Anerkennung weiterer Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung wegen eines Ghetto-Aufenthalts; Zulässigkeit von
Widerspruch sowie Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen einen Ausführungsbescheid zu einem Anerkenntnis
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung weiterer Beitragszeiten in der Rentenversicherung wegen eines Ghetto-Aufenthalts
der Klägerin.
Die Klägerin ist 1929 in S___________ in Polen geboren. Sie ist jüdischen Glaubens, wanderte im Januar 1947 in die USA aus
und ist US-Staatsbürgerin. Sie ist als Vertriebene nach § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt. In dem Antrag auf
Entschädigung hatte sie am 14. Oktober 1954 erklärt, sie habe in der Zeit vom 15. April 1940 bis 27. Juli 1944 im Ghetto S___________
zugebracht. Anschließend sei sie bis zum 16. Januar 1945 in das Konzentrationslager A________, dann bis zum 20. März 1945
in das Konzentrationslager R__________ und danach bis zum 21. Mai 1945 in das Konzentrationslager Ra____ verbracht worden.
Hierzu hatte die Klägerin Zeugenbestätigungen beigefügt. In einer Aussage vom 16. November 1954 hatte sie ausgeführt, sie
habe im Ghetto S___________ von März 1940 bis Oktober 1942 gelebt, dann sei das Ghetto liquidiert worden. Von Oktober 1942
bis Juli 1944 habe sie im Arbeitslager S___________ zugebracht. Am 27. Juli 1944 sei sie nach Ausschwitz transportiert worden.
Ausweislich einer von der ZRBG-Lenkungsgruppe nach dem Juni 2009 erstellten Liste wurde in S___________ am 1. Januar 1940
ein offenes Ghetto eingerichtet, das am 2. April 1941 in ein geschlossenes Ghetto umgewandelt wurde. Am 29. Oktober 1942 wurde
das Ghetto aufgelöst. Zuvor hatte der Beklagten eine Liste vorgelegen, derzufolge das Ghetto vom 2. April 1941 bis zum 29.
Oktober 1942 bestand, parallel dazu waren danach von den Bewohnern bis Juli 1944 in dem Rüstungsbetrieb und Eisenerzbergwerk
der Hermann-Göring-Werke Zwangsarbeiten verrichtet worden.
Am 6. Oktober 2003 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung der Aufenthaltszeiten
in dem Ghetto. Als Beschäftigungszeitraum gab sie die Zeit von 1940 bis 1942 an. Sie teilte mit, sie habe den Bahnhof reinigen
und Abfall aufsammeln müssen. Hierfür habe sie Entgelt und Verpflegung (marks and food) erhalten. Die Tätigkeit habe ihr der
Judenrat vermittelt. Zum Beweis bezog sie sich auf die Unterlagen des BEG-Verfahrens.
Die Landesversicherungsanstalt Hamburg als Rechtsvorgängerin der Beklagten zog diese Unterlagen bei. Mit Bescheid vom 7. Juli
2005 lehnte sie den Rentenantrag mit der Begründung ab, die Klägerin habe keine Wartezeit für einen Rentenanspruch zurückgelegt.
Die Zeit vom 15. April 1940 bis zum 1. April 1941 könne nicht als Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto anerkannt werden,
weil das Ghetto noch nicht errichtet gewesen sei. Die Zeit vom 2. April 1941 bis zum 29. Oktober 1942 könne nicht als Beschäftigungszeit
anerkannt werden, weil es nicht glaubhaft sei, dass die Klägerin im Kindesalter eine entgeltliche Beschäftigung auf freiwilliger
Basis ausgeübt habe. Mit ihrem Widerspruch vom 1. August 2005 trug die Klägerin zum Zeitraum vom 2. April 1941 bis 29. Oktober
1942 vor, die Beklagte habe auch in anderen Verfahren für jüngere Jahrgänge Beschäftigungszeiten anerkannt. Den Widerspruch
wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. November 2005 zurück. Die dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht
Lübeck (S 20 R 949/05) mit Urteil vom 9. April 2008 ab. In dem darauffolgenden Berufungsverfahren bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht
(L 12 R 165/08) gab die Beklagte am 7. August 2009 ein Anerkenntnis ab und erkannte die Zeit von April 1941 bis Oktober 1942 als Beschäftigungszeit
in einem Ghetto an. Die Klägerin erklärte daraufhin den Rechtsstreit für erledigt.
