Anerkennung einer sekundären Neurotisierung nach Pflichtschulbesuch in Niedersachsen als Wie-Berufskrankheit in der gesetzlichen
Unfallversicherung
Gründe:
I
Umstritten ist die Feststellung einer Wie-Berufskrankheit (Wie-BK) nach §
9 Abs
2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) beim Kläger aufgrund seines Schulbesuchs.
Der im August 1989 geborene Kläger ist durch eine schwere Legasthenie und Dyskalkulie behindert. Das Versorgungsamt hat bei
ihm wegen Teilleistungsstörung (Legasthenie und Dyskalkulie) mit sekundärer Neurotisierung einen Grad der Behinderung von
60 festgestellt (Bescheid vom 14. Oktober 2004). Zur Begründung seines an den beklagten Gemeinde-Unfallversicherungsverband
gerichteten Antrags auf Anerkennung einer Wie-BK legte der Kläger zahlreiche ärztliche Unterlagen vor und behauptete, durch
falsche Schulpädagogik eine schwere seelische Erkrankung erlitten zu haben. Eine gruppenspezifische Erhöhung des Erkrankungsrisikos
sei für Legastheniker wissenschaftlich belegbar. Der Beklagte lehnte den Antrag ab, es gebe keine gesicherten wissenschaftlichen
Erkenntnisse über die Geeignetheit von Schulunterricht, psychische Erkrankungen herbeizuführen (Bescheid vom 7. Juli 2005,
Widerspruchsbescheid vom 19. September 2005).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 17. Mai 2006). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen
(Urteil vom 14. Januar 2009) und im Wesentlichen zur Begründung ausgeführt: Das bloße Versäumnis einer adäquaten Förderung
des Klägers könne nicht als besondere Einwirkung iS des §
9 SGB VII verstanden werden. Auch scheitere die "Anerkennung und Entschädigung" einer Wie-BK daran, dass eine gruppenspezifische Risikoerhöhung
im Falle des Klägers nicht feststellbar sei. Legastheniker würden im niedersächsischen Schulsystem nicht anders beschult wie
Nicht-Legastheniker. Sie seien daher keinen anderen Einwirkungen im Schulsystem ausgesetzt wie nicht-legasthene Schüler. Hinsichtlich
der Bezugsgruppe für die erforderliche gruppenspezifische Risikoerhöhung sei auf alle Schüler abzustellen und nicht auf die
Gruppe der an Legasthenie leidenden Schüler. Ob von einer versicherten Tätigkeit spezielle Risiken ausgehen würden, die erheblich
höher als die Risiken der Allgemeinbevölkerung seien, könne statistisch und epidemiologisch zutreffend nur im Vergleich der
Allgemeinbevölkerung mit den Versicherten ermittelt werden, die die versicherte Tätigkeit ausüben, ohne sich durch zusätzliche
risikoerhöhende persönliche Eigenschaften (Behinderungen) von der Allgemeinbevölkerung zu unterscheiden. Umgekehrt ließe sich
ein besonderes schulisches Risiko von Legasthenikern nur im Vergleich mit dem von Legasthenie betroffenen Teil der Allgemeinbevölkerung
ermitteln. §
9 Abs
1 Satz 2
SGB VII stelle als Maßstab auf die Allgemeinbevölkerung ab, so dass die bestimmte Personengruppe sich allein durch ihre versicherte
Tätigkeit von der Allgemeinbevölkerung unterscheiden dürfe. Wissenschaftliche Erkenntnisse, dass die Ausgestaltung des Schulunterrichts
in Niedersachsens allgemeinbildende Schulen ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhtes Risiko der Schüler zur Folge habe,
psychisch zu erkranken, habe der Kläger nicht behauptet und seien auch nicht erkennbar. Soweit der Kläger mit Recht einen
Mangel an spezieller individueller Förderung von Legasthenikern an niedersächsischen Schulen beklage, könne die Anerkennung
psychischer Folgen eines solchen Mangels nicht als Wie-BK verlangt werden, selbst wenn eine gruppenspezifische Risikoerhöhung
