Anerkennung eines Wegeunfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung; Haftungsbegründende Kausalität beim Aufrichten eines
auf der Seite liegenden Motorrads; Beurteilung der Kausalität zwischen einem Unfallereignis und einem Gesundheitsschaden
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger am 30.6.2009 bei dem Versuch, sein auf der Seite liegendes Motorrad aufzuheben,
einen versicherten Arbeitsunfall erlitten und deswegen Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung
hat.
Der 1963 geborene Kläger ist als Journalist beim Z beschäftigt. Am 30.6.2009 befand er sich mit seinem Motorrad (BMW R 1200
GS - Modell 2008) auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle. Nachdem er von der Autobahn abgefahren war, um einen Verkehrsstau zu
umgehen, wollte er kurz anhalten um dem Büro - im Hinblick auf einen vereinbarten Termin - seine voraussichtliche Verspätung
telefonisch anzukündigen. Er bog dazu von der Landstraße in die Einfahrt zu einem Forstamt ein. Während des Anhaltens geriet
das Motorrad auf dem Schotter-Untergrund ins Rutschen und kippte nach rechts weg. Weil er es nicht mehr halten konnte, legte
er es kontrolliert zur Seite ab. Anschließend versuchte er das auf der Seite liegende - nach Herstellerangaben 229 kg zuzüglich
zwei Seitenkoffern von insgesamt 15 kg schwere - Motorrad mit einer ruckartigen Bewegung wieder aufzurichten, was ihm aber
nicht gelang. Bei dem Anhebeversuch verspürte er einen akuten Schmerz im Rücken, der sich nach seinen Angaben wie ein Schlag
mit einem Gummihammer anfühlte, und legte sich daraufhin auf die Seite ab. Er wurde dort von einem vorbeikommenden Forstamtsmitarbeiter
aufgefunden, der einen Rettungswagen rief, mit dem der Kläger in die Uniklinik M gebracht wurde. Der dortige D-Arzt Prof.
Dr. R diagnostizierte in seinem D-Arzt-Bericht vom 30.6.2009 eine "LWK-5-Fraktur", die in der Folge operativ versorgt wurde.
Der Kläger war wegen dieser Verletzung bis zum 7.9.2009 arbeitsunfähig.
Mit Bescheid vom 24.2.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.9.2010 lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschädigungsleistungen
aus Anlass des Ereignisses vom 30.6.2009 ab, da kein Arbeitsunfall vorliege, sondern das Ereignis lediglich eine Gelegenheitsursache
für die eingetretene LWK-5-Fraktur sei. Die Beklagte stützte sich hierbei auf ein orthopädisches Gutachten von Dr. M vom 2.2.2010.
Der Gutachter hatte einen Zustand nach dorsaler Spondylodese von L4 auf S1 bei LWK-5-Kompressionsfraktur mit keilförmiger
Deformierung sowie eine Osteoporose diagnostiziert. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger mit einer erhöhten Knochenbruchgefährdung
bei vorbestehender Osteoporose in das angeschuldigte Ereignis hineingegangen sei. Es müsse davon ausgegangen werden, dass
kein Unfallereignis vorgelegen habe, das zum Bruch eines gesunden Knochens geführt habe. Vielmehr sei das Unfallereignis eine
Hebebelastung gewesen, die beliebig austauschbar sei, so dass dem angeschuldigten Ereignis für das Auftreten der LWK-5-Fraktur
lediglich der Stellenwert eines Anlassgeschehens bzw. einer Gelegenheitsursache zukomme. Der Gutachter hatte seiner Einschätzung
einen radiologischen Bericht von Dr. S vom 24.9.2009 zugrunde gelegt, nachdem eine selektive Wirbelkörperspongiosadichtemessung
beim Kläger eine Osteopenie an der Grenze zur Osteoporose ergeben hatte. Die Kortikalisdichte hatte schon im Bereich der Osteoporose
gelegen.