In Ausführung des Anerkenntnisses vom 7. August 2009 erließ die Beklagte am 26. Januar 2010 den angefochtenen Bescheid, mit
dem sie der Klägerin ab 1. Oktober 2003 eine Regelaltersrente in Höhe von 190,18 EUR und eine Nachzahlung für die Zeit vom
1. Oktober 2003 bis zum 28. Februar 2010 in Höhe von 15.913,27 EUR gewährte. Dagegen legte die Klägerin am 5. Februar 2010
Widerspruch ein, mit dem sie die Zeit vom 15. April 1940 bis 1. April 1941 als weitere Beschäftigungszeit geltend machte.
Sie führte aus, die Beklagte habe in ihrem Anerkenntnis vom 7. August 2009 nur die Zeit ab 2. April 1941 als Beschäftigungszeit
anerkannt, die übrige Zeit sei jedoch auch beantragt worden und Gegenstand des Verwaltungsverfahrens gewesen. Die Rechtsauffassung
über die Eröffnung des Ghettos in S___________ habe sich zwischenzeitlich geändert. Den Widerspruch wies die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 2010 als unzulässig zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Bescheid vom 26. Januar
2010 habe lediglich das Anerkenntnis vom 7. August 2009 ausgeführt. Die Klägerin mache über dieses Anerkenntnis hinaus weitere
Beitragszeiten geltend, da sich die Erkenntnisse über die Eröffnung des Ghettos inzwischen geändert hätten. Ihr Widerspruchsschreiben
solle als Überprüfungsantrag gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) angesehen werden.
Gegen die Entscheidung hat die Klägerin am 28. Dezember 2010 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Zur Begründung hat sie
ausgeführt, das Anerkenntnis der Beklagten habe nur eine verfahrensbeendende und damit prozessrechtliche, jedoch keine materiell-rechtliche
Bindungswirkung gehabt. Es stehe nur einer neuen Klage gegen den alten Bescheid entgegen. Es sei jedoch zulässig, jederzeit
neue Leistungsanträge zu stellen, über die die Beklagte sachlich zu entscheiden habe. Der Amtsermittlungsgrundsatz zwinge
sie dabei, alle aktuellen Kenntnisse in ihre Entscheidung einzubeziehen. Die materielle Wahrheit gebiete die Berücksichtigung
der weiteren Zeiten. Anderenfalls müsse die Beklagte sehenden Auges einen falschen Ausführungsbescheid erlassen. Es sei außerdem
zu berücksichtigen, dass in den Rentenverfahren wegen Beschäftigungen in einem Ghetto entschädigungsrechtliche Rechtsanwendungsgrundsätze
zu berücksichtigen seien. § 1 Abs. 2 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG)
verweise auf das Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) und damit auf einen Schadensausgleich für nationalsozialistisches Unrecht. Auch das BEG diene dem Entschädigungsgedanken.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) habe der Entschädigungsgedanke Vorrang vor der Wahrung des sozialversicherungsrechtlichen Systems. Der Ausgleich des erlittenen
Schadens der Ghettobewohner sei oberster Auslegungsgedanke der übrigen Gesetze. Schon der Bundesgerichtshof (BGH) habe in
seiner früheren Rechtsprechung zum Entschädigungsrecht entsprechend entschieden. Auch in der Literatur sei dieser Grundsatz
anerkannt. Danach sei jede mögliche Auslegung anderer Leistungsgesetze vorzugswürdig, die die Entschädigung vollziehe. Der
Entschädigungsgedanke habe Vorrang vor anderen formalen Bedenken. Der Gesetzgeber habe mit dem grundsätzlichen Rentenbeginn
für die Ghetto-Renten ab 1. Juli 1997 eine Grundsatzentscheidung getroffen.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 26. Januar 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember
2010 zu verurteilen, ihr erhöhte Regelaltersrente unter Anerkennung weiterer Ghetto-Beitragszeiten vom 15. April 1940 bis
zum 1. April 1941 ab dem 1. Oktober 2003 zu gewähren,
ferner die Sprungrevision zuzulassen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen
und sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide bezogen.
