37 Abs
4 SGB V sind den Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft in angemessener Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse
keine Kraft stellen kann oder Grund besteht, davon abzusehen. Nach § 6 Abs 6 HKP-RL übernimmt die Krankenkasse bis zur Entscheidung
über die Genehmigung die Kosten für die vertragsärztlich verordneten und vom Pflegedienst erbrachten Leistungen entsprechend
der vereinbarten Vergütung nach §
132a Abs
2 SGB V, wenn die Verordnung spätestens an dem dritten der Ausstellung folgenden Arbeitstag der Krankenkasse vorgelegt wird.
Der Anspruch auf Kostenerstattung setzt grundsätzlich voraus, dass in demselben Umfang ein Sachleistungsanspruch auf häusliche
Krankenpflege bestand (dazu a). Die Krankenkasse konnte für die häusliche Krankenpflege der Klägerin in der Zeit vom 24.9.2007
bis 26.9.2007 keine Kraft stellen (dazu b) und die Kosten für die von der Klägerin selbstbeschaffte Kraft sind angemessen
(dazu c).
a) Nach §
37 Abs
2 S 1
SGB V (idF des am 1.4.2007 in Kraft getretenen GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes [GKV-WSG] vom 26.3.2007, BGBl I 378) erhalten Versicherte
in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere in betreuten Wohnformen, Schulen und Kindergärten,
bei besonders hohem Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege,
wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Der Anspruch umfasst verrichtungsbezogene krankheitsspezifische
Pflegemaßnahmen auch in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach §§
14 und
15 des
SGB XI zu berücksichtigen ist.
Die Klägerin führt einen eigenen Haushalt, in dem die häusliche Krankenpflege erbracht werden kann. Sie ist alleinstehend,
sodass die Pflege nicht von einer in ihrem Haushalt lebenden Person geleistet werden kann (§
37 Abs
3 SGB V).
Das Tragen des Gilchristverbandes ist zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich. Das im Rahmen der Körperpflege
und beim An- und Auskleiden erforderliche An- und Ablegen des Gilchristverbandes ist eine verrichtungsbezogene krankheitsspezifische
Pflegemaßnahme, zu deren Leistung in erster Linie die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) verpflichtet ist (dazu aa bis
cc). Die Leistung war in dem ärztlich verordneten und von der Klägerin in Anspruch genommenen Umfang erforderlich (dazu dd).
aa) Der Begriff der verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen ist von der Rechtsprechung entwickelt und
vom Gesetzgeber aufgegriffen worden. Danach sind krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen solche, die durch eine bestimmte Krankheit
verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit
zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern, wobei diese Maßnahmen
typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Heilberufe oder auch von Laien erbracht werden (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 2, 9, 11 und 18). Verrichtungsbezogen sind solche krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen, wenn sie untrennbarer Bestandteil
einer der in §
14 Abs
4 SGB XI aufgeführten Verrichtungen sind oder mit einer solchen Verrichtung objektiv notwendig in untrennbarem zeitlichen und sachlichen
Zusammenhang durchzuführen sind (BSGE 106, 173 = SozR 4-2500 § 37 Nr 11).
Das BSG hat den Begriff der verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahme in einem Fall geprägt, in dem es um das An-
und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ging (BSG SozR 3-2500 § 37 Nr 3). Es hat die hierbei erforderliche Hilfe zunächst in die ausschließliche Zuständigkeit der Pflegeversicherung verwiesen.
Daraufhin fügte der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz
vom 14.11.2003, BGBl I 2190) dem §
37 Abs
2 S 1
SGB V den Halbsatz hinzu: "Der Anspruch umfasst das Anziehen und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ab Kompressionsklasse 2 auch
in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§
14 und
15 SGB XI zu berücksichtigen ist." Damit hat der Gesetzgeber diese verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahme in Abkehr
von der damaligen Rechtsprechung ausdrücklich der Leistungspflicht der GKV im Rahmen der Behandlungssicherungspflege unterworfen.
