Verfassungsmäßigkeit des abgesenkten Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die dem Kläger bewilligte Rente wegen Erwerbsminderung mit dem ungeminderten Zugangsfaktor
von 1,0 oder mit einem Zugangsfaktor von 0,892 - das bedeutet einen "Abschlag" von 10,8 % - zu berechnen ist.
Die Beklagte bewilligte dem am .2.1952 geborenen Kläger mit Bescheid vom 9.6.2005 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung
mit Wirkung vom 1.7.2004. Laut Anlage 6 des Bescheids wurde der Zugangsfaktor von 1,0 um 0,108 auf 0,892 vermindert; der Rentenberechnung
wurden dementsprechend an Stelle von 50,2611 persönlichen Entgeltpunkten (EP) nur 44,8329 EP zu Grunde gelegt. Dies hatte
eine Absenkung der Rentenhöhe um 10,8 % zur Folge, wodurch sich ab 1.7.2004 ein monatlicher Zahlbetrag von 585,74 Euro (brutto)
ergab.
Zugleich wurde im Versicherungsverlauf eine Zurechnungszeit von insgesamt 96 Monaten vom Eintritt der Erwerbsminderung am
18.2.2004 bis zum Tag vor Vollendung des 60. Lebensjahres am .2.2012 berücksichtigt. Diese Berechnungselemente legte die Beklagte
auch der im Widerspruchsverfahren mit Bescheid vom 18.5.2006 für die Zeit vom 1.9.2004 bis 31.8.2007 bewilligten Rente wegen
voller Erwerbsminderung zugrunde (Bruttobetrag zunächst 1171,48 Euro). Nach Zurückweisung des Widerspruchs mit Bescheid vom
14.9.2006 begehrte der Kläger im Klageverfahren zuletzt nur noch die Berechnung seiner Renten mit dem ungeminderten Zugangsfaktor
von 1,0 und berief sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R = BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3).
Das Sozialgericht Aachen (SG) hat die Klage mit Urteil vom 9.2.2007 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Entscheidung des
BSG vom 16.5.2006 stehe im Widerspruch zur unbestrittenen Auffassung in der gesamten Rentenliteratur. Die Regelung des §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) über die Höhe des Zugangsfaktors bei einer Rente wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 63. Lebensjahrs sei für sich
genommen zwar nicht ausreichend, da sie bei isolierter Anwendung zur Folge haben könne, dass der Zugangsfaktor auf null absinke
und deshalb keine Rente zu bewilligen sei. §
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI regele aber eine Begrenzung der Absenkung des Zugangsfaktors um maximal 10,8 % (36 Kalendermonate x 0,003 = 0,108). Im Hinblick
auf diese maximale Absenkung des Zugangsfaktors bestimme §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI, dass die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen
Inanspruchnahme gelte. Diese Regelungsabsicht werde durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Mit dem Gesetz zur Reform der
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (RRErwerbG) vom 20.12.2000 (BGBl I 1827) sei eine Anpassung der Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten beabsichtigt gewesen. Der Gesetzgeber habe
damit Ausweichreaktionen entgegenwirken wollen, die im Hinblick auf Abschläge bei vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten
zu befürchten gewesen seien. Übergeordnetes Ziel sei gewesen, Vorteile eines längeren Rentenbezugs durch einen verminderten
Zugangsfaktor auszugleichen (Bezugnahme auf BT-Drucks 14/4230 S 26 zu Nr 16). Der Gesetzesbegründung sei nicht zu entnehmen,
dass ein verminderter Zugangsfaktor lediglich für Versicherte gelten solle, die das 60. Lebensjahr vollendet hätten. Zudem
sei das Ergebnis der Rechtsprechung des BSG nicht mit der zeitgleich ab 1.1.2001 eingeführten Verlängerung der Zurechnungszeit
zu vereinbaren. Durch die Verlängerung der Zurechnungszeit habe der Gesetzgeber die Auswirkungen der Verminderung des Zugangsfaktors
abmildern wollen. Es sei nicht möglich, einen Teil des Regelungskomplexes für verfassungswidrig zu erklären und den anderen
(begünstigenden) Teil unangetastet zu lassen. Dies habe zur Folge, dass an Stelle einer Verminderung der vorzeitig in Anspruch
genommenen Erwerbsminderungsrenten deren Erhöhung eintrete. Die von der Beklagten angewandte Verwaltungspraxis sei verfassungsgemäß,
sodass eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht geboten sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom SG nachträglich zugelassene Sprungrevision des Klägers.
Er rügt eine Verletzung von §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
3, Satz 2 und 3
SGB VI. Das SG habe verkannt, dass der Gesetzgeber bei der Bestimmung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten eine Altersober- und
Altersuntergrenze eingeführt habe. Die Bestimmung in §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
3 SGB VI markiere die Altersobergrenze der Personengruppe der Erwerbsminderungsrentner, die einen Abschlag des Zugangsfaktors hinnehmen
müssten. §
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI bestimme sodann die Altersuntergrenze für die Maßgeblichkeit des Zugangsfaktors und lege diese auf die Vollendung des 60.
Lebensjahres fest. Ohne die gesetzliche Anordnung der Altersuntergrenze ergäbe sich bei ihm ein Zugangsfaktor von 0,378 (=
126 Kalendermonate x 0,003); bei noch jüngeren Erwerbsminderungsrentnern könne der Zugangsfaktor auf null absinken. Um dies
zu vermeiden sei in §
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI eine Untergrenze für den Rentenabschlag für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres normiert worden. Dafür spreche
auch die Regelung des §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI, wonach Bezugszeiten einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht als Zeiten einer vorzeitigen
Renteninanspruchnahme zu behandeln seien. Der Regelung des §
77 Abs
3 Satz 3 Nr
2 SGB VI sei zu entnehmen, dass das Gesetz nur zwischen der Altersuntergrenze ab Vollendung des 60. Lebensjahres und der Altersobergrenze
ab Vollendung des 63. Lebensjahres einen Abschlag wegen vorzeitiger Inanspruchnahme eingeführt habe. Dieses Normverständnis
werde zudem durch die Entstehungsgeschichte und den darin dokumentierten Gesetzgebungswillen bestätigt. Die Ansicht des SG, wonach Vorteile eines längeren Rentenbezugs durch einen verminderten Zugangsfaktor individuell auszugleichen seien, finde
in den Gesetzesmaterialien keine Grundlage. Die Verlängerung der Zurechnungszeiten unter Beibehaltung eines Zugangsfaktors
von 1,0 führe zudem nicht zu einem ungerechtfertigten Vorteil, sondern diene der teilweisen Kompensation dafür, dass durch
den vollständigen Verlust der Erwerbsfähigkeit ein zusätzlicher Rentenschaden für seine Altersrente entstehe.