von legasthenen Schülern gegenüber der Allgemeinbevölkerung angenommen würde. Denn die Risikoerhöhung würde nicht durch "besondere
Einwirkungen" iS des §
9 Abs
1 Satz 2
SGB VII verursacht, weil das Unterlassen einer behinderungsgerechten Förderung dafür nicht ausreiche. Eine pflichtwidrige Unterlassung
möge zwar eine Handlung im strafrechtlichen Sinne sein, stelle aber keine Einwirkung im unfallversicherungsrechtlichen Sinne
dar. Angesichts dessen könne dahingestellt bleiben, ob mögliche Versäumnisse des Beklagten hinsichtlich einer die Teilleistungsstörungen
des Klägers berücksichtigenden Pädagogik dessen sekundäre Neurotisierung wesentlich mit verursacht hätten.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger: Soweit das LSG ausgeführt habe, dass die Ausgestaltung des niedersächsischen
Schulunterrichts gegenüber der Allgemeinbevölkerung kein wesentlich erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen zur Folge
habe, sei darauf hinzuweisen, dass "die Tatsache, dass Schule krankmachen kann," seit längerer Zeit allgemein bekannt sei.
Die entscheidungserhebliche Frage sei jedoch vor allem, ob eine gruppenspezifische Erhöhung auch dann vorliege, wenn eine
durch gemeinsame Merkmale (Behinderung) abgrenzbare Teilgruppe aus der Gesamtgruppe, die die gefährdende Tätigkeit ausübe,
besonders gefährdet werde. Ein behinderter Arbeitnehmer habe grundsätzlich Anspruch auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz.
Wenn die für die Krankheit des Klägers ursächliche Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Schülern eine verfassungswidrige
Diskriminierung von Behinderten iS des Art
3 Abs
3 Satz 2
Grundgesetz (
GG) sei, so würde eine fortgesetzte Gleichbehandlung von Behinderten und Nichtbehinderten bei der Frage der Gruppentypik ebenfalls
eine fortgesetzte verfassungswidrige Diskriminierung darstellen. Daher sei für die Prüfung der Gruppentypik auf die Vergleichsgruppe
der ebenso behinderten Mitschüler abzustellen. Dem Umgang aller staatlichen Organe mit behinderten Menschen seien durch Art
3 Abs
3 Satz 2, Art
1 Abs
2 GG Grenzen gesetzt. Durch seine Beschulung, die seine Behinderung nicht berücksichtigt habe, sei er benachteiligt worden. Nach
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) (Hinweis auf BVerfGE 96, 288 ff) könne eine Benachteiligung durch Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten gegeben sein, wenn die Behinderung
nicht durch entsprechende Fördermaßnahmen hinlänglich kompensiert werde; für behinderte Kinder und Jugendliche sei der Staat
gehalten, schulische Einrichtungen bereit zu halten, die auch ihnen eine sachgerechte schulische Erziehung und Ausbildung
ermöglichten. Dies ergebe sich auch aus dem von Deutschland ratifizierten Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte
behinderter Menschen vom 13. Dezember 2006. Ebenso wie ein tauber Schüler in der Gebärdensprache hätte er in Lesen und Schreiben
nach den für Legastheniker geeigneten Methoden unterrichtet werden müssen. In Niedersachsen erfolge keine entsprechende Förderung.
Dies führe zu psychischen Erkrankungen der Betroffenen, die bei entsprechender Intensität Anspruch auf Leistung nach § 35a Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) wegen seelischer Behinderung hätten.
Soweit das LSG das Vorliegen von besonderen Einwirkungen iS des §
9 Abs
1 Satz 2
SGB VII verneint habe, weil das Unterlassen einer entsprechenden Förderung keine Einwirkung sei, könne dem nicht gefolgt werden.