Um aufgrund dieser doppelten Zuständigkeit für dieselben Leistungen Doppelleistungen zu vermeiden, hat die Rechtsprechung
anschließend den Versicherten ein Wahlrecht zugestanden, ob sie die Maßnahme als Leistung der GKV im Rahmen der Behandlungssicherungspflege
(§
37 Abs
2 SGB V) beanspruchen oder eine Berücksichtigung im Rahmen von Leistungen der Pflegeversicherung vorziehen. Die Rechtsprechung hat
dieses Wahlrecht den Versicherten nicht nur im Hinblick auf das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen, sondern bei allen
verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen zuerkannt (BSGE 94, 192, RdNr 31 ff = SozR 4-2500 § 37 Nr 3). Das Wahlrecht der Versicherten hat der Gesetzgeber zum 1.4.2007 durch das GKV-WSG (GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I S 378) wieder beseitigt, die zu den Kompressionsstrümpfen getroffene Regelung gleichzeitig aber entsprechend
der Rechtsprechung auf sämtliche verrichtungsbezogenen Maßnahmen der Behandlungspflege ausgeweitet (vgl dazu BT-Drucks 16/3100,
insbesondere zu Nr 22 b, S 104 ff). Zugleich hat er eine damit korrespondierende Regelung in §
15 Abs
3 S 2
SGB XI geschaffen: "Bei der Feststellung des Zeitaufwandes ist ein Zeitaufwand für erforderliche verrichtungsbezogene krankheitsspezifische
Pflegemaßnahmen zu berücksichtigen; dies gilt auch dann, wenn der Hilfebedarf zu Leistungen nach dem
SGB V führt." Die Definition der "verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen" entspricht der oben beschriebenen
langjährigen Rechtsprechung des erkennenden Senats; sie findet sich seit dem 1.4.2007 - insoweit nur als Klarstellung gedacht
- in §
15 Abs
3 S 3
SGB XI. Dem GBA wurde die Aufgabe übertragen, in Richtlinien nach §
92 SGB V das Nähere über Art und Inhalt der verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen nach §
37 Abs
2 S 1
SGB V zu bestimmen (§
37 Abs
6 S 2
SGB V).
Damit hat der Gesetzgeber für alle verrichtungsbezogenen Maßnahmen der Behandlungssicherungspflege eine Doppelzuständigkeit
von Krankenkassen und Pflegekassen geschaffen. Diese Rechtsentwicklung lässt erkennen, dass der Gesetzgeber den Anspruch aus
§
37 Abs
2 S 1
SGB V sogar bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von Leistungen nach dem
SGB XI möglichst ungeschmälert erhalten wissen will. Dies entspricht zum einen dem in §
31 SGB XI niedergelegten Grundsatz, dass die medizinische Rehabilitation gegenüber der Pflege Vorrang hat, und zum anderen dem Zweck
der Regelungen der sozialen Pflegeversicherung, die Leistungen der GKV zu ergänzen, sie aber prinzipiell nicht - ganz oder
teilweise - zu verdrängen. Dies hat der erkennende Senat für den Bereich der Hilfsmittel (§
33 SGB V) und Pflegehilfsmittel (§
40 SGB XI) bereits grundlegend ausgeführt (BSGE 99, 197 = SozR 4-2500 §
33 Nr 16). Die Parallelität und Gleichrangigkeit der Ansprüche gegen die Krankenkasse und die Pflegekasse kommt auch in der
Vorschrift des §
13 Abs
2 SGB XI zum Ausdruck, wonach die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach §
37 SGB V unberührt bleiben.
Klarstellend hat die Rechtsprechung im Folgenden zur Abgrenzung von krankheitsspezifischen verrichtungsbezogenen Pflegemaßnahmen
den Begriff der "reinen Grundpflege" geprägt. Die "reine Grundpflege", bei der keine verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen
Leistungen erbracht werden, obliegt der Pflegekasse (BSGE 106, 173 = SozR 4-2500 § 37 Nr 11, RdNr 28 ff).