Eine Minderung des Zugangsfaktors würde ihn in seinem Grundrecht aus Art
14 Abs
1 GG verletzen, denn ihm stehe ohne den vorzeitigen Rentenbeginn eine Vollerwerbsminderungsrente in Höhe von 1.313,32 Euro (50,2611
EP x 1 x 26,13 Euro) zu; stattdessen erhalte er nur 1.171,48 Euro. Es ergebe sich mithin ein monatlicher Fehlbetrag von 141,84
Euro. Auf Grund des im Wesentlichen durch Pflichtbeiträge geprägten gesetzlichen Rentenversicherungsverhältnisses und des
Systemversprechens, hieraus bei Invalidität oder bei Erreichen der Regelaltersgrenze Leistungszusagen zu gewähren, die einen
Lebensstandard über Sozialhilfeniveau garantierten, müsse der Eingriff auf Grund einer Gesetzesnorm in eigentumsrechtlich
geschützte Rentenanwartschaften den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Zulässigkeit einer unechten Rückwirkung genügen.
Diese Grenze sei hier wegen des großen zeitlichen Zwischenraums zwischen Erwerb von Rentenanwartschaften mit Beginn der beitragsbegründenden
Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung im April 1969 und dem Eintritt des Versicherungsfalls der vollen Erwerbsminderung
im Februar 2004 überschritten. Er habe jetzt keine Möglichkeit mehr, die Lücke durch eine private Kapitalvorsorge zu schließen.
Der Rentenabschlag verletze außerdem Art
3 Abs
1 GG. Eine Gleichbehandlung derjenigen Versichertengruppe, die ab Vollendung des 60. Lebensjahres auf Grund ihrer Wahl freiwillig
eine Altersrente in Anspruch nehme, mit dem Kläger, der unfreiwillig seine Erwerbsfähigkeit verloren habe, sei nicht zu rechtfertigen.
Daneben habe das Gesetz Belastungsungleichheiten zur Folge, weil nicht nur die Erwerbsminderungsrente, sondern auch die zu
erwartende Altersrente gekürzt werde. Dieser Nachteil habe einen Kapitalwert von nahezu 10.000 Euro; anders als §
187a SGB VI für den Fall der vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente eröffne das Gesetz Erwerbsminderungsrentnern nicht die Möglichkeit,
durch Beitragszahlungen den Nachteil bei der Altersrente zu kompensieren. Schließlich liege auch eine Verletzung des Art
3 Abs
3 GG vor. Die Minderung des Zugangsfaktors bewirke eine mittelbare Benachteiligung des Klägers wegen seiner krankheitsbedingten
Behinderung.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 9. Februar 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 9.
Juni 2005 und 18. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. September 2006 zu verurteilen, dem Kläger vom
1. Juli bis 31. August 2004 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung sowie vom 1. September 2004 bis zum 31. August 2007 Rente
wegen voller Erwerbsminderung jeweils unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors von 1,0 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Der Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 16.5.2006 sei nicht zu folgen. Entgegen der Ansicht des 4. Senats stelle §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI keine inhaltsleere Regelung dar, sondern sei eine notwendige Ergänzung zu §
77 Abs
3 SGB VI. Die isolierte Berücksichtigung der Verlängerung der Zurechnungszeit ohne Absenkung des Zugangsfaktors bedeute eine Überkompensation,
die in den Gesetzesmaterialien keine Grundlage finde. Eine Rentenkürzung erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres, ohne dass
sonst eine Veränderung in den Verhältnissen eingetreten wäre, stehe im deutlichen Widerspruch zu §
88 Abs
1 SGB VI, der einen umfassenden Besitzschutz für Folgerenten gewährleiste. Im Übrigen genüge der Eingriff in den Eigentumsschutz den
Grenzen einer Inhalts- und Schrankenbestimmung iS des Art
14 Abs
1 Satz 2
GG.
II. Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf höhere Rente hat. Darin liegt nach Überzeugung des Senats
keine Grundrechtsverletzung.
Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich gemäß §
63 Abs
6, §
64 Nr
1 bis
3 SGB VI, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen EP, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert
mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden.
Der Zugangsfaktor ist ein Berechnungselement der persönlichen EP, dessen Höhe in §
77 SGB VI näher geregelt ist, hier in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen
Rentenversicherung vom 21.7.2004 (RV-Nachhaltigkeitsgesetz - BGBl I 1791; zur Gesetzesentwicklung Blüggel in Wannagat,
SGB VI, §
77 RdNr 6 f, Stand 7/2007; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, §
77 SGB VI RdNr 1 ff, Stand 12/2005). Danach richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei
Tod und bestimmt, ob die vom Versicherten während des Erwerbslebens erzielten EP in vollem Umfang oder nur zu einem Anteil
bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche EP zu berücksichtigen sind. Der Zugangsfaktor ist für EP, die
noch nicht Grundlage von persönlichen EP einer Rente waren, gemäß §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
3 SGB VI bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf
des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0.
So liegt der Fall beim Kläger. Er bezieht eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres,
denn zum Zeitpunkt des Beginns der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung am 1.7.2004 hatte der im Februar 1952 geborene
Kläger erst das 52. Lebensjahr vollendet (zur Auslegung des Begriffs "Rentenbeginn" im Sinne des Rentenzahlbeginns Senatsbeschluss
vom 17.4.2007 - B 5 RJ 15/04 R, unveröffentlicht; BSG SozR 3-2600 § 71 Nr 2).
Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, so bestimmt §
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die "Bestimmung des Zugangsfaktors" maßgebend ist. Davon abweichend regelt
§
264c SGB VI (idF der Bekanntmachung vom 19.2.2002, BGBl I 754; zur Neufassung ab dem 1.1.2008 Art 1 Nr 72 des Gesetzes zur Anpassung
der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung
= RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007, BGBl I 554), dass bei der Ermittlung des Zugangsfaktors an Stelle der Vollendung
des 60. Lebensjahres die Vollendung des in Anlage 23 zum
SGB VI (in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung; zur Aufhebung der Anlage 23 ab dem 1.1.2008 Art 1 Nr 83 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes)
angegebenen Lebensalters maßgebend ist, wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1.1.2004 beginnt. Die
Voraussetzungen dieser Übergangsvorschrift liegen beim Kläger nicht vor, da seine Rente erst am 1.7.2004, dh nach dem genannten
Stichtag begann.