Aufgrund der Einheit der Rechtsordnung und zB der Schutzpflichten für behinderte Arbeitnehmer, die zu Handlungspflichten deren
Arbeitgeber führen würden, könne nicht einfach das Vorliegen einer Einwirkung verneint werden. Im Übrigen habe er der Schulpflicht
unterlegen und es sei auf ihn durch Erziehungsmaßnahmen der Lehrer eingewirkt worden. Diese Einwirkungen seien in der Grundschulzeit
so stark gewesen, dass er einen Selbstmordversuch unternommen habe. Seine sekundäre Neurotisierung sei nicht die Folge eines
Unterlassens, sondern komplexer Verhaltensweisen, die sowohl Handeln wie Unterlassen miteinander verbunden hätten, sodass
eine Einwirkung vorgelegen habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 14. Januar 2009 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg
vom 17. Mai 2006 sowie den Bescheid des Beklagten vom 7. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September
2005 aufzuheben und bei ihm eine sekundäre Neurotisierung als Versicherungsfall einer Wie-Berufskrankheit anzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Bei ihm ist eine "sekundäre Neurotisierung bei Teilleistungsstörung (Legasthenie
und Dyskalkulie)" nicht wie eine Berufskrankheit anzuerkennen.
Nach §
9 Abs
2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der
Berufskrankheiten-Verordnung (
BKV) bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall
anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen
für eine Bezeichnung nach §
9 Abs
1 Satz 2
SGB VII erfüllt sind (sogenannte Öffnungsklausel für Wie-BKen). Die sich aus dieser Vorschrift ergebenden Tatbestandsmerkmale für
die Feststellung einer Wie-BK bei einem Versicherten sind (1.) das Nicht-Vorliegen der Voraussetzungen für eine in der
BKV bezeichneten Krankheit, (2.) das Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen für die Bezeichnung der geltend gemachten Krankheit
als BK nach §
9 Abs
1 Satz 2
SGB VII - (3.) nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen - sowie (4.) die individuellen Voraussetzungen für die Feststellung dieser
Krankheit als Wie-BK im Einzelfall bei dem Versicherten. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats enthält diese Vorschrift
keine "Härteklausel", nach der jede durch eine versicherte Tätigkeit verursachte Krankheit als "Wie-BK" anzuerkennen wäre
(vgl nur BSG vom 23. Juni 1977 - 2 RU 53/76 - BSGE 44, 90 = SozR 2200 § 551 Nr 9; BSG vom 14 November 1996 - 2 RU 9/96 - BSGE 79, 250 = 3-2200 § 551 Nr 9).
Das erste Tatbestandsmerkmal ist hinsichtlich der vom Kläger begehrten Anerkennung einer psychischen Erkrankung aufgrund von
Einwirkungen während seines Besuchs von allgemeinbildenden Schulen in Niedersachsen erfüllt, weil in der Anlage 1 zur
BKV - der BK-Liste mit den sogenannten Listen-BKen -, in der die als BK durch Rechtsverordnung nach §
9 Abs
1 Satz 1
SGB VII bezeichneten Krankheiten aufgeführt sind, keine psychischen Erkrankungen durch Einwirkungen während eines Schulbesuchs zu
finden sind.
Das vierte Tatbestandsmerkmal - die Voraussetzungen für die Feststellung der Krankheit als Wie-BK im Einzelfall (vgl dazu
grundlegend das Urteil des Senats vom 2. April 2009 - B 2 U 9/08 R - BSGE 103, 59 = SozR 4-2700 § 9 Nr 14) - hat das LSG dahingestellt sein lassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es gäbe keine wissenschaftlichen
Erkenntnisse, dass die Ausgestaltung des Schulunterrichts in niedersächsischen allgemeinbildenden Schulen ein gegenüber der
Allgemeinbevölkerung erhöhtes Risiko der Schüler zur Folge habe psychisch zu erkranken.