bb) Das An- und Ablegen des Gilchristverbandes ist eine krankheitsspezifische verrichtungsbezogene Pflegemaßnahme, die im
Rahmen der Behandlungssicherungspflege von den Krankenkassen zu leisten ist. Die Klägerin erhielt den Gilchristverband nach
ihrer stationären Behandlung wegen einer Luxation ihres rechten Schultergelenkes. Das Tragen des Verbandes beruht mithin ursächlich
auf dieser Krankheit, soll dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten und Krankheitsbeschwerden
zu lindern und ist zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich. Das An- und Ablegen des Gilchristverbandes
ist untrennbarer Bestandteil sowohl der Körperpflege beim Waschen/Baden/Duschen als auch im Bereich der Mobilität beim An-
und Auskleiden. Bei längerem Tragen ist das regelmäßige Ablegen des Verbandes zur angemessenen Körperpflege erforderlich.
Da der Gilchristverband regelmäßig zumindest teilweise über der Kleidung getragen wird, ist er auch für das An- und Auskleiden
jeweils zu entfernen und danach wieder anzulegen.
Unerheblich ist, ob der Verband auch aus medizinischen Gründen regelmäßig an- und abzulegen ist und daher schon der Vorgang
des An- und Ablegens selbst der Krankenbehandlung dient. Denn der Gilchristverband kann nicht getragen werden, wenn er nicht
zur Durchführung der genannten Verrichtungen iS des §
14 Abs
4 SGB XI an- und abgelegt wird. Das An- und Auskleiden sowie eine elementare Körperpflege sind unabdingbare Grundbedürfnisse. Der
Gilchristverband kann daher nur getragen werden, wenn er zur Körperpflege und zum An- und Auskleiden an- und abgelegt werden
kann und nach diesen Verrichtungen ggf eingetretene Verschiebungen korrigiert werden. Deshalb ist das An- und Ablegen untrennbar
mit dem Tragen des Gilchristverbandes, das der Behandlungssicherung dient, verbunden und keiner gesonderten Bewertung zugänglich.
cc) Dem stehen die Regelungen der HKP-RL einschließlich der das Leistungsverzeichnis beinhaltenden Anlage nicht entgegen.
Nach §
37 Abs
6 S 2
SGB V bestimmt der GBA in Richtlinien nach §
92 SGB V das Nähere über Art und Inhalt der verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen nach §
37 Abs
2 S 1
SGB V. Dementsprechend regelt §
2 Abs
4 der HKP-RL, dass verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen als Behandlungspflege im Rahmen der Sicherungspflege
auch dann verordnet werden können, wenn dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit in der Pflegeversicherung
bereits berücksichtigt worden ist. Zudem zählt § 2 Abs 6 HKP-RL beispielhaft einige verrichtungsbezogene krankheitsspezifische
Pflegemaßnahmen auf, wie etwa das Einreiben mit Dermatika bei der Verrichtung des Waschens/Duschens/Badens. Die HKP-RL enthält
als Anlage ein Leistungsverzeichnis mit den verordnungsfähigen Leistungen. Danach sind alle Leistungen der Grundpflege und
der hauswirtschaftlichen Versorgung des Verzeichnisses ausschließlich im Rahmen der Krankenhausvermeidungspflege nach §
37 Abs
1 SGB V oder als Satzungsleistung zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung nach §
37 Abs
2 SGB V verordnungsfähig. Die enthaltenen Aussagen zur Dauer der Verordnung und zur Häufigkeit der Verrichtungen sind Empfehlungen
für den Regelfall, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann. Bei den Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen
Versorgung ist unter der Nr 4 des Leistungsverzeichnisses die Körperpflege aufgeführt, die danach ua das An- und/oder Auskleiden
einschließlich konfektionierter/teilkonfektionierter/maßgefertigter Bandagen beinhaltet, ohne Angaben zu Dauer und Häufigkeit
der Maßnahme. Zu den Leistungen der Behandlungspflege gehört nach Nr 31 des Leistungsverzeichnisses ua das Anlegen von stützenden
und stabilisierenden Verbänden zur unterstützenden Funktionssicherung der Gelenke zB bei Distorsion, Kontusion, Erguss. Zu
Dauer und Häufigkeit der Maßnahme ist angegeben: bis zu 2 Wochen jeweils 1 x täglich.