Die hiergegen am 29.09.2010 erhobene Klage hat das Sozialgericht Mainz - nach Einholung eines fachorthopädisch-unfallchirurgischen
Gutachtens bei Dr. G vom 12.12.2010 nebst ergänzender Stellungnahme vom 8.1.2012 und eines fachorthopädisch-unfallchirurgischen
Gutachtens (nach Aktenlage) bei Dr. P vom 26.4.2012 nebst ergänzender Stellungnahme vom 25.9.2012 - durch Urteil vom 9.7.2013
(dem Kläger zugestellt am 4.9.2013) abgewiesen. Es hat den Hebevorgang vom 30.6.2009 als Unfallereignis im Sinne einer unfreiwilligen
äußeren Einwirkung qualifiziert, jedoch eine rechtlich wesentliche Verursachung der eingetretenen Fraktur des Lendenwirbelkörpers
verneint: Zwar sei es gerade beim Versuch des Anhebens des Motorrads zu der Fraktur gekommen, so dass der versicherten Tätigkeit
ein gewisser Verursachungsanteil zukomme. Rechtlich wesentlich sei die Fraktur aber auf die vorbestehende (im Vollbeweis gesicherte)
Osteoporose zurückzuführen. Das Sozialgericht stützte diese Einschätzung auf die Feststellungen der gehörten Gutachter Dr.
G und Dr. P, die die durch den Hebeversuch am 30.6.2009 bewirkten Einwirkungen auf den Wirkbelkörper als Gelegenheitsursache
und die unfallunabhängig bestehende Osteoporose als rechtlich wesentliche Ursache für die Fraktur bewerteten. Den Hebeversuch
selbst bewerteten die Gutachter als willentlich gesteuerten Vorgang und verneinten mit dieser Begründung das Vorliegen eines
Unfalls im Sinne eines von außen auf den Körper einwirkenden Ereignisses.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner am 17.9.2013 bei Gericht eingegangenen Berufung. Er ist der Ansicht, das Sozialgericht
habe die entscheidenden Fragestellungen an die gehörten Sachverständigen nicht präzise herausgearbeitet, da es nicht vorgegeben
habe, dass aus Rechtsgründen von einem entschädigungspflichtigen Unfallereignis auszugehen sei. Das Ergebnis des Sozialgerichts
beruhe daher auf einer fehlerhaften Führung des Ermittlungsverfahrens. Anders als die vom Sozialgericht gehörten Gutachter
habe Prof. Dr. P in einem für eine private Versicherung erstatteten Gutachten zutreffend festgestellt, dass am ehesten eine
durch Verhebetrauma verursachte LWK-5-Impressionsfraktur vorliege.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Mainz vom 9.7.2013 den Bescheid der Beklagten vom 24.2.2010 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 2.9.2010 aufzuheben und festzustellen, dass die Fraktur des 5. Lendenwirbelkörpers Folge eines in
der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Arbeitsunfalls vom 30.6.2009 ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält an ihren Entscheidungen fest und verteidigt das angefochtene Urteil des Sozialgerichts. Abweichend vom Urteil des
Sozialgerichts geht sie allerdings weiterhin davon aus, dass kein Unfall im Sinne eines zeitlich begrenzten, von außen auf
den Körper einwirkenden Ereignisses nach §
8 Abs.
1 Satz 2
SGB VII vorliegt.
Der Senat hat auf Antrag des Klägers nach §
109 SGG zunächst ein orthopädisches Fachgutachten von Dr. B vom 3.5.2014 nebst ergänzender Stellungnahme vom 8.10.2014 eingeholt.
Zu dem Gutachten von Dr. B hat der Senat eine Stellungnahme bei Dr. P vom 20.9.2014 eingeholt. Weiter hat der Senat von Amts
wegen ein chirurgisches Sachverständigengutachten bei Dr. B vom 3.12.2014 eingeholt.
Der Kläger hat ein für die A Versicherung AG erstattetes orthopädisches Fachgutachten von Prof. Dr. P vom 6.8.2013 vorgelegt.
Die Beklagte hat beratungsärztliche Stellungnahmen von Dr. H vom 20.12.2013 und vom 12.1.2015 vorgelegt.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Gerichtsakte und die bei Gericht eingereichte Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig, da die Fraktur des 5.
Lendenwirbelkörpers des Klägers rechtlich wesentlich durch dessen Arbeitsunfall vom 30.6.2009 verursacht wurde. Das Urteil
des Sozialgerichts vom 9.7.2013 war daher aufzuheben.