§
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI (ggf iVm §
264c SGB VI und der Anlage 23 zum
SGB VI in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung) ist als Berechnungsregel zur Umsetzung der allgemeinen Grundsätze zur Rentenhöhe
iS des §
63 Abs
5 iVm §
64 Nr
1 SGB VI zu verstehen (so auch stellvertretend: Bredt, NZS 2007, 193; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, §
77 SGB VI RdNr 1, Stand 12/2005; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB, §
77 SGB VI Anm 1, Stand 5/2005; Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
77 RdNr 4, Stand 2/2002). Im Ergebnis ist der Zugangsfaktor bei Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
vor Vollendung des 60. Lebensjahres um maximal 0,108 zu mindern und somit auf mindestens 0,892 festzulegen. Dafür sprechen
Wortlaut und systematische Stellung des §
77 SGB VI wie auch Sinn und Zweck, systematischer Gesamtzusammenhang und Entstehungsgeschichte der Norm.
Indem die Grundregel des §
77 Abs
1 SGB VI für die Rentenberechnung zum einen das Alter des Versicherten bei Rentenbeginn oder Tod für maßgebend erklärt und zum anderen
das rechnerische Verhältnis zwischen EP und persönlichen EP festlegt, bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass der Zugangsfaktor
und somit die nach §
77 Abs
2,
3 SGB VI zu ermittelnden "Abschläge" oder "Zuschläge" für die gesamte Dauer des ununterbrochenen Rentenbezugs gelten sollen (vgl BSG
vom 28.10.2004 - B 4 RA 42/02 R - Juris RdNr 281 ff; Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
77 RdNr 10, Stand 2/2002; Blüggel in Wannagat, SGB, §
77 SGB VI RdNr 18, Stand 7/2007; Ohsmann/Stolz/Thiede, DAngVers 2003, 171). Falls dieselben EP einer weiteren Rente zu Grunde zu legen
sind, ist durch §
77 Abs
2 Satz 1 Halbsatz 1
SGB VI eine erneute Ermittlung des Zugangsfaktors grundsätzlich ausgeschlossen (vgl auch §
77 Abs
3 Satz 1
SGB VI).
§
77 Abs
2 Satz 1 Nr
3 SGB VI bestimmt die Höhe des Zugangsfaktors für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Danach sinkt der Zugangsfaktor von 1,0
um 0,003 für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in
Anspruch genommen wird. Ein Rentenbeginn nach dem 63. Lebensjahr hat somit keine Absenkung des Zugangsfaktors zur Folge. Ein
sehr früher Rentenbeginn würde demgegenüber bei isolierter Anwendung des §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
3 SGB VI zu einer Absenkung des Zugangsfaktors auf null führen. Zur Vermeidung dieses Ergebnisses ergänzt §
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI die genannte Vorschrift dahingehend, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend
sein soll, wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente bereits vor der Vollendung des 60.
Lebensjahres beginnt. Bei jüngeren erwerbsgeminderten Versicherten wird hinsichtlich des Zugangsfaktors so getan, als habe
der Versicherte das 60. Lebensjahr bereits vollendet. Entgegen der Grundregel des §
77 Abs
1 SGB VI, wonach sich der Zugangsfaktor nach dem (tatsächlichen) Alter des Versicherten bei Rentenbeginn bestimmt, ordnet das Gesetz
eine Rentenberechnung unter der (fiktiven) Annahme an, der Versicherte habe das 60. Lebensjahr bereits vollendet, um auf diese
Weise die Minderung des Zugangsfaktors entsprechend der 36 Monate zwischen dem vollendeten 60. und dem vollendeten 63. Lebensjahr
auf maximal 36 x 0,003 = 0,108 zu begrenzen (so auch Ruland, NJW 2007, 2087; Mey, RVaktuell 2007, 46; Bredt, NZS 2007, 194; Blüggel in Wannagat, SGB, §
77 SGB VI RdNr 28, Stand 7/2007; Kreikebohm in BeckOK, §
77 SGB VI RdNr 5, Stand 9/2007; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB, §
77 SGB VI Anm 3b, Stand 5/2005; Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
77 RdNr 28, Stand 2/2002; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, §
77 SGB VI RdNr 16, Stand 12/2005; Polster in Kasseler Kommentar, §
77 SGB VI RdNr 12, Stand 9/2006). Eine zusätzliche Herabsetzung des Zugangsfaktors mit Rücksicht auf eine tatsächliche Inanspruchnahme
der Erwerbsminderungsrente vor der Vollendung des 60. Lebensjahres ist ausgeschlossen. Dass es bei der Bezugnahme auf das
60. Lebensjahr des Versicherten um eine Fiktion für die Bestimmung des Zugangsfaktors und nicht etwa um die Festlegung des
Beginns der Rentenminderung geht, wird insbesondere daran deutlich, dass dieselbe Vorschrift auch bei der Hinterbliebenenrente
auf die Vollendung des 60. Lebensjahres abstellt, um die Höhe des Zugangsfaktors zu bestimmen. Andernfalls müsste dem Gesetz
unterstellt werden, es wolle die Rentenhöhe für den Zeitraum regeln, nachdem der verstorbene Versicherte das genannte Lebensalter
erreicht haben würde.
§
77 Abs
2 Satz 2 und
3 SGB VI dient für die aktuell zu berechnende Rente ausschließlich der Bestimmung eines einheitlichen Zugangsfaktors für die gesamte
Zeit des Rentenbezugs und nicht etwa eines variablen Zugangsfaktors in Abhängigkeit von verschiedenen Bezugszeiträumen.
Das auf einer möglichen "Vorzeitigkeit" der Rente wegen Erwerbsminderung beruhende gegenteilige Konzept des 4. Senats des
BSG (BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3, jeweils RdNr 22 f) findet im Gesetz keine Stütze. Eine "vorzeitige" Inanspruchnahme einer Rente
wegen Erwerbsminderung im Sinne einer freien Entscheidung des Versicherten, vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu
wollen, ist nicht möglich, da der Leistungsfall (Eintritt der Erwerbsminderung) in der Regel unabhängig vom Willen des Versicherten
eintritt (vgl insoweit auch die Kritik des DGB und des VdK im Rahmen der 57. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
am 20.10.2000, Prot 14/57 S 18, 26). Streng genommen kann somit in Bezug auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
nicht von einer vorzeitigen, sondern allenfalls von einer früheren oder späteren Inanspruchnahme gesprochen werden (in diesem
Sinne auch Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB, §
63 SGB VI Anm 6, Stand 12/2005). Dessen war sich der Gesetzgeber auch bewusst, wie nicht nur die Auseinandersetzung im Ausschuss für
Arbeit und Sozialordnung (aaO) zeigt, sondern auch im Wortlaut des §
77 Abs
2 Satz 1
SGB VI zum Ausdruck kommt. Denn das Gesetz spricht von einer "vorzeitigen" Inanspruchnahme nur in Satz 1 Nr 2a, der sich ausschließlich
auf Renten wegen Alters vor Vollendung des 65. Lebensjahres (ab 1.1.2008: "Erreichen der Regelaltersgrenze"; vgl Art 1 Nr
23 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes) bezieht. Mit der Einführung des abgesenkten Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit, die vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, durch das RRErwerbG vom 20.12.2000
(BGBl I 1827) wurde der Begriff der "Vorzeitigkeit" auch in §
63 Abs
5 SGB VI gestrichen. Während vor dem 1.1.2001 eine Bezugnahme auf die "vorzeitige Inanspruchnahme ..." enthalten war, heißt es jetzt
nur noch: "Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer werden durch einen Zugangsfaktor vermieden." Dieses
Ergebnis wird durch die Regelung des §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI nicht in Frage gestellt.