Diese Regelungen sind nicht - wie die Beklagte und die Vorinstanzen meinen - so zu verstehen, dass die bei der Grundpflege
aufgeführten Maßnahmen als Maßnahmen der Behandlungspflege von vornherein nicht in Betracht kommen. Denn eine solche Auslegung
der HKP-RL würde gegen die ausdrückliche gesetzliche Bestimmung des §
37 Abs
2 S 1 Halbs 2
SGB V verstoßen, mit welcher der Gesetzgeber klargestellt hat, dass verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen
vom Anspruch auf Behandlungssicherungspflege umfasst sind. Darauf nimmt auch § 2 Abs 4 HKP-RL ausdrücklich Bezug. Bei den
grundpflegerischen Maßnahmen kann es daher Überschneidungsbereiche geben, wenn diese zugleich krankheitsspezifisch sind und
der Behandlungssicherung dienen. Für die Verordnungsfähigkeit von Maßnahmen der Behandlungssicherungspflege sind die die Grundpflege
betreffenden Ausführungen im Leistungsverzeichnis der HKP-RL unerheblich.
Das An- und Ablegen eines Gilchristverbandes lässt sich den unter Nr 31 des Leistungsverzeichnisses zur HKP-RL genannten Leistungen
der Behandlungspflege zuordnen, denn der Gilchristverband ist ein stützender und stabilisierender Verband zur unterstützenden
Funktionssicherung der Gelenke zB bei Distorsion, Kontusion, Erguss. Unerheblich ist, dass im Leistungsverzeichnis nur das
Anlegen des Verbandes ausdrücklich genannt wird. Wie oben dargelegt, ist das Tragen des Verbandes notwendig damit verbunden,
dass er zum An- und Auskleiden und zur Körperpflege an- und abgelegt wird. Wird der Verband nicht abgenommen, erübrigt sich
auch das Anlegen, und gerade das Ablegen des Verbandes ermöglicht die genannten Verrichtungen der Körperpflege und des An-
und Auskleidens. Daher ist das Ablegen des Verbandes nicht anders zu bewerten als das Anlegen.
Zudem stellen die HKP-RL keinen abschließenden Leistungskatalog über die zu erbringenden Leistungen im Rahmen der häuslichen
Krankenpflege dar. Die in §
37 Abs
6 S 2
SGB V normierte Ermächtigung des GBA, das Nähere über Art und Inhalt der verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen
zu bestimmen, beschränkt sich - wie es dem Wesen von Richtlinien entspricht - im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben auf die
Konkretisierung und Interpretation des Wirtschaftlichkeitsgebots (§
2 Abs
4, §
12 Abs
1, §
70 Abs
1 SGB V) für die Regelfälle im Hinblick auf Art und Inhalt verrichtungsbezogener krankheitsspezifischer Pflegemaßnahmen der häuslichen
Krankenpflege. Für eine Ausgrenzung notwendiger Leistungen aus dem Versorgungsauftrag der Krankenkassen, ihre Zuweisung zum
Aufgabenbereich der Pflegekassen oder in die Eigenverantwortung der Versicherten (dh Selbstbeteiligung; dazu Peters in: Kasseler
Kommentar, §
2 SGB V RdNr 3) hat der GBA keine Ermächtigung. Demzufolge bleiben Maßnahmen der Behandlungspflege, die im Einzelfall erforderlich
und wirtschaftlich sind, auch außerhalb der HKP-RL in der Leistungsverpflichtung der Krankenkassen (vgl BSG SozR 4-2500 §