1. Zutreffend hat das Sozialgericht allerdings entschieden, dass es sich bei dem strittigen Ereignis vom 30.6.2009 um einen
Arbeitsunfall im Sinne des §
8 Abs.
1 SGB VII gehandelt hat und damit grundsätzlich, d. h. soweit er zu einem Gesundheitsschaden geführt hat, um einen Versicherungsfall
der gesetzlichen Unfallversicherung.
a) Nach §
8 Abs.
1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; Satz 1). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende
Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Satz 2). Ein Arbeitsunfall eines Versicherten setzt danach
voraus, dass seine Verrichtung zur Zeit des Unfalls einen gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt (innerer
oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis
- geführt (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat
(haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden unmittelbaren oder mittelbaren Unfallfolgen (vgl. hierzu
BSG, Urteil vom 5.7.2011, B 2 U 17/10 R, BSGE 108, 274; SozR 4-2700 § 11 Nr. 1 RdNr. 26 ff.) aufgrund des Gesundheitsschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Tatbestandsvoraussetzung
eines Arbeitsunfalls (vgl. BSG, Urteil vom 4.9.2007 - B 2 U 24/06 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 24 RdNr. 9 mwN).
b) Im vorliegenden Fall sind diese Voraussetzungen erfüllt.
aa) Die Beteiligten ziehen zu Recht übereinstimmend nicht in Zweifel, dass sich das strittige Geschehen am 30.6.2009 bei einer
versicherten Verrichtung ereignete. Denn der Kläger befand sich auf dem Weg zur Arbeit (§
8 Abs.
2 Nr.
4 SGB VII); auch das Verlassen der Straße stand in einem inneren Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit des Klägers, da er dem Büro
- im Hinblick auf einen vereinbarten Termin - telefonisch seine voraussichtliche Verspätung ankündigen wollte.
bb) Es lag aber auch ein von außen auf den Körper einwirkendes und kein vom Kläger willensgesteuertes Ereignis vor: Von außen
auf den Körper des Klägers eingewirkt hat im vorliegenden Fall das Gewicht des Motorrads von insgesamt ca. 245 kg. Dem steht
nicht entgegen, dass der Versuch, das Motorrad anzuheben und wieder aufzurichten vom Willen des Klägers getragen war und der
Kläger eine ungefähre Vorstellung von dessen Gewicht haben musste. Denn der Wille des Klägers bezog sich jedenfalls nicht
auf eine (schädigende) Einwirkung auf seine Wirbelsäule; maßgeblich ist insoweit die Handlungstendenz des Versicherten (so
zu Recht Krasney, NZS 2014, 607, 610 f.). Dass der - sicherlich nicht erfolgversprechende - Versuch, das Motorrad anzuheben unbeabsichtigt zu einer schädlichen
Einwirkung auf die Wirbelsäule führte, entspricht gerade dem Charakteristikum von Unfällen, dass durch - ggf. auch alltägliche
- willensgesteuerte Handlungen unbeabsichtigte Folgen entstehen. Die Sache liegt daher im vorliegenden Fall nicht anders,
als wenn sich ein Versicherter etwa beim Sägen eines Baustamms an der Hand verletzt: Auch hier ist das Führen der Säge gegen
den Baumstamm willensgesteuert, nicht hingegen die unbeabsichtigte Verletzung der Hand. Das Kriterium der Einwirkung von außen
dient demgegenüber der Abgrenzung zu Gesundheitsschäden aufgrund von inneren Ursachen, wie Herzinfarkt, Kreislaufkollaps usw,
die während der versicherten Tätigkeit auftreten, sowie zu vorsätzlichen Selbstschädigungen (BSG v. 12.4.2005 - B 2 U 27/04 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 15 RdNr. 12 = BSGE 94, 269 mwN; BSG v. 29.11.2011 - B 2 U 23/10 R, [...] RdNr. 14 ff.; BSG v. 29.11.2011 - B 2 U 10/11 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 42 RdNr. 16). Diesen Grundsätzen entsprechend hat das BSG einen Unfall im Sinne des §
8 Abs.
1 Satz 2
SGB VII etwa auch bejaht in Bezug auf die Kraftanstrengung beim Anheben eines schweren Grabsteins, die zu einer Hirnblutung geführt
hatte (BSG v. 12.4.2005, a.a.O.).