Mit Urteil vom 8. August 2012 hat das Sozialgericht Lübeck die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt,
der Ausführungsbescheid treffe keine eigenständige Regelung, weil er lediglich die Ausführung des Anerkenntnisses umsetze
und damit die Regelung wiederhole, die die Beklagte bereits im Anerkenntnis getroffen habe. Der Bescheid regele nichts über
das Anerkenntnis hinaus, weil er sich materiell mit weiteren Beitragszeiten nicht auseinandersetze. Ohne eine Regelung über
die weiteren Zeiten fehle es dem Bescheid an den Voraussetzungen für eine Anfechtung, die zwingende Zulassungsvoraussetzung
einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage sei. Die Klage sei daher unzulässig. Ein Ausführungsbescheid habe ausnahmsweise
dann eine Regelungswirkung, wenn er in Ausführung eines Urteils ergehe, das für die Höhe und Dauer des Leistungsanspruchs
zu unbestimmt sei und daher noch konkretisiert werden müsse. Dies sei bei dem Bescheid vom 26. Januar 2010 nicht der Fall,
da die Beklagte bereits in ihrem Anerkenntnis den Beschäftigungszeitraum angegeben habe. Die nachträglich von der Klägerin
geltend gemachte weitere Beitragszeit werde von dem Bescheid nicht berührt, da der darüber keine Entscheidung treffe. Etwas
anderes würde nur dann gelten, wenn die Klägerin dem Ausführungsbescheid mit dem Argument widersprochen hätte, die zugleich
anerkannten Ersatzzeiten seien fehlerhaft berechnet worden; diese seien aber zwischen den Beteiligten unstreitig. Mit der
Unzulässigkeit der Anfechtungsklage verbinde sich die Unzulässigkeit der unechten Leistungsklage, für die nur dann ein Rechtsschutzbedürfnis
bestehe, wenn über das verfolgte Begehren zuvor eine Verwaltungsentscheidung ergangen sei. Zu Unrecht verweise die Klägerin
auf die vorzugswürdige Auslegung durch Gedanken der Wiedergutmachung und durch entschädigungsrechtliche Elemente. Denn hinsichtlich
des Gegenstandes des Ausführungsbescheides komme eine andere Auslegung nicht in Betracht. Vielmehr enthalte er nach allen
Auslegungsmethoden keine Regelung.
Gegen die ihrem Prozessbevollmächtigten am 4. September 2012 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin,
die am 18. September 2012 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangen ist. Die Klägerin nimmt Bezug auf
ihren Vortrag vor dem Sozialgericht und führt ergänzend aus, die Beklagte habe im vorangegangenen Gerichtsverfahren materiell
lediglich ein Teilanerkenntnis zur Verfahrenserledigung abgegeben. Ihr Anerkenntnis habe nur die Zeit von April 1941 bis Dezember
1942 betroffen. Nach der Rechtsprechung des BSG seien bei einem Streit um höhere Leistungen grundsätzlich alle Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde und der Höhe nach zu prüfen.