Damit hat das LSG das zweite Tatbestandsmerkmal - die allgemeinen Voraussetzungen für die Bezeichnung einer Krankheit als
BK - mangels entsprechender wissenschaftlicher Erkenntnisse verneint, womit auch die Prüfung des dritten Tatbestandsmerkmals
- die Neuheit der Erkenntnisse - entfiel.
Seine Revision wird vom Kläger insbesondere damit begründet, dass entgegen der Ansicht des LSG für die Ermittlung dieses zweiten
Tatbestandsmerkmals nicht auf alle Schüler in niedersächsischen allgemeinbildenden Schulen abzustellen sei, sondern nur auf
die Schüler, die an Legasthenie und Dyskalkulie leiden. Der Kläger verwendet insofern ebenso wie das LSG die Begriffe "gruppenspezifische
Risikoerhöhung" oder "Gruppentypik" und meint, zur Bestimmung der Risikoerhöhung müsse auf die abgrenzbare (Teil-)Gruppe der
Schüler mit diesen Behinderungen abgestellt werden.
Entgegen diesem Vorbringen des Klägers und entsprechend den tatsächlichen Feststellungen des LSG, gegen die der Kläger keine
zulässigen und begründeten Rügen erhoben hat, ist jedoch das zweite Tatbestandsmerkmal einer Wie-BK für die vom Kläger begehrte
Anerkennung einer "sekundären Neurotisierung bei Teilleistungsstörung (Legasthenie und Dyskalkulie)" nicht erfüllt.
Die aus dem Wortlaut des §
9 Abs
1 SGB VII ableitbaren allgemeinen Voraussetzungen für dieses Tatbestandsmerkmal - die Bezeichnung einer Krankheit als BK - sind eine
versicherte Tätigkeit nach §§
2,
3,
6 SGB VII (a), durch die bestimmte Personengruppen in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen (b)
ausgesetzt sind (c). Diese Einwirkungen müssen eine Krankheit (d) verursacht haben (e) nach den Erkenntnissen der medizinischen
Wissenschaft (f). Soweit der Senat oder andere Senate des BSG in der Vergangenheit in diesem Zusammenhang verschiedene andere
Begriffe verwandt haben, wie Gruppentypik, generelle Geeignetheit (vgl zuletzt insbesondere BSG vom 23. März 1999 - B 2 U 12/98 R - BSGE 84, 30, 34 f = SozR 3-2200 § 551 Nr 12) oder zB auch den der gruppentypischen oder gruppenspezifischen Risikoerhöhung (vgl BSG vom
4. Juni 2002 - B 2 U 20/01 R), dienten diese nur der Erläuterung oder Umschreibung der aufgezeigten Voraussetzungen, ohne dass damit andere Anforderungen
aufgestellt werden sollten (vgl schon BSG vom 14. November 1996 - 2 RU 9/96 - BSGE 79, 250 = 3-2200 § 551 Nr 9). Im Übrigen ist zu beachten, dass der Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung über die Bezeichnung
einer Krankheit nach §
9 Abs
1 SGB VII einen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum hat (vgl BSG vom 23. März 1999 - B 2 U 12/98 R - aaO), während der Anspruch auf Anerkennung einer Wie-BK nach §
9 Abs
2 SGB VII ein auf diesem Parlamentsgesetz beruhender Rechtsanspruch ist, so dass dessen Ablehnung uneingeschränkt justiziabel und im
Rechtszug überprüfbar ist.