2. Die Fraktur des 5. Lendenwirbelkörpers des Klägers ist auch rechtlich wesentlich durch die Einwirkungen auf den Körper
des Klägers infolge des Unfalls verursacht worden.
a) Ein Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung bestimmter Gesundheitsschäden - hier der LWK-5-Fraktur - durch die gesetzliche
Unfallversicherung nach den §§
26 ff. des
Siebten Buches Sozialgesetzbuchs (
SGB VII) setzt voraus, dass die Einwirkung und der dadurch verursachte Gesundheitsschaden oder der Tod infolge der Verrichtung einer
versicherten Tätigkeit eingetreten und ihr damit zuzurechnen ist (§
8 Abs.
1 Satz 1
SGB VII). Die Zurechnung eines Schadens zu einem versicherten Ereignis erfordert eine zweistufige Prüfung: Die Verrichtung der versicherten
Tätigkeit muss die Einwirkung und in gleicher Weise muss die Einwirkung den Gesundheitserstschaden oder den Tod sowohl objektiv
(1. Stufe) als auch rechtlich wesentlich (2. Stufe) verursacht haben (BSG v. 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R -, SozR 4-2700 § 8 Nr. 46, Rn. 31 ff.). Auf der ersten Stufe setzt die Zurechnung voraus, dass die Einwirkung durch die versicherte
Verrichtung objektiv verursacht (d. h., zumindest mitverursacht) wurde. Für Einbußen des Verletzten, für welche die versicherte
Tätigkeit keine Wirkursache war, besteht schlechthin kein Versicherungsschutz und hat der Unfallversicherungsträger nicht
einzustehen. Wirkursachen sind nur solche Bedingungen, die erfahrungsgemäß die infrage stehende Wirkung ihrer Art nach notwendig
oder hinreichend herbeiführen. Insoweit ist Ausgangspunkt der Zurechnung die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie,
nach der schon jeder beliebige Umstand als notwendige Bedingung eines Erfolges gilt, der nicht hinweggedacht werden kann,
ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non).
In der gesetzlichen Unfallversicherung muss eine versicherte Verrichtung, die iS der "conditio-Formel" eine erforderliche
Bedingung des Erfolges (stets neben anderen Bedingungen) war, darüber hinaus in einer besonderen tatsächlichen und rechtlichen
Beziehung zu diesem Erfolg stehen (so schon GS RVA v. 26.2.1914, AN 1914, 411 (2690)). Sie muss Wirkursache des Erfolges gewesen
sein, muss ihn tatsächlich mitbewirkt haben und darf nicht nur eine (bloß im Einzelfall nicht wegdenkbare) zufällige Randbedingung
gewesen sein. Ob die versicherte Verrichtung eine Wirkursache für die festgestellte Einwirkung und dadurch für den Gesundheitserstschaden
war, ist eine rein tatsächliche Frage. Sie muss aus der nachträglichen Sicht (ex post) nach dem jeweils neuesten anerkannten
Stand des Fach- und Erfahrungswissens über Kausalbeziehungen (gegebenenfalls unter Einholung von Sachverständigengutachten)
beantwortet werden (BSG v. 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 44).
Steht die versicherte Tätigkeit als eine der Wirkursachen fest, muss auf der zweiten Stufe die Wirkung (hier: die Einwirkung)
rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung
einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr sein. Bei dieser reinen Rechtsfrage
nach der "Wesentlichkeit" der versicherten Verrichtung für den Erfolg der Einwirkung muss entschieden werden, ob sich durch
das versicherte Handeln ein Risiko verwirklicht hat, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz
gewähren soll. Eine Rechtsvermutung dafür, dass die versicherte Verrichtung wegen ihrer objektiven Mitverursachung der Einwirkung
auch rechtlich wesentlich war, besteht nicht. Die Wesentlichkeit der Wirkursache ist vielmehr zusätzlich und eigenständig
nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung zu beurteilen (BSG v. 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R -, SozR 4-2700 § 8 Nr. 46, Rn. 31 ff. mwN; BSG v. 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 44). Die versicherten und die auf der ersten Zurechnungsstufe festgestellten unversicherten Wirkursachen
und ihre Mitwirkungsanteile sind in einer rechtlichen Gesamtbeurteilung anhand des zuvor festgestellten Schutzzwecks des Versicherungstatbestandes
zu bewerten (BSG aaO). Unter Berücksichtigung der Auffassung des praktischen Lebens ist abzuwägen, ob der Schaden den versicherten oder den
unversicherten Wirkursachen zuzurechnen ist (vgl BSG v. 17.2.2009 - B 2 U 18/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 31 Rn. 12 mwN).
b) Auch diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Die Kraftanstrengung bei dem (bei der versicherten Tätigkeit
unternommenen) Versuch, das Motorrad anzuheben, war sowohl objektiv kausal im Sinne einer "condito sine qua non", als auch
rechtlich wesentlich kausal für die Fraktur des 5. Lendenwirbelkörpers des Klägers.