Der Ausführungsbescheid habe eine Regelungsfunktion, wenn er nicht nur das Anerkenntnis ausführe, sondern auch die Höhe der
Leistung konkretisiere. Das sei bei dem Bescheid vom 26. Januar 2010 der Fall gewesen. Nach dem Anerkenntnis der Beklagten
in dem vorangegangenen Gerichtsverfahren seien die weiteren geltend gemachten Zeiten streitig geblieben. Das Sozialgericht
habe in seiner Entscheidung den Wiedergutmachungsgedanken völlig außer Acht gelassen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 8. August 2012 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2010 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2010 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, ihr unter Berücksichtigung
der weiteren Beschäftigungszeiten in einem Ghetto von 15. April 1940 bis 1. April 1941 die erhöhte Altersrente ab 1. Juli
1997 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Beklagten, die Verfahrensakte S 20 R 949/05 des Sozialgerichts Lübeck = L 12 R 165/08 sowie die Prozessakte vorgelegen. Zur Ergänzung der Einzelheiten wird darauf Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 8. August 2012 ist zulässig. Insbesondere ist sie
gemäß §
151 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) form- und fristgerecht eingelegt worden. Sie ist aber nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Lübeck ist sachlich
und rechtlich nicht zu beanstanden. Zu Recht hat es entschieden, dass die Klage gegen den Bescheid vom 26. Januar 2010 und
den Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 2010 unzulässig sei. Insbesondere hat es auch zutreffend entschieden, dass bereits
der Widerspruch gegen den Bescheid vom 26. Januar 2010 der Klägerin unzulässig sei.
Die Klägerin wendet sich gegen den Bescheid vom 26. Januar 2010 und den Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 2010 im Wege
der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Deren Voraussetzungen richten sich nach §
54 Abs.
1 Satz 1
SGG. Danach kann durch die Klage die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlass
eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage
setzt danach einen Verwaltungsakt als Verfahrensgegenstand voraus. Ein Verwaltungsakt ist nach § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem
Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Maßgeblich in diesem
Zusammenhang ist die Regelungsfunktion, die nach dieser Begriffsdefinition wesensgemäße Voraussetzung für einen Verwaltungsakt
ist (Waschull in Diering/Timme/Waschull, Sozialgesetzbuch X 3. Aufl. 2011, § 31 Rdn. 27). Solange eine solche Regelung in diesem Sinne nicht getroffen ist, ist eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage
im Sinne des §
54 Abs.
1 Satz 1
SGG nicht zulässig.
An diesen Voraussetzungen fehlt es bei dem Bescheid vom 26. Januar 2010. Denn er führt lediglich das von der Klägerin angenommene
Anerkenntnis der Beklagten vom 7. August 2009 in dem Verfahren L 12 R 165/08 aus. Klagen gegen Bescheide sind unzulässig, soweit diese lediglich Gerichtsentscheidungen oder abgegebene Anerkenntnisse
ausführen, ohne selbst eine Regelung über den bereits in dem Urteil oder in dem Anerkenntnis erfolgten Entscheidungsgegenstand
hinaus zu treffen (BSG vom 21. Oktober 1998 - B 6 KA 65/97 R - SozR §-2500 § 85 Nr. 27; BSG vom 18. September 2003 - B 9 V 82/02 B - [...]). Denn die Rechtslage wurde in einem derartigen Fall bereits durch das Urteil oder durch das abgegebene Anerkenntnis
gestaltet. Der Ausführungsbescheid vollzieht diese Rechtsgestaltung lediglich nach.
Der Bescheid vom 26. Januar 2010 ist ein Ausführungsbescheid in diesem vorbezeichneten Sinne. Maßgeblich für seine Qualifikation
sind die von den Beteiligten in dem Verfahren L 12 R 165/08 abgegebenen Erklärungen. Hierbei handelte es sich um Prozesserklärungen, deren Inhalt nach den Grundsätzen des §
133 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) auszulegen sind (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl. 2014, Vor §