Danach "gilt" die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen
Inanspruchnahme. Mit dieser Fiktion wird im Interesse des Versicherten eine Ausnahme von dem sich aus §
77 Abs
2 Satz 1 Halbsatz 1, Abs
3 Satz 1
SGB VI ergebenden Grundsatz geschaffen, dass ein früherer Zugangsfaktor auch für spätere Renten maßgeblich bleibt (ebenso Ruland,
NJW 2007, 2087; Bredt, NZS 2007, 194; Mey, RVaktuell 2007, 46 f; Blüggel in Wannagat, SGB, §
77 SGB VI RdNr 30 ff, Stand 7/2007; Kreikebohm
SGB VI, 2. Aufl 2003, §
77 RdNr 16; Polster in Kasseler Kommentar, §
77 SGB VI RdNr 21, Stand 9/2006; Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
77 RdNr 47 mit Beispiel, Stand 2/2002; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, §
77 SGB VI RdNr
18 f mit Beispiel, Stand 12/2005). §
77 Abs
2 Satz 1 Halbsatz 1
SGB VI schließt eine (Neu-)Berechnung des Zugangsfaktors aus, soweit die EP des Versicherten bereits Grundlage von persönlichen
EP einer Rente gewesen sind. Damit korrespondiert die in Abs 3 Satz 1 derselben Vorschrift angeordnete Übernahme des bisherigen
Zugangsfaktors in die Berechnung einer Folgerente (vgl hierzu im Einzelnen Schmitz, LVA Rheinprovinz Mitteilungen 2003, 142
ff).
Dadurch wird das gesetzgeberische Anliegen verwirklicht (vgl nochmals §
63 Abs
5 SGB VI), Rentenleistungen an jüngere Versicherte mit Rücksicht auf die längere Bezugszeit auch in denjenigen Fällen zu begrenzen,
in denen eine Erwerbsminderungsrente mangels Besserung im Gesundheitszustand des Versicherten ohne Unterbrechung wiederholt
zu bewilligen ist, weil sie gemäß §
102 Abs
2 SGB VI grundsätzlich längstens für drei Jahre und nicht auf Dauer gewährt werden darf; ohne die genannten Vorschriften wäre der
Zugangsfaktor für jede Folgerente als eigenständiger Leistungsfall neu zu ermitteln (so auch Bredt, NZS 2007, 194).
Die Fiktion des §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI durchbricht die beschriebene "Perpetuierung" des Zugangsfaktors bei Rentenbezug aufgrund mehrerer aufeinander folgender Rentenbewilligungen
für diejenigen Fälle, in denen ein früherer Rentenbezug endet - wenn der Versicherte also beispielsweise lediglich zwischen
dem 42. und 44. Lebensjahr Rente bezieht, dann aber bis zum 65. Lebensjahr (oder darüber hinaus) wieder erwerbstätig ist.
Obwohl die vor dem 42. Lebensjahr erworbenen EP anlässlich der früheren Rentenbewilligung mittels abgesenktem Zugangsfaktor
zu persönlichen EP umgerechnet und der Rente zugrunde gelegt worden waren, weil es sich um einen Rentenbezug vor dem 63. Lebensjahr
gehandelt hatte, ist die Altersrente des Versicherten nach §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI so zu berechnen, als sei die frühere Rente nicht "vorzeitig" gewährt und infolgedessen auch nicht abgesenkt worden; infolgedessen
bestimmt sich der Zugangsfaktor nach §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
1 bzw Nr
2 Buchst b
SGB VI und nicht nach Abs 3. Schon nach dem Wortlaut des §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI ("gilt") wird der Rentenabschlag nicht auf die Zeit nach dem 60. Lebensjahr verschoben; vielmehr wird der frühere Bezug einer
abgesenkten Rente als ungeschehen fingiert, um den nur vorübergehend erwerbsgeminderten Versicherten vor einem "immerwährenden
Abschlag" zu schützen.
Gestützt wird dieses Normverständnis durch die Regelung des §
77 Abs
3 Satz 3 Nr
2 SGB VI.
Danach wird der Zugangsfaktor für EP, die Versicherte bei einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit einem Zugangsfaktor
kleiner als 1,0 nach Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 60. Lebensjahres bis zum Ende des Kalendermonats der Vollendung
des 63. Lebensjahres nicht in Anspruch genommen haben, um 0,003 je Kalendermonat erhöht. Die Normierung dieses "Zuschlags"
nach Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 60. Lebensjahres bei einem Zugangsfaktor "kleiner als 1,0" wäre sinnlos,
hätte die gesetzgeberische Absicht tatsächlich darin bestanden, die Minderung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit auf Rentenbezugszeiten ab dem 60. Lebensjahr zu beschränken (zutreffend Mey, RVaktuell 2007, 47).
Ein weiteres systematisches Argument hat der 13. Senat im Beschluss vom 26.6.2008 (B 13 R 9/08 S) aufgezeigt. Gleichzeitig mit dem RRErwerbG hat der Gesetzgeber einen Rentenabschlag bei der Alterssicherung für Landwirte
eingeführt, der demjenigen in der allgemeinen Rentenversicherung entsprechen sollte (vgl BT-Drucks 14/4230 S 1 unter B 6,
S 24 unter 6; BT-Drucks 14/4630 S 2 vor C). Da die Renten nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) ohne Zugangsfaktor berechnet werden, musste die Neuregelung anders formuliert werden als im
SGB VI. Infolgedessen ordnete § 23 Abs 8 Satz 1 Nr 1 ALG in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung eine Minderung des (dortigen) allgemeinen Rentenwerts um 0,3 % für jeden Kalendermonat
an, für den eine Rente wegen Erwerbsminderung vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch
genommen wird; § 23 Abs 8 Satz 2 Halbsatz 1 ALG begrenzte den Abschlag (grundsätzlich) auf höchstens 10,8 %.
Zwischen Rentenbezugszeiten vor und nach Vollendung des 60. Lebensjahres wurde dabei nicht unterschieden, sodass Erwerbsminderungsrenten
nach dem ALG auch dann abzusenken sind, wenn sie vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten beginnen. Das muss infolgedessen auch im Rahmen
von §
77 SGB VI gelten. Diese Vorschrift ist in diesem Punkt nicht anders zu verstehen als die Parallelregelung im ALG, nachdem die angeordnete Rentenkürzung in allen übrigen Punkten in beiden Bereichen gleich ist.
Sinn und Zweck der Vorschrift bestätigen die Auffassung, dass §
77 Abs
2 SGB VI die Minderung des Zugangsfaktors auch für Zeiten des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente vor der Vollendung des 60. Lebensjahres
regelt.