Ausgehend von den Feststellungen des LSG zum Vorbringen des Klägers über die Einwirkungen, denen er ausgesetzt war, seine
Krankheit usw ergibt sich auf der für die Bezeichnung einer BK zu prüfenden abstrakten Ebene der allgemeinen Voraussetzungen
des zweiten Tatbestandsmerkmals:
a) Die versicherte Tätigkeit, auf die abzustellen ist, ist die eines Schülers einer allgemeinbildenden Schule nach §
2 Abs
1 Nr
8b SGB VII, wie der Kläger sie "ausgeübt" hat. Ob eine Krankheit als Listen-"Berufs"-krankheit bezeichnet oder als Wie-"Berufs"-krankheit
anerkannt werden kann, wenn sie nur durch Schulbesuch, nicht aber infolge der Ausübung eines "Berufs" entstehen kann, kann
offen gelassen werden, weil die Voraussetzungen vorliegend schon aus anderen Gründen nicht erfüllt sind.
b) Das Erfordernis von besonderen Einwirkungen, denen eine bestimmte Personengruppe in erheblich höherem Grade als die übrige
Bevölkerung durch die versicherte Tätigkeit ausgesetzt ist, verlangt zunächst die Ermittlung der Einwirkungen und in einem
weiteren Schritt deren Zurechnung zur versicherten Tätigkeit (c), zumal ohne eine Ermittlung der Einwirkungen schwerlich Aussagen
über die Krankheiten (d), die durch sie verursacht wurden (e), möglich sind.
Zur näheren Konkretisierung der besonderen Einwirkungen, denen bestimmte Personengruppen in erheblich höherem Grade als die
übliche Bevölkerung ausgesetzt sind, ist aufgrund der Praxis des Verordnungsgebers bei der Bezeichnung von Listen-BKen und
der Rechtsprechung des BSG auf Folgendes hinzuweisen: Als Einwirkungen kommt - wie schon den verschiedenen BK-Bezeichnungen
in der BK-Liste entnommen werden kann - praktisch alles in Betracht, was auf Menschen einwirkt. Daher ist es, auch wenn es
(noch) keine Listen-BK gibt, die auf rein psychische Einwirkungen abstellt, denkgesetzlich nicht ausgeschlossen, dass der
Verordnungsgeber eine solche Listen-BK einführen kann. An die bestimmte Personengruppe sind keine besonderen Anforderungen
hinsichtlich ihrer Größe (vgl BSG vom 29. Oktober 1981 - 8/8a RU 82/80 - BSGE 52, 272, 274 = SozR 2200 § 551 Nr 20 insbesondere zu den sogenannten Seltenheitsfällen) oder sonstiger charakterisierender Merkmale
zu stellen (zB nicht gemeinsamer Beruf, vgl Becker in Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, Gesetzliche Unfallversicherung,
SGB VII, Kommentar, Stand November 2009, §
9 RdNr 55). Durch den "Gruppen-Bezug" wird der Unterschied zwischen der hier anzustellenden allgemeinen und abstrakten Prüfung
der Voraussetzungen einer BK-Bezeichnung gegenüber der Prüfung der Voraussetzungen einer BK im Einzelfall betont (vgl zum
Gruppen-Bezug im BK Recht auch: BSG vom 2. April 2009 - B 2 U 33/07 R - BSGE 103, 54 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 5).
Entscheidend für die Voraussetzung "Einwirkungen" bei der Prüfung einer Bezeichnung ist das Erfordernis "den Einwirkungen
ausgesetzt sein in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung", wobei es auch genügt, wenn die Versicherten solchen
Einwirkungen ausgesetzt sind, denen die übrige Bevölkerung nicht ausgesetzt ist (vgl viele allein im Berufsleben vorkommende
Schadstoffe), weil dies zwangsläufig ein Ausgesetztsein in erheblich höherem Grade nach sich zieht. Notwendige Vorbedingung
für die Prüfung eines Ausgesetztseins in erheblich höherem Grade ist eine Konkretisierung der Einwirkungen hinsichtlich ihrer
Ausgestaltung oder Art sowie ihres Ausmaßes.