37 Nr 7 RdNr 21, zustimmend Flint in: Hauck/Noftz,
SGB V, K §
37 RdNr 156 ff; vgl auch Nolte in: Kasseler Kommentar, §
37 SGB V RdNr 20a).
dd) Die Leistung war in dem ärztlich verordneten Umfang zweimal täglich über den verordneten Zeitraum hinweg notwendig. Daran
hat auch die Beklagte keine Zweifel geäußert. Aufgrund des Alters der Klägerin und ihrer Erkrankung ergeben sich auch keine
Anhaltspunkte für ernsthafte Zweifel an der Notwendigkeit der ärztlichen Verordnung, die weitere Ermittlungen erforderlich
machen würden. Die Empfehlung zur Dauer und Häufigkeit der Maßnahme nach der HKP-RL betrifft nur einen nicht näher bezeichneten
Regelfall. Bezüglich der Dauer der Maßnahme kann schon aufgrund des Alters der Klägerin und der damit verbundenen Heilungsverzögerung
nicht vom Regelfall ausgegangen werden. Die Notwendigkeit, den Gilchristverband zweimal täglich an- und abzulegen, ergibt
sich unmittelbar daraus, dass es beim Tragen des Verbandes unumgänglich ist, diesen zur elementaren Körperpflege und zum An-
und Auskleiden jeweils an- und abzulegen und diese Verrichtungen regelmäßig morgens und abends anfallen.
b) Die Krankenkasse konnte der Klägerin für die Zeit vom 24.9.2007 bis 26.9.2007 keine Kraft stellen. In Konkretisierung dieser
Vorschrift regelt § 6 Abs 6 HKP-RL die Kostenübernahme durch die Krankenkasse für die vertragsärztlich verordneten und vom
Pflegedienst erbrachten Leistungen entsprechend der vereinbarten Vergütung nach §
132a Abs
2 SGB V bis zur Entscheidung über die Genehmigung, wenn die Verordnung spätestens an dem dritten der Ausstellung folgenden Arbeitstag
der Krankenkasse vorgelegt wird.
Diese Regelung ist ermächtigungskonform. Nach §
92 Abs
1 S 1
SGB V beschließt der GBA die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende,
zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Er soll insbesondere Richtlinien beschließen über ua die Verordnung
von Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausbehandlung, häuslicher Krankenpflege und Soziotherapie (§
92 Abs
1 S 2 Nr
6 SGB V). Nach §
92 Abs
7 S 1
SGB V (idF des GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I S 378) ist in den Richtlinien "insbesondere" zu regeln (1.) die Verordnung der häuslichen Krankenpflege
und deren ärztliche Zielsetzung, (2.) Inhalt und Umfang der Zusammenarbeit des verordnenden Vertragsarztes mit dem jeweiligen
Leistungserbringer und dem Krankenhaus sowie (3.) die Voraussetzungen für die Verordnung häuslicher Krankenpflege und für
die Mitgabe von Arzneimitteln im Krankenhaus im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt. Danach erstreckt sich der Auftrag
an den GBA darauf, in Richtlinien das Wirtschaftlichkeitsgebot für die Regelfälle der häuslichen Krankenpflege zu interpretieren
und zu konkretisieren (vgl BSG SozR 4-2500 § 37 Nr 7 RdNr 21). § 6 Abs 6 HKP-RL überschreitet diesen gesetzlichen Auftrag nicht. Zwar wird häusliche Krankenpflege grundsätzlich nur auf Antrag
gewährt (§
19 SGB IV, vgl auch BSG SozR 2200 § 185 Nr 4). Sozialrechtlich sind aber Leistungen für kurze Zeiträume vor der Antragstellung durchaus bekannt, auch wenn der Anspruch
antragsabhängig ist (vgl zB Pflegeleistungen ab Beginn des Monats der Antragstellung, §
33 Abs
1 S 3
SGB XI). Für den Anspruch auf häusliche Krankenpflege ist die medizinische Notwendigkeit der Leistung entscheidend. Häusliche Krankenpflege
wird im Regelfall im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der ärztlichen Verordnung erforderlich, sodass es in der Praxis
kaum möglich wäre, zuvor die Genehmigung der Krankenkasse einzuholen und auf eine von dieser gestellten Pflegekraft zu warten.