Die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme von Renten wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 63. Lebensjahres
durch die Neufassung des §
77 SGB VI in Art 1 Nr 22 RRErwerbG vom 20.12.2000 (BGBl I 1827) ist Teil einer Gesamtstrategie, mit der in mehreren aufeinander aufbauenden
Schritten auf die demografische Entwicklung reagiert und die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung gesichert
werden soll. Sie enthielt zunächst die Anhebung des Renteneintrittsalters und die Minderung des Zugangsfaktors für vorzeitige
Altersrenten durch das Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) und wurde mit einer nochmaligen Anhebung der regelmäßigen Altersgrenze durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom
20.4.2007 in jüngster Vergangenheit fortgeführt (BGBl I 554; vgl auch dessen Begründung, BT-Drucks 16/3794 S 1). Damit soll
eine sozial angemessene und finanziell tragfähige Alterssicherungspolitik verwirklicht und ein wichtiger Beitrag zu mehr Wachstum
und Beschäftigung geleistet werden (vgl Nationaler Strategiebericht Sozialschutz und soziale Eingliederung der Bundesregierung
vom 9.8.2006, BR-Drucks 583/06 S 33).
In dieses Gesamtkonzept fügt sich die Absenkung des Zugangsfaktors für Erwerbsminderungs-, Erziehungs- und Hinterbliebenenrenten
nur dann ohne gravierende Widersprüche ein, wenn sie auch in den Fällen angewandt wird, in denen der Leistungsfall vor dem
60. Lebensjahr des Versicherten liegt. Die Höhe des Zugangsfaktors hängt seit 1992 bei den Altersrenten vom Zeitpunkt des
Rentenbeginns ab, damit Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer vermieden werden (so der jetzige
§
63 Abs
5 SGB VI; vgl auch Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
77 RdNr 26). Der Vorteil einer früheren Inanspruchnahme einer Rente liegt darin, dass die Summe der gezahlten Rentenleistungen
(statistisch gesehen) höher ist als bei einem späteren Rentenbeginn, weil die Rentenlaufzeit (statistisch) insgesamt länger
ist. Ein früher Renteneintritt bedeutet trotz der durch fehlende Beitragszeiten bedingten geringeren Rente eine Mehrbelastung
der Versichertengemeinschaft, die durch einen abgesenkten Zugangsfaktor begrenzt werden soll; dieser ist so bestimmt, dass
der jeweilige Gesamtwert der lebenslangen Rente unabhängig vom Rentenbeginn im statistischen Durchschnitt gleich hoch ist
(vgl Salthammer, DRV 2003, 613 ff; Ruland in GK-
SGB VI, §
63 RdNr 53 f, Stand 9/2006). Denn die möglichst frühzeitige Inanspruchnahme einer Rente entspricht nicht dem eine Versicherung
prägenden Prinzip der Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung. Eine wesentliche Durchbrechung dieses Äquivalenz- bzw Versicherungsprinzips
lag im früheren Recht darin, dass Versicherte die Altersrente ohne Abschlag bis zu fünf Jahre vor der regulären Altersgrenze
erhalten konnten und durch den (statistisch) verlängerten Rentenbezug die insgesamt zu zahlende Rentensumme beträchtlich erhöhten.
Unter dem Gesichtspunkt des Versicherungsprinzips gilt für die übrigen Rentenarten nichts anderes, soweit der Berechtigte
die Rente (oder weitere Renten) durchgehend bis zu seinem Tode in Anspruch nimmt. Nachdem das Missverhältnis zwischen Beitrag
und Leistung bei einem vorzeitigen Altersrentner zur Absenkung des Zugangsfaktors führte, war es im Grunde nur schwer verständlich,
dass ein gleichaltriger Erwerbsminderungsrentner von jeglicher Kürzung verschont bleiben sollte, zumal bei erheblich gesenkten
Altersrenten in der betroffenen Altersgruppe mit einer massiven Zunahme der Anträge auf Erwerbsminderungsrente zu rechnen
war. Deshalb forderte der Bundesrat bei den Beratungen über das RRG 1992 die Bundesregierung zu einer Änderung des Rechts der Erwerbsminderungsrenten auf, "die zu einer sachgerechten und sozial
ausgewogenen Risikoabgrenzung zwischen Renten- und Arbeitslosenversicherung führt und gleichzeitig verhindert, dass die im
RRG 1992 vorgesehene Heraufsetzung der Altersgrenzen unterlaufen wird" (BT-Drucks 11/4452 S 9 Nr 9). Sowohl der Äquivalenzgedanke
als auch der Hinweis auf die Gefahr von Ausweichreaktionen finden sich in der Gesetzesbegründung zum RRErwerbG wieder (BT-Drucks
14/4230 S 26 zu Nr 16 und zu Nr 22). Die in allen Rentenarten vergleichbare Mehrbelastung durch einen frühen Renteneintritt
würde allerdings eine völlige Angleichung des Zugangsfaktors der übrigen Rentenarten an denjenigen der Altersrente kaum rechtfertigen
können. Denn die Altersrente darf erst ab einem bestimmten Mindestalter in Anspruch genommen werden, während die anderen Renten
schon in sehr jungen Jahren beginnen können. Zudem können die Versicherten (außer in bestimmten Fällen der Arbeitslosigkeit)
regelmäßig frei wählen, ab wann sie eine Altersrente beziehen wollen. Im Lichte dieser Unterschiede passen die im RRErwerbG
getroffenen Regelungen in die Gesamtstrategie zur Anhebung der Altersgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung; gleichzeitig
wurde vermieden, dass sich der Zugangsfaktor im Laufe der Rentenbezugszeit ändert, was das überkommene System der Rentenberechnung
mit einer grundsätzlich einmalig zu ermittelnden konstanten Rechengröße (vgl §
88 Abs
1 und
2 SGB VI) und nur einem dynamischen Faktor durchbrochen hätte.
Infolgedessen ging es dem Gesetzgeber des RRErwerbG nur um eine "Anpassung" und nicht um eine "Gleichstellung" von Erwerbsminderungsrenten
und Altersrenten. Dabei werden der Versicherte und seine Hinterbliebenen - wie bereits dargelegt - vor einer allzu empfindlichen
Minderung geschützt, indem der Zugangsfaktor bei jüngeren Versicherten so festgesetzt wird, als habe der Versicherte das Mindestalter
für eine Altersrente (in der hier anwendbaren Fassung 60 Jahre) bereits erreicht, und indem die Absenkung auf einen Renteneintritt
vor dem 63. Lebensjahr beschränkt wird, während der Anspruch auf Altersrente erst ab dem 65. Lebensjahr in voller Höhe besteht;
dadurch beträgt die Absenkung maximal 10,8 % im Vergleich zu 18 % bei der Altersrente (vgl BT-Drucks 14/4230 S 24, vor Nr
4). Darüber hinaus wird der Versicherte mit Hilfe zusätzlicher Zurechnungszeiten jetzt so gestellt, als ob er bis zur Vollendung
des 60. Lebensjahres weitergearbeitet hätte (vgl §§
59 Abs
1 und
2 Satz 2,
253a SGB VI); vorher wurde die Zeit ab dem 55. Lebensjahr lediglich zu einem Drittel berücksichtigt.