Dass Schüler im Rahmen eines Schulbesuchs Einwirkungen ausgesetzt sind, die von denen der übrigen Bevölkerung abweichen, liegt
auf der Hand. Der Kläger meint jedoch, dass nicht auf die allgemeinen Einwirkungen abzustellen sei, sondern auf die speziellen
Einwirkungen, die eine "Standard-Beschulung" ohne Berücksichtigung der Teilleistungsstörungen Legasthenie und Dyskalkulie
auf entsprechend behinderte Schüler habe, wenn keine adäquate Förderung erfolge. Derartige spezifische Einwirkungen hat das
LSG aber nicht festgestellt. Es hat vielmehr ausgeführt, Legastheniker würden im niedersächsischen Schulsystem nicht anders
beschult wie Nicht-Legastheniker. Sie seien daher keinen anderen Einwirkungen im Schulsystem ausgesetzt wie nicht-legasthene
Schüler.
Selbst wenn aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung und entsprechend dem Vortrag des Klägers von vielfältigen Interaktionen
zwischen Lehrern und Schülern sowie der Schüler untereinander im Rahmen eines Schulbesuches ausgegangen wird und dem vom LSG
festgestellten Mangel an spezieller individueller Förderung von Legasthenikern an niedersächsischen Schulen, so ersetzt dies
nicht die Voraussetzung "Einwirkungen". Ein Nichts oder ein bloßer Mangel sind keine Einwirkungen und sei es auch nur in psychischer
Form auf den Körper eines Menschen bzw bei der vorliegenden Prüfung des zweiten Tatbestandsmerkmals auf eine Gruppe.
Der Senat übersieht, insbesondere in Würdigung des Vortrags des Klägers zu seinem persönlichen Schicksal, nicht, dass derartige
Einwirkungen auf Schüler, die an bestimmten Teilleistungsstörungen leiden, möglich sind. Es mangelt jedoch an Feststellungen
des LSG zu derartigen spezifischen Einwirkungen auf die Gruppe der an Legasthenie und Dyskalkulie leidenden Schülern in den
niedersächsischen Schulen. Der Kläger hat insofern keine Aufklärungsrügen erhoben. Er hat zwar auf sein Schicksal hingewiesen,
als er angeführt hat, dass "viele Legastheniker/Dyskalkuliker" aufgrund einer seelischen Behinderung Leistungen nach § 35a SGB VIII vom Jugendamt erhielten. Dies alles ersetzt jedoch nicht entsprechende Feststellungen durch das LSG hinsichtlich der erforderlichen
Einwirkungen bzw beim Fehlen solcher Feststellungen die für ein erfolgreiches Revisionsverfahren notwendigen Rügen seitens
des Klägers (vgl §
163 Abs
2 Satz 3
Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Aus Art
3 Abs
3 Satz 2
GG, der lautet: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.", der vom Kläger angeführten Entscheidung des BVerfG
vom 8. Oktober 1997 (BVerfGE 96, 288 ff) zum Verbot der Benachteiligung Behinderter sowie dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über
die Rechte von Menschen mit Behinderungen (zustimmendes deutsches Gesetz vom 21. Dezember 2008, BGBl II 1419) folgt nichts
anderes. Nach dem Benachteiligungsverbot darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden und eine solche Benachteiligung
liegt nicht nur bei Regelungen und Maßnahmen vor, die die Situation des Behinderten wegen seiner Behinderung verschlechtern,
vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche
Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert
wird, und dies gilt insbesondere im Bereich der Schulen (BVerfGE aaO, RdNr 69 ff).
Vorliegend ist jedoch nicht die Gewährung von speziellen Fördermaßnahmen für eine bestimmte Gruppe behinderter Menschen umstritten.