Diesen praktischen Erfordernissen und damit auch dem Wirtschaftlichkeitsgebot dienen die Regelungen des §
37 Abs
4 SGB V iVm §
6 Abs
6 HKP-RL. Solange die Krankenkasse noch keine Pflegekraft stellen konnte und keine Entscheidung über die Genehmigung getroffen
hat, übernimmt sie die Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft in angemessener Höhe. Eine nach §
132a Abs
2 SGB V vereinbarte Vergütung ist regelmäßig angemessen.
Die Klägerin hat die ärztliche Verordnung vom 24.9.2007 am nächsten Tag bei der Beklagten vorgelegt. Diese konnte in der Zeit
bis zur Entscheidung über die Genehmigung (Bescheid vom 26.9.2007) keine Kraft für die häusliche Krankenpflege stellen.
c) Die Kosten für die von der Klägerin selbstbeschaffte Kraft sind mit 9,75 Euro je Einsatz in diesem Sinne angemessen. Dies
ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
2. Für die Zeit vom 27.9.2007 bis zum 4.11.2007 hat die Klägerin einen Anspruch auf Kostenerstattung nach §
13 Abs
3 S 1
SGB V. Danach sind Kosten für selbstbeschaffte Leistungen, soweit die Leistung notwendig war, in der entstandenen Höhe zu erstatten,
wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt
hat und dadurch dem Versicherten Kosten entstanden sind.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die häusliche Krankenpflege in der Zeit, für die eine Kostenerstattung geltend gemacht wird,
eine unaufschiebbare Leistung war. Daran bestehen Zweifel, weil die häusliche Krankenpflege der Klägerin erstmals am 24.9.2007,
dann aber rückwirkend für die Zeit ab 1.7.2007 verordnet wurde. Dies kann aber offenbleiben, weil der Anspruch für die Zeit
vom 24.9.2007 bis 26.9.2007 bereits nach §
37 Abs
4 SGB V iVm §
6 Abs
6 HKP-RL gegeben ist und die Beklagte die Leistung für die Zeit ab 27.9.2007 zu Unrecht abgelehnt hat, denn der Klägerin war
entsprechend der ärztlichen Verordnung häusliche Krankenpflege zum An- und Ablegen des Gilchristverbandes zu gewähren. Durch
die zu Unrecht erfolgte Ablehnung sind der Klägerin ab 27.9.2007 Kosten für die selbstbeschaffte Leistung in Höhe von 711,75
Euro (73 x 9,75 Euro) abzüglich der Zuzahlung entstanden.
3. Nach §
37 Abs
5 SGB V iVm §
61 S 3
SGB V hat die Klägerin eine Zuzahlung in Höhe von 96,05 Euro zu leisten, nämlich für jede der beiden Verordnungen 10 Euro und 10
vom Hundert der Kosten für die häusliche Krankenpflege. Diese betrugen insgesamt 760,50 Euro; 10 vom Hundert davon sind 76,05
Euro. Die Belastungsgrenze war noch nicht erreicht (§
62 SGB V). Die Klägerin hatte im Jahr 2007 für andere medizinische Maßnahmen Zuzahlungen in Höhe von 145,49 Euro erbracht. Bei jährlichen
Bruttoeinnahmen in Höhe von 14 921,46 Euro lag die zweiprozentige Belastungsgrenze (§
62 Abs
1 S 2
SGB V) für die Klägerin bei 298,43 Euro, sodass die Zuzahlung in Höhe von 96,05 Euro ungekürzt zu leisten war. Daraus ergibt sich
der jetzt noch geltend gemachte Zahlungsbetrag in Höhe von 664,45 Euro.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG unter Berücksichtigung der Klagerücknahme in der Revisionsinstanz in Höhe der von der Klägerin zu leistenden Zuzahlung.