Die weitergehende Anrechnung von Zurechnungszeiten soll die Anpassung der Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der
vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten zusätzlich begrenzen (vgl die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Ruland
im Rahmen der 57. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung am 20.10.2000, Prot 14/57 S 8; BT-Drucks 14/4230 S
23 f, II Nr 3). Bei Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung im Alter von 56 Jahren und acht Monaten reduziert sich
die Rentenminderung bei einem "Eckrentner" dadurch auf 3,3 % - je nach Versicherungsbiografie kann sie geringer oder höher
ausfallen. Jedenfalls kommt der effektive Abschlag dem Maximalwert von 10,8 % umso näher, je mehr sich der Rentenbeginn dem
60. Lebensjahr des Versicherten nähert; bei späterem Renteneintritt sinkt der prozentuale Rentenabschlag allmählich wieder,
bis er bei 63 Jahren ganz entfällt. Die Fokussierung der Rentenminderung auf den Renteneintritt mit 60 stellt insofern ein
schlüssiges Konzept dar, als sich gerade die Versicherten dieser Altersgruppe unter der Geltung des bisherigen Rechts zB insbesondere
bei Arbeitslosigkeit vor die Frage gestellt sehen konnten, ob sie statt der vorzeitigen Altersrente mit einem Abschlag von
18 % eine wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarkts mögliche Erwerbsminderungsrente ohne Abschlag anstreben sollten (ähnlich
Mey, RVaktuell 2007, 48).
Ein ganz wesentliches Element dieses Konzepts ist die Abschwächung des Rentenabschlags durch die zusätzliche Zurechnungszeit
bei einem Renteneintritt vor dem 60. Lebensjahr. Wäre der nach §
77 Abs
2 SGB VI abgesenkte Zugangsfaktor nur bei Renteneintritt bzw Rentenbezug ab dem 60. Lebensjahr anwendbar, würde der Rentenabschlag
gerade nicht abgeschwächt, sondern das RRErwerbG hätte bei früherem Renteneintritt im Vergleich zum bisherigen Recht zu einer
Rentenerhöhung geführt und entgegen den dargestellten Bemühungen des Gesetzgebers um eine Anhebung des Renteneintrittsalters
einen Anreiz geschaffen, mittels frühen Rentenantrags zu versuchen, zumindest vorübergehend den Abschlag zu vermeiden. Infolgedessen
bestätigt die Neuregelung der Zurechnungszeit die mit den Absichten des Gesetzgebers im Einklang stehende Auslegung, nach
der die Rentenminderung auch Renten erfasst, die vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten gewährt werden. Die §
59 Abs
2 Satz 2, §
63 Abs
5, §§
77,
253a,
264c SGB VI bilden ein aufeinander abgestimmtes "Gesamtpaket" (vgl Klattenhoff in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
253a RdNr 2, Stand 8/2001; Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
264c RdNr 4 f, Stand 2/2002 ; BT-Drucks 14/4230 S 26 zu Nr 16). Dies wird besonders deutlich in der Anlage 23 zum
SGB VI, die übergangsweise je nach Zeitpunkt des Rentenbeginns festlegt, in welchem Umfang der Zugangsfaktor zu senken (§
264c SGB VI) bzw - in darauf abgestimmten Stufen - die Zurechnungszeit zu verlängern ist (§
253a SGB VI).
Schließlich bestätigt die Einfügung von Abs
4 in §
77 SGB VI durch Art 1 Nr
23 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007 (BGBl I 554) ab dem 1.1.2008 das dargestellte Gesamtkonzept und führt es fort,
indem für langjährig Versicherte die Weitergeltung der bisherigen Altersgrenzen angeordnet wird (vgl BT-Drucks 16/3794 S 36
zu Nr 23). Folgte man der Auffassung, wonach der Rentenabschlag erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres greifen soll, so würde
diese zu Zwecken des Vertrauensschutzes geschaffene Regelung in ihr Gegenteil verkehrt: Versicherte mit mindestens 40 Pflichtbeitragsjahren
würden durch die Herabsetzung des 62. auf das 60. Lebensjahr nicht begünstigt, sondern benachteiligt.
Entgegen der Ansicht des Klägers verstößt die Regelung des §
77 Abs
2 SGB VI nicht gegen das
GG.
Der Kläger ist nicht dadurch in seinem Grundrecht aus Art
14 Abs
1 GG (Eigentumsgarantie) verletzt, dass bei der Berechnung des Monatsbetrags seiner Rente wegen Erwerbsminderung statt eines Zugangsfaktors
von 1,0 ein Zugangsfaktor von 0,892 (Abschlag von 10,8 %) zu Grunde gelegt wird.
Bezogen auf den aktuellen Rentenwert bewirkt die Absenkung des Zugangsfaktors allein eine Kürzung der Rente wegen voller Erwerbsminderung
um 144,17 Euro, die durch die gleichzeitig erfolgte Verlängerung der Zurechnungszeit nicht ganz ausgeglichen wird. Die Veränderung
der beiden genannten Berechnungselemente durch die Neuregelung hat demnach insgesamt in der Auslegung durch die Beklagte eine
Rentenminderung um (aktuell) 45,16 Euro oder von 3,65 % im Verhältnis zum bisherigen Recht zur Folge.
Rentenansprüche und -anwartschaften werden vom verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz nach Art
14 Abs
1 GG erfasst (vgl zuletzt BVerfGE 117, 272, 292 = SozR 4-2600 § 58 Nr 7 RdNr 50 mwN; stRspr). Der Schutzbereich des Art
14 Abs
1 GG ist vorliegend dadurch tangiert, dass im Vergleich zur früheren Rechtslage mit der Rechtsänderung durch das RRErwerbG eine
Verschlechterung für den Kläger insoweit eingetreten ist, als nunmehr bei einer Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres der Zugangsfaktor gemindert wird.
Der Kläger wird jedoch nicht in seinem Grundrecht aus Art
14 GG verletzt. Bei der in Streit stehenden Vorschrift handelt es sich um eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung durch
den Gesetzgeber. Der Eingriff in die Rechtsposition des Klägers erweist sich gemessen an der gesetzgeberischen Zielsetzung
als geeignet und erforderlich und ist andererseits gemessen an der vom Kläger erworbenen Rechtsposition sowie Art und Umfang
seiner Beitragsleistung verhältnismäßig und zumutbar.
Eingriffe in rentenrechtliche Anwartschaften sind zulässig, wenn sie einem Gemeinwohlzweck dienen und verhältnismäßig sind.