60 Rz. 11a). Prozesserklärungen sind danach in prozessualem Rahmen abgegebene Willenserklärungen im Sinne des
BGB. Der Inhalt dieser Erklärungen ist so auszulegen, wie der Empfänger ihn nach den gesamten Umständen des Einzelfalls verstehen
musste. Dabei sind alle Umstände zu beachten, insbesondere der Wortlaut der Erklärungen, die sonstigen Schriftsätze, vorher
zu Protokoll gegebene Erklärungen und Verwaltungsvorgänge (Keller, a.a.O., unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des
BSG, BGH und BVerwG). Die Auslegung ist nicht wortlautgetreu vorzunehmen, hat jedoch die Grundsätze des Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz zu beachten. Unter Anwendung dieser Grundsätze ist das Anerkenntnis der Beklagten in dem Verfahren L 12 R 165/08 vom 7. August 2009 dahingehend auszulegen, dass sie den Rechtsstreit in vollem Umfang beenden und den Streitstoff insgesamt
durch das Anerkenntnis erfassen wollte. Darauf deutet insbesondere die Übernahme der vollständigen Verfahrenskosten dem Grunde
nach durch die Beklagte hin. Von einer Fortführung des Verfahrens L 12 R 165/08 war in dem Anerkenntnis nicht die Rede. Das Anerkenntnis der Beklagten ist danach nach vernünftigen Auslegungsgrundsätzen
so auszulegen, dass der Rechtsstreit nicht hinsichtlich weiterer Verfahrensgegenstände fortgeführt werden sollte. So muss
auch die Klägerin die Erklärung verstanden haben, die in ihrer Erklärung am 20. August 2009 ausgeführt hat, der Rechtsstreit
werde "aufgrund des Anerkenntnisses der Beklagten für erledigt erklärt". Auch sie hat keine teilweise Erledigungserklärung
erwähnt. Somit durfte weder die Klägerin aufgrund der Erklärung der Beklagten noch die Beklagte aufgrund der Erklärung der
Klägerin davon ausgehen, dass wegen weiterer geltend gemachter Zeiten der Rechtsstreit fortgeführt werden solle. Auch in der
Folgezeit ist die Klägerin offensichtlich nicht davon ausgegangen, denn sie hat das Verfahren L 12 R 165/08 abgerechnet, nicht jedoch auf eine Fortsetzung des Verfahrens gedrängt. Dies wäre jedoch konsequente Folge gewesen, wenn
sie ihrerseits von einer Fortsetzung des Rechtsstreits wegen der weiteren Beschäftigungszeit vom 15. April 1940 bis 1. April
1941 als weiterem - noch nicht erledigtem - Verfahrensgegenstand ausgegangen wäre. Allerdings setzt die Erledigung des Rechtsstreits
regelmäßig die übereinstimmende Erklärung der Erledigung in der Hauptsache voraus (Keller, a.a.O., § 125 Rdn. 7). In gleicher
Weise erledigt nicht die Abgabe einer Anerkenntniserklärung, sondern gemäß §
101 Abs.
2 SGG nur das angenommene Anerkenntnis des geltend gemachten Anspruchs den Rechtsstreit in der Hauptsache. Das bedeutet, dass zwei
korrespondierende Erklärungen sowohl für den Fall der Erledigungserklärung als auch für den Fall des Anerkenntnisses vorliegen
müssen. Streng genommen fehlt es in dem Rechtsstreit L 12 R 165/08 an zwei derartigen korrespondierenden Erklärungen, jedoch ist nach dem regelrechten Verständnis davon auszugehen, dass die
Beklagte bei Abgabe ihres Anerkenntnisses vom 7. August 2009 davon ausging, dass mit der Annahme des Anerkenntnisses der Rechtsstreit
erledigt sei. Ebenso ist die Erklärung der Klägerin vom 20. August 2009 so auszulegen, dass sie das abgegebene Anerkenntnis
annehme. Jedenfalls das dargestellte Verhalten beider Verfahrensbeteiligter deutet darauf hin, dass sie von einer derartigen
Erledigungswirkung ihrer Erklärungen ausgegangen waren. Daher ist davon auszugehen, dass der Rechtsstreit L 12 R 165/08 tatsächlich erledigt war.
Angesichts dessen ist es unerheblich, ob die geltend gemachte Zeit vom 15. April 1940 bis 1. April 1941 überhaupt Gegenstand
des Verfahrens L 12 R 165/08 gewesen ist. Zweifel daran können bereits deshalb aufkommen, weil die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 1. August 2005 gegen
den Bescheid vom 7. Juli 2005 lediglich auf eine Versicherungszeit vom 2. April 1941 bis zum 29. Oktober 1942 Bezug genommen
hat.