Auch verneint der Senat nicht, dass es BKen aufgrund von psychischen Einwirkungen geben kann. Entscheidend ist vorliegend
vielmehr auf der tatsächlichen Ebene, dass es keine Feststellungen des LSG bzw Rügen des Klägers zum Unterlassen solcher Feststellungen
durch das LSG hinsichtlich spezifischer Einwirkungen gibt, denen Schüler, die an Legasthenie und Dyskalkulie leiden, in niedersächsischen
Schulen ausgesetzt sind. Als vorliegend zu berücksichtigende und der Entscheidung des Revisionsgerichts zu Grunde zu legende
Einwirkungen kommen daher nur die allgemeinen Einwirkungen des Schulbesuchs auf Schüler in Betracht.
c) Die Zurechnung dieser Einwirkungen, denen alle Schüler ausgesetzt sind, zur versicherten Tätigkeit als Schüler wirft keine
Fragen auf.
d) Als Krankheit, die der BK-Bezeichnung iS des §
9 Abs
1 SGB VII zu Grunde zu legen wäre, kommt ausgehend von der vom Kläger geltend gemachten und vom LSG bei ihm festgestellten Erkrankung
eine sekundäre Neurotisierung oder allgemeiner eine psychische Erkrankung in Betracht, auch wenn es insofern an der vom Senat
gerade für die Ursachenbeurteilung bei psychischen Erkrankungen geforderten Einordnung der Erkrankung in ein international
anerkanntes Diagnosesystem wie das ICD-10 oder DSM IV mangelt (vgl BSG vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, jeweils RdNr 22).
e) Der Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen, denen alle Schüler ausgesetzt sind (siehe oben b), und dieser Erkrankung
kann jedoch nach den Feststellungen des LSG nicht bejaht werden.
Der generelle Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen und der Krankheit bei der Prüfung der Voraussetzungen einer BK-Bezeichnung
unterscheidet sich aufgrund der allgemeinen und abstrakten Prüfungsebene von dem Ursachenzusammenhang bei der Prüfung der
haftungsbegründenden Kausalität beim einzelnen Arbeitsunfall oder der Listen-BK im Einzelfall (vgl dazu BSG vom 9. Mai 2006
- B 2 U 1/05 R - aaO; BSG vom 2. April 2009 - B 2 U 9/08 R - aaO). Dennoch gilt auch insofern die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl zusammenfassend zu dieser: BSG vom 9. Mai
2006 aaO).
Dieser generelle Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen, denen Schüler im Rahmen ihres Besuchs von allgemeinbildenden
Schulen in Niedersachsen ausgesetzt sind, und psychischen Erkrankungen ist nach den Feststellungen des LSG zu verneinen. Denn
es hat ausgeführt, wissenschaftliche Erkenntnisse, nach denen die Ausgestaltung des Schulunterrichts in Niedersachsens allgemeinbildenden
Schulen ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhtes Risiko der Schüler zur Folge habe, psychisch zu erkranken, habe der
Kläger nicht behauptet und seien auch nicht erkennbar.
Der Kläger hat insofern keine Verfahrensrüge erhoben, sondern nur im Rahmen seiner Revisionsbegründung ausgeführt, dass "die
Tatsache, dass Schule krankmachen kann", seit Längerem allgemein bekannt sei. Damit hat er jedoch keine Verfahrensrüge iS
der §
163, §
164 Abs
2, Satz 3
SGG vorgebracht, weil dieses Vorbringen im Ergebnis (nur) eine Rüge der Beweiswürdigung des LSG darstellt. Eine Rüge der nach
§
128 Abs
1 Satz 1
SGG freien Beweiswürdigung des LSG ist zwar im Revisionsverfahren zulässig, das Revisionsgericht kann jedoch nur prüfen, ob das
Tatsachengericht bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat, und ob es das Gesamtergebnis
des Verfahrens ausreichend und umfassend berücksichtigt hat (stRspr vgl nur BSG vom 31. Mai 2005 - B 2 U 12/04 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 2 RdNr 18, Meyer/Ladewig,
SGG, 9. Aufl 2008, §
128 RdNr 10 mwN). Zu diesen Voraussetzungen ist dem Vorbringen des Klägers nichts zu entnehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§
183,
193 SGG.