Dabei verengt sich die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in dem Maße, in dem Rentenanwartschaften durch den personalen
Anteil eigener Leistungen der Versicherten geprägt sind (vgl zuletzt BVerfGE 117, 272, 294 = SozR 4-2600 § 58 Nr 7 RdNr 54 mwN; stRspr). Die eigene Leistung findet vor allem in einkommensbezogenen Beitragszahlungen
ihren Ausdruck. Sie rechtfertigt es, dass der durch sie begründeten rentenrechtlichen Rechtsposition ein höherer Schutz gegen
staatliche Eingriffe zuerkannt wird als einer Anwartschaft, soweit sie nicht auf Beitragsleistungen beruht (vgl hierzu BVerfGE
116, 96, 122 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 81; BVerfGE 100, 1, 33 = SozR 3-8570 § 10 Nr 3; kritisch zur Zuordnung der Zurechnungszeit zum Eigentumsschutzbereich im Hinblick auf das Erfordernis
der "Eigenleistung" Plagemann in jurisPR-SozR 20/2006 Anm 4). Knüpft der Gesetzgeber an ein bereits bestehendes Versicherungsverhältnis
an und verändert er die in dessen Rahmen begründete Anwartschaft zum Nachteil des Versicherten, so ist darüber hinaus ein
solcher Eingriff am rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes zu messen, der für die vermögenswerten Güter und damit
auch für die rentenrechtliche Anwartschaft in Art
14 GG eine eigene Ausprägung erfahren hat (vgl zuletzt BVerfGE 117, 272, 294 = SozR 4-2600 § 58 Nr 7 RdNr 55 mwN).
Wie bereits näher dargelegt, wollte der Gesetzgeber mit den in Rede stehenden Regelungen des §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
3, Satz 2 und 3
SGB VI idF des RRErwerbG zum einen der Gefahr begegnen, dass im Hinblick auf die gesetzlich normierten Abschläge bei vorzeitiger
Inanspruchnahme von Altersrenten unverhältnismäßig viele Anträge auf Erwerbsminderungsrenten gestellt würden; zum anderen
hat er das Ziel verfolgt, das Versicherungsrisiko der unterschiedlich langen Rentenbezugsdauer mit Hilfe versicherungsmathematischer
Abschläge zu neutralisieren.
Die mit dem RRErwerbG normierte Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
vor Vollendung des 63. Lebensjahres stellt allein schon deshalb eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung dar, weil
sie ersichtlich dazu dient, die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung im Interesse aller zu erhalten und
den - ua durch die demografische Entwicklung - veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Wie der Hochrechnung der
finanziellen Auswirkungen der im RRG 1992 und im RRErwerbG beschlossenen Maßnahmen zu entnehmen ist, geht es dabei in erster Linie um eine Verlangsamung der nach
früherem Recht zu erwarten gewesenen Erhöhungen des Beitragssatzes in der Rentenversicherung und der entsprechenden Mehrausgaben
des Bundes (vgl BT-Drucks 14/4230 S 36 mit Tabelle Nr 1). Sind allein die finanziellen Erwägungen ein legitimer Grund für
den Eingriff, so kann offen bleiben, ob auch andere mit der Regelung vom Gesetzgeber verfolgte Ziele für sich oder zusätzlich
die in Frage stehende Regelung rechtfertigen könnten (vgl BVerfGE 117, 272, 297 = SozR 4-2600 § 58 Nr 7 RdNr 63).
Die im öffentlichen Interesse liegende Minderung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung
vor Vollendung des 63. Lebensjahres war auch verhältnismäßig im weiteren Sinne (dh geeignet, erforderlich und zumutbar).
Die Regelung war geeignet, die vom Gesetzgeber angestrebten Ziele zu erreichen. Ihm steht - wie dies das BVerfG erneut in
seinem Beschluss vom 27.2.2007 (BVerfGE 117, 272, 295 f = SozR 4-2600 § 58 Nr 7 RdNr 58 f) zum Ausdruck gebracht hat - im Sozialversicherungsrecht wie in allen komplexen,
von künftigen Entwicklungen abhängigen Regelungsbereichen ein weiter Einschätzungsspielraum zu. Bei der Ausgestaltung der
Versicherungsverhältnisse benötigt der Rentengesetzgeber Flexibilität, die ihm nach der Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich
nicht verwehrt werden kann. Mit Rücksicht auf das unterschiedliche Versicherungsrisiko von in niedrigerem oder höherem Alter
beginnenden Renten und auf die dadurch gebotene Annäherung von Erwerbsminderungs- und Altersrenten bewegt sich die Vorschrift
über die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres
innerhalb dieses verfassungsrechtlichen Einschätzungsspielraums.
Die Regelung genügt auch dem Gebot der Erforderlichkeit. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber ein anderes, gleich
wirksames, aber das Grundrecht des Klägers nicht oder doch weniger einschränkendes Mittel hätte wählen können. Der Gesetzgeber
kann insbesondere nicht darauf verwiesen werden, eine Einsparung in anderen, von dem betroffenen Gesetz nicht erfassten Bereichen
zu erzielen (vgl BVerfG SozR 4-5050 § 22 RdNr 91 mwN; stRspr). Unter dem Gesichtspunkt des Erforderlichkeitsgrundsatzes war
er nicht verpflichtet, auf andere Maßnahmen auszuweichen, insbesondere - im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen - die
Beitragssätze zu erhöhen, die Bestandsrenten abzusenken oder auf eine Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung
zu verzichten. Um dem Erforderlichkeitsgebot Rechnung zu tragen, war er ebenso wenig gehalten, einen höheren Bundeszuschuss
vorzusehen und ggf für diesen Zweck Steuern einzuführen oder zu erhöhen.
Die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63.
Lebensjahres ist für den Kläger auch zumutbar.
Hierbei ist zu beachten, dass das Gesetz nicht in einen schon bestehenden Rentenanspruch des Klägers, sondern in seine Rentenanwartschaft
eingegriffen hat. Anwartschaften sind aber wegen des großen Zeitraums zwischen ihrem Erwerb und der Aktivierung des Rentenanspruchs
naturgemäß stärker einer Veränderung der für die Rentenberechnung maßgeblichen Verhältnisse unterworfen (vgl BSGE 92, 206 = SozR 4-2600 § 237 Nr 1, jeweils RdNr 43) und genießen nicht denselben eigentumsrechtlichen Schutz wie die Rente. In diesem
Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber durch die Übergangsregelung des §
264c SGB VI (iVm der Anlage 23 des
SGB VI; jeweils in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung) und die Kompensation über die verlängerte Zurechnungszeit nach §§
59,
253a SGB VI die Wirkung der Absenkung des Zugangsfaktors abgemildert hat. Die den Eingriff in die Rentenanwartschaft mindernde Wirkung
der Anhebung der Zurechnungszeit wirkt sich gerade beim Kläger deutlich aus und führt im Ergebnis dazu, dass an Stelle der
durch die Absenkung des Zugangsfaktors bewirkten Minderung um 144,17 Euro, der Rentenzahlbetrag im Ergebnis nur 45,16 Euro
weniger beträgt. Der Senat verkennt nicht, dass dies immer noch eine Einbuße von ca 3,65 % bedeutet, die aber im Hinblick
auf die Einbußen anderer Versicherter zumutbar ist. Der um 3,65 % herabgesenkte Rentenbetrag führt noch nicht zu wesentlichen,
unzumutbaren Einschränkungen im Lebensstandard des Versicherten, wie er ihn aufgrund seines durchschnittlichen Verdienstes
im aktiven Erwerbsleben aufbauen konnte.