Die Beklagte hat mit dem angefochtenen Bescheid vom 26. Januar 2010 das Anerkenntnis vom 7. August 2009 ausgeführt, soweit
es die Zeiträume der Beschäftigung in einem Ghetto betraf. Insoweit besteht Identität zwischen der Anerkenntniserklärung der
Beklagten und den im angefochtenen Bescheid zuerkannten Zeiten. Nach der Rechtsprechung des BSG (a.a.O.) kann ein Bescheid auch in derartigen Fällen der Ausführung eines Anerkenntnisses Regelungswirkung entfalten, wenn
er eine Aussage über weitere Tatbestände trifft, die noch nicht in dem Anerkenntnis - Gleiches gilt für die Ausführung eines
Urteils - geregelt waren, beispielsweise wenn es um die Bewertung der anerkannten Zeiten oder die Berechnung einer daraus
folgenden Rente geht. Um eine derartige Regelung geht es der Klägerin in diesem Verfahren jedoch nicht, vielmehr wendet sie
sich allein gegen den Umfang der anerkannten Versicherungszeiten. Damit fehlt es dem Bescheid an einer Regelung.
Die gleichen Grundsätze, die für die Zulässigkeit einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage im Sinne des §
54 Abs.
1 Satz 1
SGG gelten, gelten auch für die Erhebung eines Widerspruchs. Denn gemäß §
78 Abs.
1 Satz 1
SGG sind vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen.
Das Vorverfahren geht einer Anfechtungsklage und gemäß §
78 Abs.
3 SGG einer Verpflichtungsklage als zwingende Verfahrensvoraussetzung voraus. Dieselben Zulässigkeitsanforderungen dieser beiden
Klagearten gelten daher auch für das Widerspruchsverfahren.
Entgegen der Auffassung der Klägerin ist es nicht zulässig, im Rahmen des Widerspruchsverfahrens weitere Streitgegenstände
einzubringen, die noch nicht Gegenstand des angefochtenen Verwaltungsbescheides waren (BSG vom 30. März 2004 - B 4 RA 48/01 R, [...]). Denn eine Widerspruchsbehörde ist funktional und sachlich unzuständig, anstelle der Ausgangsbehörde über ein erstmals
im Widerspruchsverfahren geltend gemachtes Begehren "erstinstanzlich" zu entscheiden. Dies wäre ein Verfahrensfehler im Sinne
der §§ 62 Halbsatz 2 und 42 Satz 1 SGB X (BSG vom 23. Juni 1994 - 4 RK 3/93, SozR 3-1500 § 87 Nr. 1). Insbesondere ein Ausführungsbescheid kann danach mit dem Widerspruch nur insoweit angegriffen werden, als es um die
richtige Ausführung des angenommenen Anerkenntnisses geht, nicht aber mit zur Begründung eingebrachten weiteren Verfahrensgegenständen.
Diese Verfahrensgrundsätze sind auch in Entschädigungsverfahren, insbesondere in Verfahren über Ansprüche im Sinne des § 1
ZRBG anwendbar. Es würde einen Verstoß gegen zwingendes Gesetzesrecht und damit einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsgebot
des Art.