aa) Die objektive Kausalität im Sinne der "conditio sind qua non" wird von den Beteiligten zu Recht übereinstimmend nicht
in Zweifel gezogen. Denn die Wirbelsäulenverletzung wäre - wie sich übereinstimmend auch aus den eingeholten medizinischen
Gutachten ergibt - ohne die Kraftanstrengung des Klägers im Zusammenhang mit dem Versuch des Anhebens des Motorrads am 30.6.2009
jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt eingetreten.
bb) Die Kraftanstrengung war aber auch rechtlich wesentlich kausal für die eingetretene Verletzung (Fraktur des 5. LWK). Die
Versicherung gegen Körperschäden, die durch unfallbedingte Einwirkungen auf einem versicherten Weg eingetreten sind, entspricht
dem Schutzzweck der im vorliegenden Fall einschlägigen Vorschrift (§
8 Abs.
1 und
2 Nr.
3 SGB VII).
(1) Die Vorschädigung der Wirbelsäule des Klägers durch die (von den gehörten Gutachtern übereinstimmend festgestellte) Osteoporose
ist - neben der versicherten Kraftanstrengung - zwar als weitere Wirkursache im Sinne der oben skizzierten Rechtsprechung
des BSG zu berücksichtigen, schließt die Zurechnung des eingetretenen Gesundheitsschadens zur versicherten Tätigkeit aber nicht aus
(vgl. hierzu etwa BSG v. 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 44 RdNr 36). Aufgrund der schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen des im Berufungsverfahren
von Amts wegen gehörten Gutachters Dr. B steht zur Überzeugung des Senats vielmehr fest, dass der unfallbedingten Krafteinwirkung
auf die Wirbelsäule auf Grundlage der aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung die wesentliche verursachende Bedeutung
beizumessen ist. Der Gutachter hat überzeugend dargelegt, dass bei dem Kläger zum Unfallzeitpunkt (nach der vorliegenden Knochendichtemessung
von Dr. S vom 24.9.2009 und der radiologischen Untersuchung des Instituts Dr. v) lediglich eine präklinische Osteoporose (Grad
1) vorgelegten hat, die weder vorausgehend noch nachfolgend durch alltägliche Verrichtungen zu vergleichbaren Verletzungen
geführt hat. Weiter hat er Zeichen eines Kraftbruchs festgestellt und hierbei schlüssig dargelegt, dass im vorliegenden Fall
nicht nur eine Fraktur im Bereich der Deck- und Grundplatte vorliegt, sondern auch der vorderen Begrenzung des Wirbelkörpers
mit deutlicher Verbreiterung. Die auf dieser Grundlage vom Gutachter vorgenommene Einstufung der abrupten und vermehrten Kraftanstrengung
im Zusammenhang mit dem Anhebeversuch als wesentlichen Ursachenbeitrag für den Wirbelbruch befindet sich in Übereinstimmung
mit der veröffentlichten medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung, wie sie in Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall
und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, an den vom Gutachter im Einzelnen zitierten Stellen niedergelegt ist.
Entgegen der Meinung des Prozessbevollmächtigten des Klägers steht der Verwertbarkeit des Gutachten Dr. B und anderen vorliegenden
Gutachten nicht entgegen, dass es das Sozialgericht oder der Senat verabsäumt hätten, den Gutachtern vorzugeben, dass das
Ereignis vom 30.6.2009 die rechtlichen Voraussetzungen eines versicherten Arbeitsunfalls erfüllt. Der Prozessbevollmächtigte
des Klägers wird vielmehr zur Kenntnis nehmen müssen, dass es sich hierbei um eine der (rechtlichen) Streitfragen handelt,
über die der Senat im Urteil (und nicht in einem vorbereitenden Beweisbeschluss) zu entscheiden hat und die für die sachverständige
Beurteilung der Frage, welchen Ursachenbeitrag die durch das Ereignis vom 30.6.2009 bedingte Einwirkung für den Eintritt des
festgestellten Gesundheitsschaden hatte, unerheblich ist. Der Senat sieht sich - trotz der Bedenken des Prozessbevollmächtigten
des Klägers, der glaubt, den Senat an seiner Wahrnehmung einer angeblichen Hilflosigkeit "der Sozialgerichte" bei der Einholung
und Bewertung medizinischer Sachverständigengutachten teilhaben lassen zu müssen - auch nach kritischer Selbstreflektion dazu
in der Lage, die eingeholten Gutachten zu bewerten.