Die Neuregelung durch das RRErwerbG genügt auch dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes. Die hier für
den Eingriff - Absenkung des Zugangsfaktors - maßgebliche Regelung des §
77 Abs
2 Nr
3 SGB VI idF des RRErwerbG greift nicht im Sinne einer (echten) Rückwirkung zu Ungunsten des Klägers in eine Rechtsposition ein, die
dieser bereits vor deren Inkrafttreten am 1.1.2001 inne hatte. Im Übrigen war die Änderung der Rechtslage für die Versicherten
nicht völlig überraschend, nachdem der Bundesrat bereits im April 1989 die Bundesregierung zu einer Reform der Erwerbsminderungsrenten
in diesem Sinne aufgefordert hatte.
Die Regelungen des §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
3, Satz 2 und 3
SGB VI verstoßen auch nicht gegen Art
3 Abs
1 GG.
Der darin enthaltene allgemeine Gleichheitssatz gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Demgemäß ist dieses
Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt
wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung
rechtfertigen könnten (BVerfGE 75, 348, 357 = SozR 2200 § 555a Nr 3; stRspr); Entsprechendes gilt für eine Gleichbehandlung trotz Bestehens gewichtiger Unterschiede.
Nachdem die getroffenen Maßnahmen durch das Ziel gerechtfertigt sind, die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung
zu erhalten, ist es unter dem Blickwinkel des Gleichheitssatzes nicht zu beanstanden, dass die Versichertengruppe, zu welcher
der Kläger gehört, gegenüber derjenigen anders behandelt wird, die wegen eines Rentenbeginns vor dem 1.1.2001 noch nicht von
der Absenkung des Zugangsfaktors betroffen war. Mit jeglicher Anpassung des Rechts an geänderte Verhältnisse ist zwangsläufig
eine ungleiche Behandlung von Betroffenen vor und nach dem Inkrafttreten einer Rechtsänderung verbunden und kann daher für
sich allein nicht zur Verfassungswidrigkeit führen.
Der Gesetzgeber war durch das im Gleichheitssatz enthaltene Differenzierungsgebot nicht gehalten, Erwerbsminderungsrenten
wegen gewichtiger Unterschiede zu den Altersrenten von den dort eingeführten Rentenabschlägen ganz auszunehmen. Dem Kläger
ist zuzustimmen, dass ein Versicherter es letztlich nicht in der Hand hat, den Zeitpunkt einer rentenberechtigenden Erwerbsminderung
selbst zu bestimmen. Jedoch kann es bei länger währender Arbeitslosigkeit im rentennahen Alter ebenfalls kaum noch praktische
Alternativen zu einem Antrag auf vorgezogene Altersrente mit Rentenabschlägen geben; bei Entlassungen gegen Abfindung kann
sogar eine arbeitsrechtliche Verpflichtung zu einem solchen Antrag bestehen. Insofern haben die Unterschiede nicht das ihnen
vom Kläger beigemessene Gewicht. Sie sind durch den geringeren Abschlag in Höhe von maximal 10,8 statt 18 % und die erhöhte
Zurechnungszeit bei jüngeren Erwerbsminderungsrentnern angemessen berücksichtigt. Aus Sicht des Senats war es im Hinblick
auf den Gleichheitssatz nicht nur gerechtfertigt, sondern möglicherweise sogar geboten, die Finanzierungsschwierigkeiten der
Rentenversicherung durch längere Rentenlaufzeiten nicht allein zu Lasten der Altersrentner zu lösen, nachdem der Bundesrat
im Jahre 1989 auf diese Problematik hingewiesen hatte.
Schließlich greift der Einwand nicht, der Gesetzgeber habe auch für Erwerbsminderungsrentner eine dem §
187a SGB VI entsprechende Möglichkeit schaffen müssen, die bei Anwendung von §
77 Abs
2 SGB VI entstehende Rentenminderung durch Beitragszahlungen auszugleichen. Ein diesbezügliches Verfassungsgebot ist schon deshalb
zu verneinen, weil die Erwerbsminderungsrente in deutlich geringerem Ausmaß abgesenkt wird als die Altersrente, sodass die
unterschiedlich hohen Versorgungslücken eine unterschiedliche Behandlung sachlich rechtfertigen.
Im Übrigen sind keine Gründe ersichtlich, die den Erwerbsminderungsrentner an der Entrichtung freiwilliger Beiträge hindern
würden, um seine künftig zu erwartende Altersrente aufzubessern (§
7 Abs
1 und
2, Gegenschluss aus §
75 Abs
2 SGB VI; vgl auch VerbKomm §
75 SGB VI Anm 3.3, Stand 12/2004); da §
7 Abs
3 SGB VI das Recht zur freiwilligen Versicherung ausschließt, wenn eine Vollrente wegen Alters bindend bewilligt ist, bedarf es lediglich
für vorzeitig in Anspruch genommene Altersrenten der Sonderregelung des §
187a SGB VI.
Ein Verstoß gegen Art
3 Abs
3 Satz 2
GG liegt ebenfalls nicht vor.
Art
3 Abs
3 Satz 2
GG bezweckt die Stärkung der Stellung behinderter Menschen in Recht und Gesellschaft. Sie enthält ein Gleichheitsrecht zu Gunsten
Behinderter sowie einen Auftrag an den Staat, auf die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen hinzuwirken (vgl Jarass
in Jarass/Pieroth,
GG, 9. Aufl 2007, Art
3 RdNr 142). Es ist bereits fraglich, ob der Schutzbereich des Grundrechts, der zunächst eine Ungleichbehandlung voraussetzt,
tangiert ist. Jedenfalls liegt eine Benachteiligung wegen Behinderung nicht vor. Die Absenkung des Zugangsfaktors nach §
77 Abs
2 SGB VI betrifft seit dem RRErwerbG alle Rentenarten, wenn die jeweilige Rente vor der im Gesetz normierten Altersgrenze in Anspruch
genommen wird. Damit sollen Vor- und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer bei allen Rentenarten ausgeglichen
werden. Eine Benachteiligung des Klägers wegen einer Behinderung liegt somit nicht vor.
Die Revision des Klägers ist somit zurückzuweisen. Damit weicht der Senat zwar vom Urteil des 4. Senats vom 16.5.2006 ab (BSGE
96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3); dennoch ist er an der Entscheidung nicht gehindert. Der 4. Senat kann mit der hier entscheidungserheblichen
Rechtsfrage nicht mehr befasst werden, denn er ist nach einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit Wirkung zum 1.1.2008
für Streitigkeiten aus dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung nicht mehr zuständig. An seine Stelle ist der 13. und
der erkennende Senat getreten. Der 13. Senat hat auf die Anfrage des erkennenden Senats am 26.6.2008 beschlossen (B 13 R 9/08 S), an der Rechtsprechung des 4. Senats im Urteil vom 16.5.2006 nicht festzuhalten (vgl §
41 Abs
3 Satz 1 und
2 Sozialgerichtsgesetz -
SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.