20 Abs.
3 Grundgesetz bedeuten, wenn eine Verwaltung oder ein Gericht von ihnen abweichen würde. Zwar ist nicht zu verkennen, dass dem ZRBG infolge
seines Verweises in § 1 Abs. 2 auf das WGSVG entschädigungsrechtliche Elemente enthalten sind. Zum Verfolgtengesetz - dem Vorgängergesetz zum WGSVG - und zu dessen Anwendungsgrundsätzen hat das BSG mit Urteil vom 26. Juni 1959 - 1 RA 118/57, BSGE 10, S. 113) ausgeführt: "Das Verfolgtengesetz ist zwar als eine Ergänzung zu den Sozialversicherungsgesetzen erlassen
worden, so dass die Schlussfolgerung der Beklagten naheliegt; es gehört ideenmäßig und inhaltlich aber mit zu jenen Gesetzen,
die der Wiedergutmachung des durch nationalsozialistische Verfolgungen erlittenen Unrechts dienen. Es ist heute ein wesentlicher
Bestandteil des Entschädigungsrechts. Das BEG vom 29. Juni 1956 sieht bei der Regelung von Schäden, die im beruflichen und
wirtschaftlichen Fortkommen und in der Alterssicherung eingetreten sind, von eigenen Vorschriften für Schäden in der Sozialversicherung
ab und weist stattdessen ausdrücklich auf das Verfolgtengesetz hin (§§ 5, 138 BEG). Die dem Entschädigungsrecht zugrunde liegenden
allgemeinen Gedanken müssen deshalb die Auslegung des Verfolgtengesetzes bestimmen. Bei diesem Gesetz gebührt dem Prinzip
der Wiedergutmachung der Vorrang gegenüber dem Grundsatz der Wahrung des sozialversicherungsrechtlichen Systems". Der Bundesgerichtshof
hat im Urteil vom 22. Februar 2001 (IX ZR 113/00, BGH-Report 2001, 372) ausgeführt: "Gleichwohl ist bei der Handhabung der Vorschrift dem mit ihr verfolgten Zweck im Rahmen
des Möglichen weitestgehend Rechnung zu tragen. Dies ist umso mehr geboten, als sich nach der Erfahrung des Senats die Regelung
des § 35 Abs. 2 BEG unterdessen einseitig zu Lasten der Verfolgten auswirkt. Der Zweck der Entschädigungsgesetzgebung geht
dahin, das zugefügte Unrecht sobald und soweit wie irgend möglich wiedergutzumachen. Der Senat hat deshalb wiederholt betont,
dass eine Gesetzesauslegung, die möglich ist und diesem Ziel entspricht, den Vorzug gegenüber jeder anderen Auslegung verdient,
die die Wiedergutmachung erschwert oder zunichte macht".
Beide Entscheidungen betonen folglich, dass der Entschädigungsgedanke und das mit dem Gesetzeszweck verfolgte Ziel, die Folgen
des nationalsozialistischen Unrechts für die Betroffenen auszugleichen oder zu mindern, hochrangiges oder oberstes Ziel bei
der Auslegung im Rahmen der Gesetzesanwendung ist. Mit der Vorgabe dieses Rahmens ist aber auch die Grenze für den Entschädigungsgedanken
gezogen. Diese liegt dort, wo eine Gesetzesauslegung überschritten und neues normatives Recht geschaffen würde. Der BGH betont
ausdrücklich, dass die Auslegung möglich sein müsse. Auch das BSG führt aus, dass der Gesetzeszweck im Wege der Gesetzesauslegung verfolgt werden müsse. Dies bedeutet zugleich, dass die allgemeinen
Auslegungsgrundsätze beachtet werden müssen. Keinesfalls kann der Entschädigungsgedanke jedoch dahin gehen, dass gegen Gesetzesrecht
verstoßen wird. Dies gilt umso mehr, wenn es sich bei diesem Gesetzesrecht um althergebrachte Verfahrensgrundsätze handelt.
Dem entspricht auch die neuere Rechtsprechung des BSG zum ZRBG, insbesondere zur Frage der Anwendbarkeit des § 44 Abs. 4 SGB X und dort der Grenzen der infolge einer Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts gemäß § 44 Abs. 4 SGB X nachzuzahlenden Leistungen (Urteil vom 7. Februar 2012 - B 13 R 40/11 R, SozR 4-5075 § 3 Nr. 2; Urteil vom 10. Dezember 2013 - B 13 R 63/11 R, [...]). Trotz des Bezuges zum ZRBG hat dort das BSG die zwingende Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X den Anspruch begrenzend ausgelegt und dies unter Heranziehung höherrangigen Rechts begründet. Die von der Klägerin ergänzend
zur Begründung herangezogenen Auslegungsgrundsätze führen daher nicht zu einem weitergehenden Anspruch. Der Senat folgt dieser
Rechtsprechung und hält auch in Verfahren mit entschädigungsrechtlichem Inhalt die zwingenden prozessrechtlichen Vorschriften
für vorrangig gegenüber der Durchsetzung des materiellen Anspruchs.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.