(2) Die gutachtliche Bewertung durch Dr. B nach §
109 SGG (Gutachten vom 8.5.2014) kommt zwar zum gleichen Ergebnis wie das Gutachten von Dr. B, überzeugt den Senat aber nicht. Die
Einschätzung von Dr. B, dass auch ein gesunder Wirbelkörper bei dem Hebeversuch am 30.6.2009 wegen der außergewöhnlichen Gewichtsbelastung
frakturiert worden sei, hat der Gutachter Dr. B nach Ansicht des Senats überzeugend widerlegt - insbesondere unter Hinweis
auf die (von mehreren Gutachtern angesprochenen) Körperschutzmechanismen gegen überlastungsbedingte Körperschädigungen, die
im vorliegenden Fall jedoch wegen der präklinischen Osteoporose nicht greifen konnten. Diese Einschätzung befindet sich in
Übereinstimmung mit den von Dr. B in seinem Gutachten angeführten Zitatstellen aus Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsfall
und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010.
(3) Auch die Bewertungen der Gutachter Dr. M, Dr. G und Dr. P sowie des Beratungsarztes Dr. H haben den Senat nicht davon
überzeugt, dass die Osteoporose an der Wirbelsäule des Klägers als rechtlich wesentliche Wirkursache die Zurechnung der Fraktur
zu der unfallbedingten Kraftanstrengung ausschließt. Auch diese Einschätzungen wurden nach Ansicht des Senats durch die schlüssigen
und überzeugenden Ausführungen des Gutachters Dr. B widerlegt: Dieser hat überzeugend dargelegt, dass die genannten Sachverständigen
nicht nach dem Ausprägungsgrad der Osteoporose differenzieren und deren Einschätzung daher für die Beurteilung der Wesentlichkeit
eines Ursachenbeitrags nicht verwertbar sind.
(4) Der Bewertung von Dr. P vermag sich der Senat nicht anzuschließen, da dieser davon ausgegangen ist, der Vorgang vom 30.6.2009
sei austauschbar mit alltäglichen Verrichtungen, wie z. B. dem Anheben eines schweren Wäschekorbs oder Wasserkastens. Im vorliegenden
Fall hat der Kläger aber versucht, ein ca. 240 kg schweres Motorrad mit einer abrupten Bewegung anzuheben. Dieser Vorgang
kann nach Ansicht des Senats nicht mit dem Anheben eines Wäschekorbs oder Wasserkastens verglichen werden. Die weitere Argumentation
von Dr. P baut aber wesentlich auf dieser Vergleichbarkeit auf.
(5) Auch die Argumentation von Dr. H (beratungsärztliche Stellungnahme vom 12.1.2015) konnte den Senat nicht von der Fehlerhaftigkeit
der gutachtlichen Bewertung von Dr. B überzeugen. Dr. H weist selbst darauf hin, dass eine unfallbedingte Wirbelverletzung
dann angenommen werden kann, wenn eine nicht kontrollierte Belastung plötzlich erfolgt. So lag es aber im vorliegenden Fall:
Der Kläger wollte das Motorrad anheben, schaffte dies aber wegen des zu schweren Gewichts nicht. Er hat den Anhebevorgang
folglich nicht kontrolliert. Anhebevorgänge stellen auch nicht etwa generell kontrollierte Vorgänge dar; vielmehr ist nach
Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO., S. 439 bei Wirbelbrüchen an einer osteoporotisch vorgeschädigten Wirbelsäule nach Hebevorgängen
unter Berücksichtigen von Schwere der unfallbedingten Krafteinwirkung und der Ausprägung der Osteoporose abzuwägen. Der Gutachter
Dr. B hat die für diese Abwägung relevante Tatsachengrundlage schlüssig und überzeugend zusammengetragen. Auf dieser Grundlage
konnte sich der Senat die Überzeugung bilden, dass die unfallbedingte Kraftanstrengung unter Berücksichtigung der lediglich
im Grad 1 osteoporotisch vorgeschädigten Wirbelsäule des Klägers den rechtliche wesentliche Ursachenbeitrag für den Bruch
des 5. Lendenwirbelkörpers gesetzt hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Revisionszulassungsgründe nach §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.